Mittwoch, 28. Dezember 2016

Die GEW BaWü ist empört

Kultusministerin Eisenmann hat kürzlich beschlossen, die unsägliche Methode des Schreibens nach Anlaut abzuschaffen. Damit hat sie sich viele Feinde gemacht:

  • die Grundschullehrerinnen, die jetzt auf korrekte Orthographie achten müssen anstatt die Kinder schreiben zu lassen, wie sie wollen;
  • die Professoren und Professorinnen an den Pädagogischen Hochschulen, denen man ihr Lieblingsspielzeug weggenommen hat;
  • und die GEW :

         Die GEW kritisiert, dass Eisenmann die zahlreichen Forschungsergebnisse zum
         Schriftsprach­erwerb ignoriert. Die Studien kommen zum Ergebnis, dass am Ende 
         der Klasse 4 keine Unter­schiede zwischen Kindern, die mit dem lautorientierten    
         Schreiben im Anfangsunterricht gelernt haben, und Kindern, die nach anderen            
         Methoden unterrichtet wurden, existieren.

Das kann man glauben, muss es aber nicht. Der Vorwurf

        Es ist unglaublich, dass die Ministerin versucht,   [ . . . ] Vorgaben zu machen,  
       deren Sinnhaftigkeit durch nichts belegt ist,

erstaunt dann etwas, denn dass die Sinnhaftigkeit der von der GEW bevorzugten Methode
durch nichts belegt ist, hat die GEW doch gerade eben noch selbst behauptet.

         "Offenbar kennt die Kultusministerin weder die kritisierte Methode noch den 
          Forschungsstand zum Lesen- und Schreibenlernen",

heult die Gewerkschaft. Das holen wir gerne nach. Die Prophetin des freien Schreibens in BaWü, Frau Prof. Erika Brinkmann von der PH Schwäbisch Gmünd, zitiert in ihrem Manuskript solche Studien:

          Freies Schreiben bietet gerade auf frühen Entwicklungsstufen ein hohes Potenzial    
         für die Förderung der Rechtschreibentwicklung. Bereits früher haben verschiedene   
         Studien aus den USA gezeigt, dass das selbstständige Konstruieren von Wörtern   
         sowohl die phonologische Bewusstheit als auch die Lesefähigkeit stärker fördert 
         als Lese- und Schreiblehrgänge.

Sie lesen richtig: Frau Prof. Brinkmann zitiert Studien zum Erlernen der Orthographie aus den USA. Da geht es, weil die Amis ungern Fremdsprachen lernen, schon gar nicht in der Grundschule, also um das Schreibenlernen auf Englisch. Die Ergebnisse dieser Studien werden nun von Leuten, die ein Professorengehalt beziehen, auf das Erlernen der Orthographie der deutschen Sprache übertragen, und das ganze dann "Forschung" genannt, ohne deren genaue Kenntnis man diese Damen und Herren nicht kritisieren darf.

Die GEW nölt weiter:

           Nach derselben Logik müsste sie einem Kind, welches das Laufen erlernt, 
           das Krabbeln verbieten, 
      
Offenbar hat die Verantwortliche für den Beitrag, Frau Ute Kratzmeier, in den letzten Jahren kein Kind in der Grundschule gehabt. Mir wurde jedenfalls am ersten Elternabend erklärt, ich dürfe etwaige Rechtschreibfehler meiner Tochter nicht korrigieren, und während der Schulzeit wurde sie von ihren Lehrerinnen (kein Gender-I) derart indoktriniert, dass sie Korrekturen meinerseits damit kommentierte, ihre Lehrerin hätte mir verboten, sie zu verbessern. Es ist also nicht so, dass die Grundschule hier versucht, den Kindern das Laufen beizubringen und Frau Eisenmann das Krabbeln verbietet, vielmehr versucht die Grundschule mit aller Macht, den Kindern das Laufen lernen zu verbieten.

Ohne Kommentar kopiere ich hier den zweiten Satz der Zusammenfassung des GEW-Artikels:

       Nach Ansicht der GEW diskreditiert diese Aussage, die Arbeit an den Grundschulen.

Das glaube, ich auch.


Im übrigen bin ich der Meinung, dass die ErziehungswissenschaftlerInnen umgeschult und die PHs geschlossen werden müssen.

Mittwoch, 14. Dezember 2016

Der schiefe PISA vom Turm

Erstaunlicherweise bekommt die PISA-Studie in den Zeitungen immer noch eine gute Presse, obwohl es sich herumgesprochen haben sollte, dass man mit multiple-choice-Fragen vieles messen kann, aber nicht naturwissenschaftliches Verständnis, insbesondere dann nicht, wenn die Fragen so aussehen wie im diesjährigen PISA-Test. Die erste der freigegebenen Aufgaben (die meisten werden besser gehütet als die Emailserver der amerikanischen Regierung) lautete dieses Mal wie folgt:

      1. Die meisten Zugvögel versammeln sich in einem Gebiet und ziehen nicht einzeln, 
         sondern in großen Gruppen. Dieses Verhalten ist eine Folge der Evolution. 
         Welche der folgenden Aussagen ist die beste naturwissenschaftliche Erklärung für 
         die Evolution dieses Verhaltens bei den meisten Zugvögeln?

        a) Vögel, die einzeln oder in kleinen Gruppen zogen, haben mit geringerer 
            Wahrscheinlichkeit überlebt und Nachkommen bekommen.
        b) Vögel, die einzeln oder in kleinen Gruppen zogen, haben mit höherer 
            Wahrscheinlichkeit passendes Futter gefunden.
         c) Das Fliegen in großen Gruppen ermöglichte es anderen Vogelarten, sich 
             dem Zug anzuschließen.
        d) Durch das Fliegen in großen Gruppen hatte jeder einzelne Vogel bessere 
            Chancen, einen Nistplatz zu finden.

        Antwort a) scheidet hier sofort aus, weil sie keine Erklärung liefert, sondern nur eine Tautologie: So ziemlich jedes Verhalten einer Tierart hat irgendwann einen evolutionären Vorteil gebracht, sonst würden sich die Tiere heute nicht so verhalten. Der Grund für den Vogelzug liegt, so glaubt man zu wissen, im besseren Nahrungsangebot im Süden während des Winters auf der Nordhalbkugel; das würde b) nahelegen, was aber inhaltlich nicht sein kann, weil man ja große Gruppen erklären soll und nicht kleine. Antwort c) ist Unsinn, weil es nicht den Vorteil für die eigene Art erklärt. Bleibt also d), auch wenn große Gruppen es eher schwer machen, dass alle einen Nistplatz finden - die Reise nach Jerusalem lässt grüßen. Aber 1000 Augen sehen mehr als zwei, warum sollte das also nicht stimmen?

Richtig ist aber natürlich Antwort a), also diejenige, die überhaupt nichts erklärt, weder naturwissenschaftlich, noch sonst irgendwie, Erschwerend hinzu kommt, dass, wenn a) tatsächlich zuträfe, man überhaupt keine Vogelarten erwarten würde, die einzeln nach Süden ziehen. Die gibt es aber, und nicht zu knapp:

       Zugvögel, die schon früh in der Saison wegziehen, fliegen nach Afrika und sind meist
       nachts und einzeln unterwegs. Vogelarten, die erst spät in der Saison in den Süden 
       aufbrechen, reisen nach Südfrankreich, Spanien, Algerien und Marokko. Sie ziehen 
      vielfach tagsüber und in Schwärmen.

Anscheinend sind diese Vögel, wenn PISA recht hat, zu dumm für die Evolution.

Die zweite Frage ist nicht arg viel besser:

     Der Vogelzug ist eine jahreszeitenbedingte große Wanderung der Vögel zu und 
     von ihren Brutstätten. Jedes Jahr zählen Freiwillige die Zugvögel an bestimmten 
     Orten. Wissenschaftler fangen einige der Vögel ein und kennzeichnen ihre Beine 
     mit einer Kombination aus farbigen Ringen und Fähnchen. Die Wissenschaftler 
     nutzen die Sichtungen gekennzeichneter Vögel zusammen mit den Zählungen der 
    Freiwilligen, um die Zugrouten von Vögeln zu bestimmen.

     Nenne einen Faktor, der die Zählung der Zugvögel durch die Freiwilligen 
     ungenau machen könnte, und erkläre, wie dieser Faktor die Zählung beeinflusst.

Die richtigen Antworten sind zu schön, um sie zu übergehen:

      Möglicherweise übersehen die Beobachter bei der Zählung einige Vögel, 
          weil sie hoch fliegen.
      Wenn Vögel mehrmals gezählt werden, werden u.U. zu hohe Zahlen ermittelt.
      Für in einer großen Gruppe fliegende Vögel können die Freiwilligen die Zahl 
          lediglich schätzen.
      Die Beobachter könnten sich in Bezug auf die Vogelart irren, so dass für diese 
           eine falsche Zahl ermittelt würde.
      Die Vögel ziehen in der Nacht.  
      Nicht überall, wo Zugvögel fliegen, gibt es Beobachter.
      Die Beobachter können sich verzählen.
      Einige Vögel kann man aufgrund von Wolken oder Regen nicht sehen.

Wer also hinschreibt, dass die Zähler sich verzählen können, hat naturwissenschaftliches Verständnis gezeigt, und zwar auf dem höchsten Niveau (Schwierigkeitsgrad 630, Stufe 5). Sehr gut ist auch die Antwort, dass Vögel nachts ziehen können. Das hängt in erster Linie von der Vogelart ab. Wissenschaftler beringen also Vögel, die nachts ziehen, und wundern sich dann, wenn sie sie tagsüber nicht sehen. Allerdings müssen sie sich nicht grämen, denn  PISA hat einen Trost parat:

        Die Fähigkeit, potenzielle Unzulänglichkeiten von Datensätzen zu identifizieren
        und zu erklären, ist ein zentraler Aspekt der naturwissenschaftlichen Grundbildung 
        und siedelt die Aufgabe im obersten Bereich an. 

Die Wissenschaftler, die Tag mit Nacht verwechselt haben, haben dann immerhin eine potenzielle Unzulänglichkeit von Datensätzen erkannt, und das ist mehr, als man bei den üblichen didaktischen Studien heutzutage erwarten darf.

"Der Zähler ist betrunken und sieht alle Vögel doppelt" dürfte wohl auch richtig gewesen sein und zeugt, wie man lesen kann, von allerhöchstem naturwissenschaftlichen Verständnis.

Die letzte Vogelflugfrage zeigte zwei Landkarten, auf dem die Flugbahnen einer Vogelart (Goldregenpfeifer, aber das tut nichts zur Sache) im Herbst und die im Frühling eingezeichnet waren. Dabei waren die Flugbahnen im Herbst und im Frühjahr verschieden, und die Frage drehte sich darum, ob die Karten zeigen, dass die Bahnen im Herbst und im Frühjahr verschieden sind. Diese Frage hatte immerhin Niveau 4, war also schon ganz schön schwer. Mit Naturwissenschaft oder naturwissenschaftlichem Verständnis hatte sie aber auch nichts zu tun.

Böll hat in seinem irischen Tagebuch geschrieben, dass die Iren, sobald das Wort "County Mayo" fiel, ein "God helps us" hinzugefügt haben. Vielleicht sollten wir das bei PISA auch einführen: jedesmal, wenn das Wort PISA fällt, murmeln wir ein "Gott steh uns bei".

Wie betrügt man mit Statistik?

Der Spiegel macht's vor: Deutsche und Franzosen verschätzen sich beim Anteil der Muslime im eigenen Land und werden vom Spiegel in der Rangliste auf Platz 1 und 3 gesetzt. Aber man kann doch die Schätzung in Deutschland (21% statt 5%) und den USA (17% statt 1%) nicht auf den gleichen Platz setzen: Deutsche und Franzosen haben sich um einen Faktor 4 verschätzt, die USA um einen Faktor von etwa 17. Noch krasser sieht es bei den Ungarn (Faktor etwa 600) und den Polen aus: Letztere liegen um fast drei Größenordnungen daneben. Ich weiß gar nicht, was mich weniger überrascht: der Spiegel oder die Polen und die Ungarn.




Sonntag, 11. Dezember 2016

Zufallsexperimente

So heißt die Überschrift im neuen Schnittpunkte 7 (differenzierende Ausgabe) von Klett für die Realschulen in BaWü. Dort wird erklärt, was ein Zufallsexperiment ist:

       Vier Merkmale kennzeichnen ein Zufallsexperiment:
        * Es wird ein Zufallsgerät verwendet.
        * Es können verschiedene Ergebnisse eintreffen.
        * Das Ergebnis kann nicht vorhergesagt werden.
        * Das gleiche Experiment kann beliebig oft wiederholt werden.

Wenn ich also einen Gymnasiasten frage, was 3 mal 7 ist, dann ist das ein Zufallsexperiment:
* Das Zufallsgerät ist der Schüler
* Es können  verschiedene Ergebnisse eintreffen.
* Das Ergebnis kann nicht vorhergesagt werden.
* Das gleiche Experiment kann beliebig oft wiederholt werden.

In der Übung auf S. 200 steht dann (neben einem Bild einer Dartscheibe - ohne geht's nicht):

    Handelt es sich um ein Zufallsexperiment?
    c) Der Profi-Dartspieler wirft den ersten Pfeil auf die Dartscheibe.

Machen wir uns also an die Lösung; so schwer kann das nicht sein, wenn ein modernes Schulbuch schon einmal eine Definition preisgibt:
* Das Zufallsgerät ist die Dartscheibe
* Es können verschiedene Ergebnisse eintreffen.
* Das Ergebnis kann nicht vorhergesagt werden.
* Das gleiche Experiment kann beliebig oft wiederholt werden.
Die Sache ist eindeutig: Die Antwort ist ja.

Weil ich geahnt habe, dass das Wort "Profi" nicht einfach zum Spaß dasteht, habe ich auch in der Lösung auf S.241 nachgesehen:

    c) Kein Zufallsexperiment, da das Werfen mit einem Dartpfeil auch von der 
        Geschicklichkeit des Dart-Spielers abhängt.

Potzblitz. Ich fürchte, da haben die Autoren Martina, Ilona, Joachim, Günther, Wolfgang, Claus, Thomas und Hartmut (beratend: Achim) nicht ganz verstanden, was sie geschrieben haben. In vier Tagen beginnt die Darts-WM. Da spielen fast lauter Profis mit. Und das Internet bietet Wetten an. Was einigermaßen erstaunlich wäre, wenn man das Ergebnis vorhersagen kann (nun ja, van Gerwen, aber das ist was anderes).

Das war ein Augenöffner. Ich glaube nicht mehr, dass es gut wäre, wieder Definitionen in die Schulbücher aufzunehmen. Ich glaube nicht mehr, dass es gut wäre, die Geometrie, die Algebra oder die Analysis im Schulunterricht wiederzubeleben. Es wird nicht funktionieren, weil niemand mehr die entsprechenden Schulbücher schreiben kann. Aber es ist in Ordnung, es ist alles in Ordnung. Ich habe den Sieg über mich selbst errungen. Ich liebe den großen Bruder.


Samstag, 10. Dezember 2016

Begründen in der Geometrie - So macht man es heute

Nach der kompletten Entsorgung der elementaren Geometrie nach der Schavanschen Bildungsreform von 2004 kommt sie mit nun 2016 wieder ein ganz klein wenig zurück: Immerhin gibt es jetzt je eine Seite zum Satz des Thales, Umkreis, Inkreis, Mittelsenkrechten und Winkelhalbierenden im Buch der Klasse 7. Das entsprechende Kapitel heißt "Geometrische Sätze - Begründen in der Geometrie" und beginnt mit Bildern und einem Zitat:
        "Quod erat demonstrandum"
        "Was zu beweisen war"
         Griechischer Mathematiker Euklid, um 300 v.Chr.
Ich hoffe, dass wenigstens den Autoren klar war, dass der griechische Mathematiker Euklid sehr wahrscheinlich kein Latein gesprochen hat.

Das Kapitel beginnt mit Scheitel- und Nebenwinkel:

       Zeichnet man zwei Geraden, die sich schneiden, so entstehen vier Winkel α, β, γ, und δ.
       Ist einer dieser Winkel bekannt, z.B. α = 30o  , so kann man die anderen Winkel ohne
       Nachmessen bestimmen:
       1. α und γ liegen einander gegenüber. Sie heißen Scheitelwinkel, Es ist α = γ = 30o.
       2. α und β liegen nebeneinander und ergeben zusammen 180o. Sie heißen Nebenwinkel.
           Es ist β = 180o  - 30o  = 150o.
       Solche Zusammenhänge, die beim Problemlösen eine wichtige Rolle spielen, fasst man 
       in der Mathematik zu einem Lehrsatz (kurz: "Satz") zusammen. 

Mir ist natürlich klar, dass man in einem Schulbuch von heute in Klasse 7 keine euklidische Axiomatik betreiben kann. Es wird also einfache geometrische Erkenntnisse geben, die man als gegeben hinnehmen muss. Im vorliegenden Fall wäre es aber doch besser gewesen zu sagen, dass die Figur zweier sich schneidender Geraden bei einer Drehung um 180 in sich übergeht und dass deswegen α = γ ist. Sonst bleibt einem als Schüler ja nur auswendig zu lernen, was Scheitelwinkel sind, und dass diese gleich sind.

Noch schrecklicher ist der letzte Satz, wonach Zusammenhänge, die beim Problemlösen eine wichtige Rolle spielen, zu Sätzen zusammengefasst werden. Jetzt erklärt man also schon, was ein mathematischer Satz ist, ohne die Wörter Definition und Beweis auch nur einmal erwähnt zu haben. Das Gebäude der Mathematik wird hier der Problemlösekompetenz untergeordnet.

Dass Stufenwinkel gleich sind, erkennt man daran, dass man es an drei Figuren abliest. Das gleiche gilt für den Satz, dass Basiswinkel in gleichschenkligen Dreiecken gleich sind (oder gleich weit, wie das Buch zu sagen pflegt). Diesen Satz (es muss einer sein, weil es um einen Zusammenhang von Streckenlängen und Winkelweiten in gleichschenkligen Dreiecken gibt) leitet man so her:

     Zwei gleich lange Stäbe sind am Ende mit einem Gelenk verbunden und werden auf den
     Tisch gestützt. Ohne nachzumessen kann man daraus schließen, dass die Winkel α und β 
     gleich weit sein müssen.

Auch hier hätte man, wenn man Kongruenzsätze vermeiden möchte, vielleicht wenigstens die Achsensymmetrie gleichschenkliger Dreiecke heranziehen können, um den Satz plausibel zu machen.

Noch besser wird es bei den Mittelsenkrechten.




      Rechts steht ein Sendemast mit dem Mastfuß in der Mitte M der Strecke AB.
      Der Mast steht nur dann orthogonal zum Boden, wenn beide Halteseile gleich 
      lang sind. Diesen Zusammenhang kann man allgemein zum Begründen verwenden

und wenn man es allgeimein zum Begründen beim Problemlösen verwenden kann, muss es ein Satz sein.

Den Inkreis schenken wir uns und wenden uns dem Schwerpunkt eines Dreiecks zu. Dieser gehört nicht zum Bildungsplan, sondern wird als GFS-Thema vorgestellt; unter diesem Titel bietet das Buch "ein zusätzliches interessantes Thema zum selbstständigen Erarbeiten" an. Die erste Seite dieses GFS-Themas hat LS ins Netz gestellt. Los geht es mit zwei Bildern:

     "Der Turner auf dem Felsen ist im Gleichgewicht. Dies ist der Fall, wenn sich das stützende 
       Bein senkrecht unter dem Schwerpunkt des Körpers befindet. Bei einem Körper aus Stein 
       oder Holz ist es möglich, den Schwerpunkt durch Konstruieren zu finden."

Ganz offenbar wissen heutige Siebtklässler, was ein Schwerpunkt ist - vermutlich haben sie das bei Archimedes gelesen, als sie beim Surfen mit ihrem Smartphone im Netz auf dessen Werke gestoßen sind. Auf die Konstruktion des Schwerpunkts eines Steins bin ich gespannt. Es werden zwei Methoden angegeben, den Schwerpunkt eines Dreiecks zu finden:
      1. Bestimmung des Schwerpunktes eines Dreiecks durch praktische Versuche.
      2. Bestimmung des Schwerpunket S eines Dreiecks durch Konstruieren.
Uns interessiert natürlich Letzteres:
       Durch Nachmessen stellt man fest: Der von der Ecke C ausgehende Faden schneidet
       die Dreiecksseite c in der Mitte von c. Die Strecke CMc heißt Seitenhalbierende sc
       Wenn man zwei Seitenhalbierende zeichnet, erhält man als Schnittpunkt den 
       Schwerpunkt S des Dreiecks.
Ich weiß nicht, ob ein Faden eine Dreiecksseite schneiden kann. Der Unterschied zwischen der praktischen Methode und der Konstruktion liegt jedenfalls darin, dass man bei der Konstruktion zusätzlich noch nachmisst. Auf die Konstruktion des Schwerpunkts eines Körpers aus Stein wartet der Schüler vergeblich - in Wirklichkeit ist er natürlich froh, dass sie nicht drin steht, denn sonst müsste er das auch noch erarbeiten.

Es wird also nicht erklärt, was der Schwerpunkt ist, welche physikalischen Eigenschaften er hat, wie man den Schwerpunkt zweier Punktmassen findet, was das mit der Balkenwaage zu tun hat, und es wird vor allem nicht erklärt, was der nicht definierte Schwerpunkt mit dem Schnittpunkt der Seitenhalbierenden zu tun hat (die Erkenntnis, dass diese sich in einem Punkt schneiden, wird nicht als Satz geadelt, vermutlich weil man sie nicht zum Begründen beim Problemlösen gebrauchen kann).

Wie schwer kann es denn sein, den Schülern zu erklären, die Masse eines Dreiecks mit konstanter Höhe und aus einem Material mit konstanter Dichte wäre proportional zu seiner Fläche? Dann muss der Schwerpunkt auf einer Linie liegen, die das Dreieck in zwei gleich große Flächen teilt, und die Formel für den Flächeninhalt eines Dreiecks liefert dann, dass diese Linie die Seitenhalbierende ist.
Ich weiß, das wäre mit Nachdenken verbunden anstatt mit Auswendiglernen nicht verstandener Tatsachen. Aber könnte man so etwas nicht wenigstens einmal im Schuljahr, beispielsweise im Kapitel über Begründen in der Geometrie, vormachen? Anscheinend nicht. Es ist zum Verzweifeln.






Freitag, 9. Dezember 2016

Bogedan schafft Deutschland ab

Nun hat die Kultusministerkonferenz also beschlossen, dass die digitale Revolution mit dem nächsten Schuljahr beginnen soll. Federführend tätig war hier die derzeitige Vorsitzende dieses Vereins, nämlich  Claudia Bogedan (SPD). Manche Länder sind hier anderen voraus:

    "In Bremen wurde gute Vorarbeit geleistet, "

sagt sie, und sie muss es wissen, ist sie ja zufällig Bildungsministerin in diesem Bundesland. Auch die Telekom-Stiftung bescheinigt Bremen gute Arbeit.

   "Bremen habe früh die Bedeutung guten Unterrichts mit digitalen Medien erkannt, sagte 
    Bogedans Sprecherin Annette Kemp am Mittwoch. „Digitale Medien werden in allen 
    Schulformen und -stufen eingesetzt“,"

und zwar, weil dies ja professionell geschieht, mit durchschlagendem Erfolg. Schließlich ist Bremen in den üblichen Ländervergleichen regelmäßig auf einem hervorragenden 16. Platz unter den Bundesländern.

      "So ermögliche etwa eine Mathe-Software, dass Kinder Aufgaben am Computer im eigenen 
       Tempo lösen können."

"Nein!", möchte man da mit Louis de Funes rufen. Früher nannte man das Hausaufgaben, und die hat es, manche wissen es noch, schon gegeben, bevor man in Bremen den Posten einer Bildungssenatorin erfunden und später mit weitblickenden gebildeten Personen besetzt hat. Tatsächlich haben Kinder seit 4000 Jahren Aufgaben in ihrem eigenen Tempo gelöst, und zwar aus dem einfachen Grund, weil das gar nicht anders geht. Was kommt als nächstes? Dass man Smartphones braucht, um im eigenen Tempo spazieren gehen zu können?

    "Hilfreich seien auch erklärende Videos, die je nach Bedarf aufgerufen werden können."

Isnichtwahr! Wenn das so weiter geht, werden Frau Bogedan und ihre Sprecherin in 5 Jahren auch das Prinzip von youtube verstanden haben.

    "Wichtig sei allerdings eine entsprechende Aus- und Fortbildung der Lehrer, sagte Kemp."

Das muss wohl so sein, weil ich in den letzten Tagen keine einzige Publikation gelesen habe, in der nicht steht, dass die Lehrer, wohl weil sie für ihren Job zu doof sind, fortgebildet werden müssen.

    "Kinder und Jugendliche müssten zudem mit dem vernetzten Wissen umgehen können."

Es hat eine Weile gedauert, bis mir zu dämmern begann, dass Frau Kemp mit "vernetztem Wissen" nicht vernetztes Wissen meint, sondern das Wissen im Netz. Das ist aber das kleinste Problem, denn das lässt sich lösen wie alle andern auch: man schreibt einfach "Die Kinder können mit vernetztem Wissen umgehen" in den Bildungsplan.

Auch Nicola Beer von der FDP stößt ins gleiche Horn. Allerdings:

   "Allerdings ist mir schon immer aufgefallen, dass es in Deutschland gesellschaftlich akzeptiert 
     ist, schlecht in Mathematik zu sein. Es ist mir in keinem anderen Land begegnet, dass so 
     viele – auch sehr intelligente Menschen – fast schon kokett erzählen, wie schlecht sie in 
    Mathematik waren."

Ich bin eingeschlafen - hat sie was gesagt? Ich meine etwas, das nicht 1000 andere in den letzten 10 Jahren gefühlte 10mal pro Tag auch schon gesagt haben? Eher nicht.

      "Der Digitalpakt von Bundesbildungsministerin Wanka ist ein Schritt in die richtige
       Richtung, der aber um die Lehrerfortbildung ergänzt werden muss." 

Immer noch nicht, Aber nu:

     "Wir wissen aus Studien, dass heutige Erstklässler nach ihrem Schulabschluss zu 
      60 Prozent in Berufen arbeiten werden, die es noch nicht gibt."

Ich dagegen befürchte, und zwar ganz ohne Studien, dass heutige Erstklässler nach ihrem Schulabschluss zu 60 Prozent in Berufen arbeiten werden, die es auch in 10 Jahren nicht gibt. 




Montag, 5. Dezember 2016

Realitätsnahe Mathematik von Schmidtchen Schleicher

"Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce."

So steht es bei Karl Marx geschrieben, und so scheint es manchmal zu sein. Auch der derzeitige Anwendungswahn im Mathematikunterricht ist eine Farce, denn dieselbe Diskussion hab es bereits vor 2000 Jahren. Damals hatte sich das römische Reich die antiken Hochkulturen von Babylon, Ägypten und Griechenland einverleibt und deren kulturelle Errungenschaften übernommen, was Kenntnisse in Architektur, Feldmesskunst, Rhetorik und Technik angeht - man suche etwa nach dem Mechanismus von Antikythera, um sich ein Bild von den technischen Fähigkeiten der Griechen zu machen, bevor ihr Reich an die Römer fiel. Zum Bauen von Straßen, Aquädukten, Tempeln und zum Verteilen von erobertem Land an verdiente Soldaten, so beschlossen die Römer, brauchte man keinen Euklid. Alles, was jenseits der unmittelbaren Anwendbarkeit lag, wurde nicht unterrichtet und nicht gelehrt.

Den Griechen lagen Anwendungen ebenfalls am Herzen: Archimedes und Heron von Alexandria waren begnadete Ingenieure, die ihre Kenntnisse in reiner Mathematik geistreich anzuwenden wussten. Aber Archimedes und Heron galten nicht zufällig als die besten Mathematiker ihrer Zeit: ihre Erfindungen bauten auf den theoretischen Grundlagen auf, die sie gelernt hatten. Wenn man die Namen Thales, Pythagoras, Euklid und Archimedes hört, werden nur noch wenige vor Ehrfurcht erstarren (das war nicht immer so); aber diese Namen gehören zum Allgemeinwissen über antike Mathematik. Wer sich besser auskennt, weiß auch mit Theaitet (irrationale Größen),  Eudoxos (Flächenberechnung), Sokrates, Platon, Aristoteles, Demokrit (Philosophie), Aristarch (Abstand Erde Mond), Eratostehenes (Erdumfang), Ptolemaios und Hipparch (Astronomie),  Diophant (Algebra), Apollonius (Kegelschnitte), Pappos (Geometrie) und vielen anderen mehr etwas anzufangen.

Und bei den Römern? KmV (kann man vergessen). Qunitilian machte etwas Werbung für Geometrie, Vitruv benutzte etwas Mathematik auf dem Niveau Platons für seine Architektur, und Boethius schrieb eine lateinische Version der elementarsten Sätze aus Euklid - ohne Beweise, versteht sich. Nach dem Untergang des römischen Reiches waren die geistigen Errungenschaften von Babyloniern, Ägyptern und Griechen für Europa verloren, bis sie in der Renaissance ein Jahrtausend später wieder entdeckt wurden. So viel zur Tragödie. Nun zur Farce.

Auch heute gibt es die römische Arroganz gegenüber der nutzlosen Mathematik der Griechlein; sie wird etwas verschämt als "innermathematisch" gebrandmarkt, weil sich die Didaktiker von heute das Wort überflüssig noch nicht zu gebrauchen trauen. In einem beispiellosen Akt von Kulturlosigkeit wurden Vorgaben der OECD, etwa seitens des Herrn Schleicher, unkritisch umgesetzt und eine erfolgreiches Bildungssystem in nicht einmal 20 Jahren komplett ruiniert. Mit einem standardisierten Test, den sich der studierte Physiker Schleicher aus den Fingern gesogen hat, wurden die Bildungssysteme in aller Herren Länder vermessen, und seither gibt er Ratschläge zur Verbesserung der Bildungslandschaft in Schweden, Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, USA, Mexiko - wissen Sie was? Versuchen Sie doch einfach ein Land zu finden, das Herr Schleicher noch nicht beratschlagt hat.

Jetzt haben wir also einen Unterricht, der unseren Kinder das Lösen von PISA-Aufgaben antrainiert, als wäre das der Maßstab für ein erfolgreiches Bildungssystem. Man musste ja Andreas Schleicher heißen oder ein Vollidiot sein (am besten beides), um das finnische Modell als Vorbild für das deutsche herzunehmen. Was haben denn, um einmal mehr Monty Python zu paraphrasieren, die Finnen je erreicht? Von den finnischen Mathematikern kennen Studenten der Mathematik kaum eine Handvoll, und die sind längst gestorben. Was haben finnische Ingenieure und Maschinenbauer (in den Zeiten vor dem Berliner Flughafen, der Elbphilharmonie, Stuttgart 21 und der VW-Dieselsoftware) geleistet? Schriftsteller? Irgendwas? Gut, Musiker: Leningrad Cowboys und Loituma sollte man schon mal gehört haben. Aber gute Musik zu machen lernt man nicht auf der Schule. Wie bescheuert muss man also sein, wenn man ein erfolgreiches System an die Wand fährt, nur weil Schmidtchen  Schleicher sagt, das finnische sei besser?

Natürlich hat Schleicher das nicht alleine durchgesetzt - zu einem Idioten, der vorneweg rennt, gehören noch 1000 andere, die ihm nachlaufen. Die Entwicklung der Didaktik, und vor allem der
Mathematikdidaktik, während der letzten 20 Jahre, von einer Wissenschaft, die zumindest im Prinzip einen besseren Unterricht zum Ziel hatte, in eine Pseudowissenschaft, gegenüber der Bleigießen und Handlinienlesen harte Wissenschaften sind, betrieben von einem Konglomerat von Akademikern, die Studien machen, auswerten und daraus die falschen Schlüsse ziehen, bei denen man für eine Dissertation 2 Wochen braucht und die wissen, wie guter Unterricht funktioniert, ohne dass sie selbst jemals unterrichtet hätten oder, wie etwa Andreas Schleicher, das staatliche Schulwesen noch nicht einmal als Schüler durchlaufen haben: Ja ich weiß, dass dieser Satz kein Ende hat. So wie PISA auch.

Lesen, Rechnen, Schreiben, BKA

Das BKA hat, wie man jetzt hört, Schwierigkeiten beim Auffinden von Bewerbern, die der Rechtschreibung noch halbwegs mächtig sind. Ganz neu ist das nicht: Letztes Jahr beklagte sich schon die Bochumer Feuerwehr, dass zu viele ihrer Bewerber nicht richtig schreiben können. Und auch die Berliner Polizei hat Schwierigkeiten mit der Besetzung ihrer freien Stellen, weil von den 2791, die den Einstellungstest nicht bestanden haben, 2139 beim Rechtschreibtest versagt haben. In Schleswig-Holstein dagegen hat man die Zeichen der Zeit erkannt und die Toleranzschwelle im Diktat gesenkt; insbesondere fehlerhafte Interpunktion wird gar nicht mehr gewertet.

Wo das enden wird? Sicherlich nicht in einer Reform der Grundschule, denn die macht ja alles richtig, wenn man mal davon absieht, dass der Unterricht in Lesen, Rechnen und Schreiben nicht mehr zu den Kernkompetenzen dieser Schulart gehört. Nein, enden wird das hier: unter dem Titel "ausbildung bei der polizei troz vorstrafen?" stellt attila6 folgende Frage:

      also ich würde echt gerne zur polizei gehen (dort arbeiten) aber ich habe vorstrafen 
      1. wo ich 6jahre war habe ich ein stein in die luft geworfen und habe damit eine 
          autoscheibe kapput gemacht (sachbeschädigung) 
      2. vor 4-5 jahren wurde ein handy geklaut in einer turnhalle aber ich war es nicht und das ist
          dann auch rausgekommen das ich es nicht war 
      3. diebstall beim schlecker im wert von 4€ xD 
      4. vor 1jahr gg das btg verstoßen verfahren leuft :( 
     wie sieht es aus könnte ich noch polizist werden? wenn ned zur feuerwer? danke im voraus 
     und keine dumme ant. - wie hätest dir früher überlegen sollen

Ich versuche seither krampfhaft, nicht an die Möglichkeit zu denken, dass attila6 Abitur haben könnte.

Sonntag, 4. Dezember 2016

. . . und meine Frau ist auch Brian!


Ich möchte an dieser Stelle einige Bemerkungen zum Buch

   Büchter, H.-W. Henn, Elementare Analysis. Von der Anschauung zur Theorie, Spektrum 2010

machen, nicht weil es ein besonders wichtiges oder besonders schreckliches Buch wäre, sondern weil es aussieht wie Dutzende andere zeitgenössische Traktate, in denen der immergleiche Schmuh von praktisch der gesamten heutigen Generation der Didaktiker breitgetreten wird.

Alles ist Modell

Man wird bei der Energie, mit dem dieser Personenkreis alles in ein Schema presst (Modellierung ist nicht das einzige Modewort in diesem Zusammenhang; auch Grunderfahrungen, Leitideen und Kompetenzen sind Begriffe, denen man alles - und ich meine wirklich alles - unterordnen kann), unweigerlich an Monty Python erinnert (noch ältere Leser werden sich an das panta rhei von Heraklit erinnern). So heißt es auf S. 7:

          Dabei sind Funktionen selbst universelle mathematische Modelle . . .

Heutzutage ist, wie gesagt, alles ein mathematisches Modell, ebenso wie vor 40 Jahren alles eine Menge war. Timo Leuders, einer der vielen Päpste der modernen Didaktik, schreibt etwa in
Gruppen als Modelle - Horizontale und vertikale  Mathematisierungsprozesse  (Springer 2015)
auf S. 218

       In diesem Sinne lassen sich die natürlichen (und später die ganzen und rationalen Zahlen) 
       und ihre rechnerischen Verknüpfungen als Modelle für Situationen und Handlungen der 
      Realität auffassen.

Zahlen sind also auch Modelle. Und Gruppen natürlich auch:

         Aus einer Modellierungsperspektive betrachtet sind Gruppen aber auch Modelle, die 
        eine Vielzahl von (Real-) Situationen beschreiben.

Mengen dagegen scheinen keine Modelle zu sein. Das mag daran liegen, dass Mengen heute im Schulunterricht gar nicht mehr auftauchen, was wiederum seinen Grund darin hat, dass die prä-modellierende Generation der Didaktiker es mit den Mengen ein ganz klein wenig übertrieben hat. Aber mit Zahlen, Funktionen und Gruppen deckt man ja schon einen beträchtlichen Teil der Mathematik ab, und sicherlich sind Differentialgleichungen und Hypothesentests ebenso wie alle andern mathematischen Begriffe, welche den Didaktikern geläufig sind, ebenfalls  Modelle. Oder, wie man bei Leuders lesen kann:

        In der Grundschuldidaktik werden oft die konkreten Objekte, welche mathematische 
       Operationen veranschaulichen sollen, als Modelle bezeichnet: Das Vierhunderterfeld 
       wird beispielsweise als ein Modell  für die Multiplikation von Zahlen im Zwanzigerraum 
       aufgefasst.

Die Suche nach einem Modell für die Multiplikation von Zahlen im Zehnerraum überlassen wir dem Leser als Übungsaufgabe.

Grundvorstellungen

Mit Grundvorstellungen sind die Grundvorstellungen gemeint, welche die Schüler, von denen heutige Didaktiker keine mehr kennen, von Grundbegriffen der Analysis haben sollten oder eben nicht haben. Zuerst  wird aber auf S 7-8 ein Missverständnis ausgeräumt:

         Dies ist uns wichtig, weil die ``Funktionsuntersuchung'' mit Mitteln der  Analysis in der 
        Schule häufig unreflektiert auch als ``Kurvendiskussion'' bezeichnet wird.

Was heißt hier unreflektiert? Es hat Zeiten gegeben, da waren Kreis und Ellipse durchaus noch mathematische Objekte (also Modelle), die man auf der Schule durchgenommen hat. Aber daran mögen sich die wenigsten noch erinnern, denn dass man Inhalte abgeschafft hat, ist je nach dem Standpunkt, den ein Didaktiker gerade einnimmt, entweder eine falsche Behauptung oder gewollt gewesen.

Auf S. 12 kommt nach etwas Eigenwerbung für den Mathekoffer das ``Schnurproblem'', bei dem Höhen gewisser Dreiecke gemessen werden. Drei Seiten später folgt die Erklärung in einer zweizeiligen Rechnung mit Pythagoras. Natürlich kann man, wenn man Zeit hat, eine Doppelstunde 
lang darauf verwenden, die Höhen gleichschenkliger Dreiecke zu messen. Aber das gesamte Buch krankt daran, dass die Autoren nicht zu Potte kommen und bei jeder Gelegenheit meinen, sie müssten jeden einzelnen Begriff der Mathematik erst ein Dutzendmal in der Realität wiederfinden, bevor sie ihn mathematisch zu definieren versuchen. Langeweile pur. 

So heißt es auf S. 29

       In den Wirtschaftswissenschaften werden häufig . . . ``Konfektionierungsprozesse'' 
      [betrachtet], bei denen n Produkte in m unterschiedlichen Zusammenstellungen verpackt 
      werden. Im Folgenden  wird das stark vereinfachte Beispiel der Verpackung von einer 
     Sorte  Lakritz und einer Sorte Weingummi in vier unterschiedliche Packungsarten betrachtet:
  • ``Lakritztüten'' mit jeweils 100 Lakritzen,
  • ``Weingummitüten'' mit jeweils 80 Weingummis,
  • ``Mixtüten-Lakritz'' mit 75 Lakritzen und 20 Weingummis und
  • ``Mixtüten-Weingummi'' mit 60 Weingummis und 25 Lakritzen.
Das stellt die Süßwarenhersteller, man ahnt es bereits, vor mathematische Probleme. Aber zum Glück hat die Mathematik  ein Handwerkszeug (also ein Modell) bereitgestellt, nämlich die sogenannten ``Übergangsmatrizen'':

     Mithilfe der Matrizenrechnung lässt sich dies wie folgt durch  eine Funktion A : ℝ4 → ℝ2
     beschreiben:

     
Das wird Haribo freuen, kann der Betrieb nun, da das Problem mathematisch sauber modelliert ist, seine ursprüngliche Aufgabe mit Hilfe der Mathematik lösen. Allerdings ist der Ausflug ins Reich der Süßigkeiten genau an dieser Stelle vorbei, gerade so, als hätte es gar kein Problem gegeben, das es zu lösen galt. Aber es ist gut, mal darüber geredet zu haben . . .

Auf  S. 31 kommen die neuerdings vielbeschworenen  Grundvorstellungen ins Spiel, und zwar die Grundvorstellungen  von Variablen. Sicherlich keine schlechte Sache, wenn man Analysis machen möchte:

      Stellen Sie sich vor, Sie beobachten, wie der 9-jährige Malte seinem Vater empört berichtet, 
      die Evelyn aus seiner Klasse bekomme dreimal so viel Taschengeld wie er. Wenn Sie sich 
      ausschließlich auf diese Beobachtung verlassen müssen, wissen  Sie nicht, wie viel 
     Taschengeld Malte bekommt oder wie viel  Taschengeld Evelyn bekommt. Dennoch wissen 
    Sie mehr als nichts, da  Sie eine Aussage über die Beziehung zwischen den beiden Beträgen 
     machen können. Sie könnten z. B. notieren 
                          Evelyn = 3 x Malte,
      wobei der jeweilige Name als Variable für die Taschengeldhöhe des zugehörigen Kindes 
     steht. Wenn Sie von einem der beiden Kinder   die Taschengeldhöhe kennen, können Sie 
     direkt auch  die andere ermitteln - vorausgesetzt Malte hat kein zu instrumentelles 
     Verhältnis zur Wahrheit . . . .

Auch nach dem dritten Lesen bleibt die Geschichte vollkommen sinnfrei.  Weder weiß man, was eigentlich los ist, noch, wozu diese Exkursion dienen soll.

Später, auf S. 33, kommt dann heraus, dass das Beispiel erklären sollte, dass manche Variablen (wie hier Malte) keine Variablen sind, sondern nur für eine bestimmte Zahl stehen:

      Der Einzelzahlaspekt tritt bei allen obigen Beispielen zur Gegenstandsvorstellung in  
     Erscheinung, eine Variable steht hier für jeweils eine feste Zahl. Bei unserem 
     Einstiegsbeispiel ``Taschengeld'' steht der Name des Kindes für den jeweiligen 
     (feststehenden) Betrag.

Aus diesem Grunde hat man Variablen wohl Variablen genannt. Vermutlich handelt es sich dabei um Modellvariablen, bei denen man das Präfix ``Modell'' weggelassen hat, weil Variablen ja ohnehin Modelle sind.

Dieses Bemühen, sich der Realität anzubiedern, ist so widerlich,  dass die Lustlosigkeit, mit welcher innermathematische Dinge wie die  Quadratverdopplung auf S. 33 behandelt werden, Bände spricht. Dabei ist diese einfache mathematische Tatsache der Anfang für die Entdeckung der Irrationalen, der Anstoß für das Delische Problem - aber was sage ich da: das sind ja - bäh - innermathematische Probleme. Das klingt bei Didaktikers schon so, als müsste man die mit der Beißzange anfassen.

``Charity begins at home'', sagen die Engländer, und die Analysis auch. Auf S. 37 heißt es

      Birte soll ihrem Vater in den Schulferien 9 Tage helfen, den Garten neu zu gestalten. Als 
      Entschädigung für entgangene Ferienfreuden bietet er ihr ein zusätzliches Taschengeld an. 
      Dabei darf sie zwischen den folgenden ``Entgeltvarianten'' wählen:
  • Sie erhält einmalig 333 Euro.
  • Sie erhält jeden Tag 35 Euro.
  • Sie erhält am ersten Tag 5 Euro, am zweiten Tag 10 Euro, am dritten Tag 15 Euro usw.
  • Sie erhält am ersten Tag 1 Cent, am zweiten Tag 2 Cent, am dritten Tag 4 Cent usw.
 Solche Aufgaben erlauben es den Autoren darüberhinaus unter Beweis zu stellen, dass sie mit GTR, CAS und Tabellenkalkulationsprogrammen umgehen können. Andere wiederum könnten mit diesen aus der Lebenswelt der Schüler entnommenen  Aufgabe ganze Felder düngen . . .

Auf Seite 43 werden lineare Funktionen y = kx proportionale Funktionen genannt. Proportional wozu, fragt sich da der Lateiner, denn eine Proportion ist ein Verhältnis, und dazu gehören zwei. Wo es proportionale Funktionen gibt, existieren natürlich auch antiproportionale: 

        Eine Funktion f : ℝ \{0} → ℝ, die sich mithilfe einer geeigneten reellen Konstante k schreiben
        lässt als f(x) = k/x, heißt antiproportionale Funktion.

Selbstverständlich gibt es, bevor man die künftigen Lehrer mit so einer Definition erschlägt, erst ein Beispiel aus der Realität, in diesem Fall den antiproportionalen Zusammenhang zwischen 
``Durchschnittsgeschwindigkeit und Fahrtdauer''. Weil Durchschnittsgeschwindigkeit und Fahrtdauer aber positiv sind, wird dieser Sachverhalt nicht von einer antiproportionalen Funktion  beschrieben, denn solche haben Definitionsbereich ℝ \{0} → ℝ. In der richtigen Mathematik behilft man sich an dieser Stelle mit einer flexiblen Definition, wählt also als Definitionsbereich einer Funktion je nach Bedarf ein Intervall oder eine offene Teilmenge der reellen Zahlen. Schade nur, dass Mengen keine Modelle sind, denn dann könnten die Autoren dies ebenfalls tun.

Auch lineare Funktionen sind bedeutsam, wie der Leser auf S. 45 lernt:

       Innermathematisch ist die ``Mathematik der linearen Funktionen'' von Bedeutung, da jede 
       beliebige Gerade in der Ebene nach Wahl eines geeigneten Koordinatensystems durch 
      Gleichungen der Form y = a x + b beschrieben kann.

 Innermathematisch. Man kann lineare Funktionen also auch in der Mathematik benutzen und nicht nur zum Veranschaullichen des Handytarifs. Echt? Krass! Und, das sei nebenbei auch bemerkt,  nach Wahl eines geeigneten Koordinatensystems kann die Gerade sogar in der Form y = 0 geschrieben werden. Unverständlich bleibt auch die Aufgabe auf S. 48, den Schnittpunkt der beiden Funktionsgraphen von f(x) = x2 und g(x) = √x ``möglichst exakt'' zu bestimmen. Ist damit gemeint, dass man x1 = 0 und x2 = 1 auf 10 Nachkommastellen genau angibt, oder meinten die Autoren, man solle die Schnittpunkte (bei mir kommen zwei raus) ``wenn möglich'' exakt angeben, weil die algebraischen Fertigkeiten der Schüler heutzutage für die dazu notwendigen Rechnungen nicht mehr ausreichen, da Algebra heute praktisch nicht mehr unterrichtet wird?

Ab S. 51 wird zwei Seiten lang Urgroßvaters Geld mit 6 % Jahreszinsen verzinst und nachgesehen, was heute davon da ist:

       Damit uns in diesem langen Zeitraum nicht Währungsreformen Scherereien bereiten, soll er 
      die Geldanlage in den USA getätigt haben 

Da gab es natürlich auch keinerlei Probleme mit Weltwirtschaftskrise und den beiden Weltkriegen, und auch Inflation ist in den USA ein unbekanntes Phänomen:

        und ca.  $ 200000 sind doch auch nicht zu verachten.

Eben.

Die Analysis taucht dann langsam auf S. 80 auf, und zwar als Problem:

       Dies ist einer der größten Problembereiche des Mathematikunterrichts in der 
       Sekundarstufe II. Häufig wird der  Kalkül als Selbstzweck entwickelt, trainiert und an 
       komplizierten Funktionen rein innermathematisch angewendet (``Kurvendiskussion'') 
      - damit werden die historische Entwicklung der Analysis und auch ihre Bedeutung in 
      den Anwendungsdisziplinen konterkariert.

Ich weiß nicht so recht, welche Anwendungen Archimedes durch den Kopf geschwirrt sind, als er die Fläche eines Parabelsegments bestimmt hat. Vermutlich wollte er den Temperaturverlauf in einer Mikrowelle aus deren Änderungsrate rekonstruieren.

Das letzte Mal, als die Analysis in der Schule innermathematisch angewendet wurde, muss in den 1990ern gewesen sein. Seither wird die historische Entwicklung der Analysis und auch  ihre Bedeutung in den  Anwendungsdisziplinen konterkariert durch die hanebüchenen Einkleidungen der sogenannten realitätsnahen Anwendungsaufgaben, die sich die Didaktiker haben einfallen lassen, weil sie von wirklichen Anwendungen allem Anschein nach wenig verstehen. In der Tat wird heutzutage der Anwendungsbezug als Selbstzweck entwickelt und an einfachsten Funktionen (Grad 3 ist in Ordnung, alles andere zu schwer) rein außermathematisch (eigentlich außerweltlich - in diesem Leben tauchen derartige Anwendungen nicht auf) bis zum Erbrechen trainiert - was damit konterkariert wird, ist schwer zu sagen; eine Bedeutung für Mathematik oder Anwendungsdisziplinen haben diese Aufgaben ohnehin nicht.

Nachdem auf S. 80 also die Analysis erstmals in Erscheinung getreten ist, wird auf Seite 105 erklärt, wozu das Buch (also vermutlich der Rest davon) gut sein soll:

      Das Ziel dieses Buchs ist die Entwicklung einer nützlichen [ . . . ] Theorie der Differenzial- 
      und Integralrechnung.

Anscheinend gibt es auch eine nicht nützliche Differential- und Integralrechnung; das muss die sein, in der keine Lakritze und Weingummis auftauchen.

Geschichte der Mathematik

Es gibt, in der Geschichte der Mathematik wie anderswo auch, reichlich Gelegenheit, Fehler zu machen. Tatsächlich lassen die Autoren fast kein Fettnäpfchen aus, vor allem, weil sie die Rolle der Geschichte der  Mathematik für den Schulunterricht missverstehen. Man kann einerseits mit Hilfe der heutigen Mathematik die antike verstehen wollen, und andererseits aufzeigen, dass die antike Mathematik teilweise einen ganz anderen Blickwinkel hatte als die heutige. Überflüssig wird der historische Bezug allerdings, wenn man die Geschichte nicht ernst nimmt und die antike Mathematik, aus was für Gründen auch immer, falsch darstellt. Das ist in etwa so, als ließe man Goethe über den Bahnhof in Frankfurt schreiben.

Auf S. 105 heißt es 

       Obwohl schon die Pythagoräer im 5. vorchristlichen Jahrhundert die Existenz nicht-rationaler            Punkte auf dem Zahlenstrahl entdeckt und damit die ``erste Grundlagenkrise''  der 
       Mathematik ausgelöst hatten,  . . . 

Nun - einen Zahlenstrahl gab es damals natürlich noch nicht, und es gab auch keine irrationalen Zahlen: Die Griechen sprachen von inkommensurablen Größen. Die berühmte ``erste Grundlagenkrise'' der Mathematik ist ebenfalls ein Märchen und mag einen wahren Kern  haben; aber Hinweise auf eine solche Krise gibt es nicht. Wikipedia  (dort haben die Autoren offenbar nicht nachgesehen) ist da deutlicher: ``In Zusammenhang mit der Legende vom Geheimnisverrat wurde in älterer Forschungsliteratur die Hypothese vertreten, die Entdeckung der Inkommensurabilität habe die Pythagoreer schockiert und habe eine  Grundlagenkrise der Mathematik bzw. der Philosophie der Mathematik  ausgelöst. Die Annahme einer Grundlagenkrise wird jedoch ebenso wie  der angebliche Geheimnisverrat von der neueren Forschung  abgelehnt. Die Entdeckung der Inkommensurabilität wurde als  Errungenschaft und nicht als Problem oder Krise betrachtet.''

      Aus der philosophischen Lehre des Pythagoras ergab sich zwingend, dass zwei beliebige
     Strecken a und b immer kommensurabel sein müssen, . . . 

Das ist mir neu. In den philosophischen Lehren des Pythagoras, soweit man sie zu kennen glaubt, taucht die Kommensurabilität nicht auf. Vermutlich spielen die Autoren auf den Leitspruch ``Alles ist Zahl'' an, aber die Frage bleibt, was dieser bedeutet hat und was daraus folgt.

     Alle Beweise, die auf der Grundlage kommensurabler Strecken geführt worden waren, brachen 
    auf einmal zusammen (vgl. Meyer (2005))

Tatsache ist, dass man sich fürchterlich anstrengen muss, um Beweise zu finden, die auf der Grundlage kommensurabler Strecken geführt werden können. Das klassische Problem der Verwandlung eines Rechtecks in ein flächengleiches Quadrat etwa kann man gar nicht auf der Grundlage kommensurabler Strecken führen, weil ein Rechteck mit den Seiten 1 und 2 zum Quadrat mit der Kantenlänge √2  flächengleich ist.

Und natürlich kann man Meyer (2005) ebenso zitieren wie Müller (2008)  oder Hinz und Kunz (2004); aber in Sachen griechische Mathematik wären Zitate zumindest der Sekundärliteratur vielleicht die bessere Wahl; es gibt immer noch einige Bücher über die Geschichte der Mathematik auf Deutsch, die man zitieren könnte,  jedenfalls wenn sich die Medienkompetenz der Autoren auch auf das Medium Buch erstrecken würde. Auch die  Bemerkung auf S. 110 lässt einen die Augen reiben:

    Unklar ist, ob Euklid tatsächlich eine historische Person ist und die ``Elemente'' (vollständig) selbst verfasst hat. Es gibt Vermutungen, dass er der Kopf einer Gruppe von Mathematikern war, die gemeinsam und auch über seinen Tod hinaus die ``Elemente'' geschrieben haben, oder dass er  möglicherweise nie gelebt hat und ``Euklid'' nur das Pseudonym einer Mathematikergruppe war.

Was wir über die Mathematik im antiken Griechenland wissen, ist in der Tat dürftig. Dass Euklid die Elemente vollständig selbst  verfasst haben soll, wird m.W. von niemandem behauptet. Dass es Vermutungen gäbe, wonach Euklid so etwas wie Bourbaki gewesen sein soll, scheint dem Zeitgeist geschuldet: Itard hatte 30 Jahre nach Bourbakis Gründung erstmals geschrieben, dass mit dieser Annahme manche, aber nicht alle Datierungsprobleme verschwinden würden. Ich würde das keine Vermutung nennen, schon gar nicht im Plural, und selbst wenn es eine wäre, hat sie nach Itard wohl kein ernstzunehmener Historiker übernommen. Bevor man also derartig wüste Spekulationen im Zusammenhang mit Euklid äußert, sollte man den Lesern erst einmal das, was man zu wissen glaubt, mitteilen. Aber  Medienkompetenz am Beispiel des Mediums Buch ist, wie gesagt, nicht die Stärke der Autoren.

Daher erstaunt es nicht, dass es geradeso weitergeht:

       In seiner Größenlehre subsumierte Eudoxos u. a. die Konzepte Länge und Zeit, die jeweils 
      ein Kontinuum darstellten und nach  Hippasos' Entdeckung auch nichtrationale Maßzahlen 
      umfassten.

In den 13 Büchern Euklids (das 5. wird Eudoxos zugeschrieben) sucht man den Begriff einer Maßzahl vergeblich. Die Griechen betrachteten nicht die Längen von Strecken, sondern die Verhältnisse zweier Strecken. Es ist mir auch ein Rätsel, wie man im Zusammenhang mit  Eudoxos auf das Konzept Zeit kommen kann - Euklid hat seine Elemente als rein innermathematisch, wie das heute zu heißen scheint, betrachtet; er wäre eher tot vom Stuhl gefallen als dort Anwendungen auf
die  ``Realität'' zu bringen (die gab es wohl und gehörten zum Bereich der Logistik; diese wurde aber in den Elementen nicht behandelt). Aber es kommt noch besser:

      In einer Weiterentwicklung dieses Ansatzes hat Archimedes (287 -- 212 v. Chr.) bei der            
      ``Parabelquadratur'' die Fläche unter einer Parabel durch ``Ausschöpfen mit Dreiecken'' 
      exakt bestimmt.

Die Fläche unter einer Parabel? Im kartesischen Koordinatensystem,  nehme ich an, benannt nach dem großen griechischen Philosophen Renos Deskartos.

         Aufbauend auf den Arbeiten vieler Vorläufer wurde im 17. Jahrhundert durch Isaac Newton 
        (1643 -- 1727) und Gottfried  Wilhelm Leibniz (1646 -- 1716) unabhängig voneinander die   
        Differenzial- und Integralrechnung entwickelt und gleich mit   großem Erfolg angewandt. 
       Ein bekanntes Beispiel ist Newtons   Theorie der Planetenbewegung.

Das einzige Problem an der Geschichte ist, dass Newton die Theorie der Planetenbewegung nicht mit Hilfe seiner Differential- und  Integralrechnung beschrieben hat, sondern mit geometrischen Hilfsmitteln, die auf Euklid und Apollonios zurückgehen. Die berühmte (offenbar nicht in den Kreisen, in denen die Autoren  verkehren) ``letzte Vorlesung Feynmans'' befasst sich mit der Newtonschen Herleitung.

       Euklid von Alexandria (ca. 325 -- 265 v. Chr.) hat in den 13 Bänden seiner ``Elemente'' 
      das mathematische Wissen seiner Zeit gesammelt.

Hat er nicht. Er hat die Grundlagen für die Mathematik seiner Zeit gelegt, eben die Elemente. Wenn die Elemente das gesamte Wissen der Zeit gewesen wären, warum hätte Euklid dann Bücher über die Teilung von Figuren oder über Kegelschnitte schreiben sollen?

In den ``Elementen'' findet sich der folgende Nachweis der Existenz irrationaler Zahlen, den Sie vielleicht aus der Schule kennen. Euklid zeigt, dass  √2  eine nicht-rationale Zahl ist:

Auch hier ist wieder zu erwähnen, dass in den Elementen Zahlen als die ganzzahligen Vielfachen der 1 definiert sind. In den Elementen tauchen also keine irrationalen Zahlen auf, und der vorgestellte Beweis,  dass Diagonale und Seite eines Quadrats inkommensurabel sind, steht  nicht in den Elementen, sondern war eine Hinzufügung im Mittelalter, die seit einem Jahrhundert wieder weggelassen wird.

Springen wir weiter zu Heron von Alexandria, dessen Methode zur Approximation von Quadratwurzeln auf S. 163 so kommentiert wird:

         Heron selbst kannte noch nicht die im Folgenden entwickelte Iteration mit Dezimalzahlen
         sondern drückte, wie es bei den alten Griechen üblich war, das Problem in geometrischer 
        Form  aus: Es war die Aufgabe, ein gegebenes Rechteck in ein flächengleiches Quadrat 
        umzuwandeln.

Sinn und Zweck des Heronverfahrens ist die Gewinnung einer numerischen Approximation. Geometrisch kann man Wurzeln exakt ziehen, und eine numerische Approximation ohne Zahlen ist relativ sinnfrei. Wie hat Heron  also seine Zahlen geschrieben? Wäre auf Seiten der Autoren
Medienkompetenz vorhanden, hätten sie das herausfinden können, und dieses Mal hätte es sogar genügt, dem Hinweis auf Wikipedia zu  folgen, um zumindest herauszufinden, dass Heron eine Approximation der  Quadratwurzel aus 720 berechnet hat.

Ein letztes Mal kommt die Geschichte auf S. 205 ins Spiel:

     Historische Bemerkung: In der menschenverachtenden Nazizeit hat das damalige Regime bekanntlich versucht, seine Ideologie alle  gesellschaftlichen Bereiche durchdringen zu lassen und sie so überall zu verankern. Im Bereiche der Wissenschaften gab es   z. B. nicht nur eine ``Deutsche Physik'' sondern auch eine  ``Deutsche Mathematik'' (sogar eine Zeitschrift dieses Titels  existierte damals), die sich u. a. dadurch auszeichnete, dass ``jüdische'' mathematische Begriffe ``eingedeutscht'' werden sollten. Wenn die Thematik nicht so ernst und tragisch wäre,  gäbe der Versuch, die Bezeichnung ``Differenzialquotient''  durch ``Null-durch-Null-Verschwinder'' zu ersetzen, schon fast Anlass zum Schmunzeln.

Es gibt viele Arten, sich den Ereignissen während der Nazizeit zu nähern, und auch die Mathematik bietet dafür reichlich Anlass. Dass die deutsche Mathematik damals versucht haben soll, ``jüdische'' mathematische Begriffe ``einzudeutschen'', ist mir neu. Nebenbei bemerkt  hat es das Wort Differenzialrechnung im Dritten Reich noch gar nicht  gegeben, weil es damals noch korrekt Differentialrechnung geschrieben  wurde. Der Begriff des Differentials wurde von Leibniz eingeführt - soll  der letzte Satz Humor sein oder wollen die Autoren sagen, der Begriff sei  von den Nazis als jüdisch empfunden worden? Eine Suche im Netz nach  Null-durch-Null-Verschwinder liefert jedenfalls nur einen Treffer, und zwar das vorliegende Buch.

Endlich: Analysis!!

Nach diesem Ausflug in die Geschichte der Mathematik kommen die Autoren jetzt langsam zum eigentlichen Thema ihres Buchs. Auf S. 116 wird die  Intervallschachtelung erklärt, die man, so lernt der Leser auf S. 123, in der Schule zwar braucht, aber:

        Bereits in der Sekundarstufe I werden Intervallschachtelungen implizit  an vielen Stellen 
        benötigt. Deshalb müssen sie nicht im  Unterricht thematisiert werden, sie bilden aber
       ein notwendiges Hintergrundwissen für die Lehrkräfte.

So sieht der heutige Mathematikunterricht aus: gewisse Begriffe werden zwar ständig benötigt (Intervallschachtelung, Grenzwerte, Kombinatorik und Binomialkoeffizienten), müssen aber im Unterricht nicht thematisiert werden, denn sonst könnte sich ja Verständnis breitmachen. Stattdessen werden die wesentlichen Begriffe als "black boxes" verwendet, d.h. mit diesen unverstandenen Begriffen wird dann gezeigt, wie man die Mathematik anwendet (genauer: wie man sie anwenden würde, hätte man verstanden, worum es geht).

Die Intervallschachtelung nun, dieses wichtige Objekt, fast möchte man  sagen Modell, muss den Schülern nahegebracht werden; eine Möglichkeit  ist folgende:

         . . . Ein passendes Bild hiervon ist die Vorstellung der Intervallschachtelung als ``nicht 
        endende Klorolle'', auf der unendlich viele Intervalle stehen,  die aber nur ein Objekt 
       darstellt, nämlich die Zahl x. 

Und dann drücken wir das Knöpfchen.

Auf S. 128 lernt der Leser die Gefahren der Bruchrechnung kennen:

        Zusammen ergibt sich die Definition der Potenz mit einem rationalen Exponenten r. Diesen 
        stellt man als Bruch r = p/q mit ganzzahligem p und natürlichem q dar und definiert ar  [als
       die q-te Wurzel aus] ap. Was darf man für  a einsetzen? Einerseits sollen die Potenzgesetze 
      gelten, andererseits ist die Darstellung von r als Bruch nicht eindeutig. Orientieren wir uns an 
      einem Beispiel:
                        -2 = (-8)1/3 =(-8)2/6 = ((-8)2)1/6 = 641/6 = 2. 
       Jedes Gleichheitszeichen ist korrekt gesetzt, aber das Ergebnis ist  unsinnig, was an den 
      unterschiedlichen Bruchdarstellungen des Exponenten  liegt.

Wenn jedes Gleichheitszeichen korrekt gesetzt wäre, würde wohl nicht -2 = 2 rauskommen. Dass so etwas trotz korrekt gesetzter Gleichheitszeichen passieren kann, muss dann wohl an den unterschiedlichen Bruchdarstellungen des Exponenten liegen.

Tatsächlich hat die falsche Aussage  (-8)1/3 =(-8)2/6 nichts mit Bruchrechnung zu tun, sondern mit der Definition der Bedeutung gebrochener Hochzahlen,  nämlich damit, dass Quadrieren und Wurzelziehen nur auf den nichtnegativen Zahlen Umkehrfunktionen voneinander sind.

Nun taucht der Begriff Umkehrfunktion im Buch sehr oft auf, angefangen bei Wurzelfunktionen über den Logarithmus, ja sogar die Umkehrfunktionen der trigonometrischen Funktionen werden betrachtet. Dies bedeutet aber nicht, um die Autoren zu zitieren, dass dieser Begriff im Buch thematisiert  werden muss. Die Definition der Umkehrfunktion wird auf Seite 59 im
"Funktionenbaukasten" so behandelt:

     4. Umkehrung: f  -1, f -1(f(x)) = x, wobei f -1 Umkehrfunktion heißt (sofern existent).

Das sind Situationen, bei denen ich von meinen Schülern "einen ganzen Satz, bitte!" verlange. Wer weiß, was eine Umkehrfunktion ist, kann ahnen, was die Autoren meinen. Ein Hinweis auf die Gefahren dieser Notation, etwa im Zusammenhang mit sin-1(x) = 1/sin (x), sucht man vergeblich.

Der eigentliche Kern des Buches, die Darstellung der elementaren Analysis, ist passabel, unterscheidet sich aber kaum von den Hunderten anderer solcher Darstellungen.