Montag, 27. März 2017

Brandbrief

Der Brandbrief zum Zustand des Mathematikunterrichts von 130 Mathematiklehrern, Dozenten
und Professoren an Fachhochschulen und Universitäten hat seit der Veröffentlichung durch den Tagesspiegel einige Wellen geschlagen und Reaktionen hervorgerufen, auf die wir nun etwas eingehen wollen.

Kristina Reiss, Professorin für Didaktik an der TU München, hat sich sehr weit aus dem Fenster gelehnt:

      Es ist ein fundamentales Missverständnis, dass die Schule die Schüler
     studierfertig abzuliefern hat.

Vielen Kommentatoren auf der Seite des Tagesspiegels war das neu, tatsächlich findet sich die Aussage mehr oder weniger verklausuliert auch auf der Seite des Regierungspräsidiums Stuttgart:

     Das Gymnasium vermittelt Schülern mit entsprechenden Begabungen und Bildungsabsichten
    eine breite und vertiefte Allgemeinbildung, die zur Studierfähigkeit führt.

Das Gymnasium vermittelt Bildung, die zur Studierfähigkeit führt, diese aber nicht notwendig bereitstellt. Der Grund ist einfach: nach den Reformen seit 2004 hat es sich bei den Reformern herumgesprochen, dass das Niveau ins Bodenlose gefallen ist. Also wird kurzerhand das Ziel gewechselt: Hochschulreife war gestern, heute werden die Schüler, die an die Pforten der Universität klopfen, dort abgeholt, wo sie stehen.

Auch die anderen Aussagen von Frau Reiss zeigen, dass sie vom  Fach Mathematik keine Ahnung hat: dass man sich etwa algebraische Grundkenntnisse jederzeit aneignen könne, wenn man sie mal brauchen sollte, ist eine erstaunliche Aussage.

Zu IGB-Direktorin Stanat fällt mir nicht viel ein: als die oberste Brandstifterin hat sie kein Interesse an der Feuerwehr. Ziel sei es, dass das mathematische Verständnis vertieft abgeprüft wird. Wo? Im Abitur? Entweder kennt sie die Aufgaben nicht, die ihr Institut entwickelt, oder sie versteht sie nicht. Dass sie Pisa-Punkte mit Mathematikkenntnissen gleichsetzt, wundert da nicht mehr. Noch dümmer zeigt sich die baden-württembergische Bildungsministerin Eisenmann:

     Weil zudem die neuen Aufgaben von Mathematikern entwickelt wurden, "ist dieser 
     Brief auch eine Kritik an der eigenen Zunft".

 Vermutlich verwechselt sie Mathematiker mit Erziehungswissenschaftlerinnen, Psychologinnen und Didaktikerinnen, oder sie kennt sich nicht aus, oder sie lügt absichtlich. Der letzte Halbsatz ist die Krönung der Dummheit: was um alles in der Welt soll das (wenn es denn wahr wäre) bedeuten?

Günter Ziegler, Mathematikprofessor an der FU Berlin und lange Zeit Präsident der DMV, hat den Brief, wie er sagt, nicht unterschrieben. Ich wüsste auch nicht, dass er gefragt worden wäre, ist er doch an der Misere nicht unschuldig, weil unter seiner Führung die DMV jede, aber auch wirklich jede Reform von  MNU und GDM mitgetragen hat. Ein ganz großes mea culpa wäre hier eher am Platz als Gelaber von einer guten Balance zwischen Wissen und Kompetenz: Schülern, die nicht rechnen können, fehlt nämlich beides.

Klagen über mangelnde Kenntnisse der Studienanfänger sind nicht neu. Im Rahmen der Katastrophe der Neuen Mathematik  hat die DMV 1976 eine Denkschrift  veröffentlicht, die sich zu lesen lohnt. Von dem, was die DMV damals für nötig hielt, wird heute fast nichts mehr unterrichtet.

2 Kommentare:

  1. Mir ist irgendwann einmal antiquarisch zugeflogen: J. Lange, Synthetische Geometrie der Kegelschnitte nebst Übungsaufgaben für die Prima höherer Lehranstalten, Berlin 1900.
    Diese Thematik scheint also damals den Höhepunkt des gymnasialen Mathematikunterrichts gebildet zu haben, das allerdings auf einem Niveau, mit dem konfrontiert die heutige Schülerschaft und auch ein Gutteil der Lehrer meiner unmaßgeblichen Einschätzung nach platt auf dem Bauch liegen würde. Exemplarisch zwei der als "schwierig" deklarierten Aufgaben, von denen es allerdings eine ganze Reihe gibt:
    "Wenn zwei vollständige Vierecke dieselben Nebenecken haben, so liegen ihre acht Ecken entweder alle auf demselben Kegelschnitt, oder zu je vier auf einer Geraden"
    "Es soll bewiesen werden, daß ein Kegelschnitt durch zwei Punkte und ein Polardreieck eindeutig bestimmt ist"
    Die Darstellungsweise in dem Büchlein ist vergleichbar der auch noch in heutiger mathematischer (nicht schulischer) Lehrbuchliteratur anzutreffenden. Was die Motivation für den Unterrichtsgegenstand Kegelschnitte war, weiß ich nicht; aber wer mit diesem Stoff in der dargestellten Weise zurechtgekommen ist, konnte sich wahrscheinlich dann auch durch andere Materien durchbeißen und war in diesem Sinne studierfähig.

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  2. Das sehe ich auch so. Und natürlich muss man sich der Frage stellen, ob man die Tiefe des Stoffs besser durch Geometrie (damals Kegelschnitte, heute erwähnen die meisten Schulbücher nicht einmal mehr den Schwerpunkt eines Dreiecks) oder Analysis abdeckt. Aber was man mir heute als Stoff der Klassen 10-12 zumutet, macht mich depressiv. Da soll man Differentialgleichungen und Hypothesentests unterrichten, ohne dass der Begriff des Grenzwerts oder einfachste Kombinatorik geläufig wären, und das Schülern, unter denen einige sind, für die 2x+1 = 3x oder 1/6 + 1/6 = 2/12 ist.

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