Mittwoch, 17. Mai 2017

Mathe-Abi BW 2017: Max und Moritz, vierter Streich

Analysis also. Die momentane Änderungsrate der Anzahl der Käufer soll, so will es die Aufgabe, beschrieben werden durch die Funktion f mit (eine der beliebten "mit"-Konstruktionen; vermutlich lernt man heute auf der Grundschule, dass 2 * 2 gleich der Zahl a mit a = 4 ist)
       f(t) = 6000 t e-0,5 t
(t in Monaten nach der Einführung und f(t) in Käufer pro Monat).

Mathematisch betrachtet ist dies natürlich ein Ding der Unmöglichkeit: die Funktion, welche die Anzahl der Käufer beschreibt, ist eine Treppenfunktion, und deren Ableitung ist überall dort, wo sie existiert, gleich 0. Aber will wollen nicht päpstlicher sein als der Papst, jedenfalls noch nicht. Machen wir das Spiel also mit.

Dazu müssen wir zeigen, dass f für alle t > 2 streng monoton fallend ist und nur positive Werte annimmt. Das ist soweit kein Problem. Komisch ist der zweite Teil der Aufgabe b):

      Interpretieren Sie dies in Bezug auf die Entwicklung der Käuferzahlen.

Mit Käuferzahlen sind die Werte der Funktion F gemeint, die durch  F(0) = 0 und F' = f festgelegt ist, also nicht die Käuferzahlen pro Monat, wie die meisten Schüler und die meisten Erstkorrektoren gemeint haben. Manche Schüler haben den Aufgabenstellern auch die Dämlichkeit der Frage erklärt und geschrieben, dass die Anzahl der Käufer ja schlecht abnehmen könne, wenn niemand die App zurückgibt. Sei's drum.

 Weil f positiv ist, so die Musterlösung, muss die Anzahl der Käufer immer zunehmen, und weil f ' negativ ist, wird diese Zunahme immer kleiner.

Das sieht bestechend aus, weil man es genau so gelernt hat. Es ist aber falsch. Die Funktion F kann man ausrechnen, wenn man vor mindestens 25 Jahren in BW zur Schule gegangen ist oder derzeit in Thüringen zur Schule geht; partielle Integration ergibt nämlich
          F(t)  = 24000 - 24000 e-0,5t - 12000 t e-0,5t .
Hieraus folgt unmissverständlich, dass die Anzahl der Käufer gegen 24.000 strebt.
Die Anzahl der Käufer wird also nicht immer zunehmen, denn wenn der letzte der 24.000 die App gekauft hat, kauft sie keiner mehr. Und wenn die Anzahl der Käufer nicht mehr zunimmt, dann kann die Zunahme auch nicht geringer werden.

Dies zeigt, dass man die Positivität von f und die Monotonie von f ' gar nicht in Bezug auf die Käuferzahlen interpretieren kann, und dass die angegebene Lösung falsch ist. Das Bildungsministerium und das Regierungspräsidium wissen das seit letzten Mittwoch (oder, wenn sie genauso spät arbeiten mussten wie die Erstkorrektoren, denen man ganze 4 Werktage zum Korrigieren von 40 Abiturarbeiten gegeben hat, seit letzten Dienstag abend), halten aber still.
Vermutlich will man hier von Hamburg lernen, bei denen es manch ein Abitur in zwei Ausfertigungen gibt: eines, das die Schüler zu bearbeiten hatten, und eines, in dem man nachträglich Fehler korrigiert hat. Aber auch in Hamburg schweigt man dazu in den zuständigen Ministerien eisern und antwortet auf Nachfragen lieber nicht.

Und was bedeutet es, dass die Techniken, die man Schülern im Zusammenhang mit den Pseudomodellierungen beibringt, falsche Ergebnisse liefern? Mich erinnert das an einen Satz von Charlie Brown, der Mitleid mit seinem Kumpel Linus hatte, weil dieser doppelt so lange zur Schule gehen müsse wie er selbst: einmal, um all die Dinge zu entlernen, die Lucy ihm beigebracht hat, und dann noch einmal, um die Sachen richtig zu lernen. So ähnlich sieht es in BW wohl auch aus, außer dass es nicht nur Linus betrifft, sondern alle, die später irgendein mathematiklastiges Studium aufnehmen wollen. Alle andern werden den Schrott ohnehin schnell vergessen.

1 Kommentar:

  1. Wahrscheinlich gibt man den Erstkorrektoren absichtlich so wenig Zeit, damit sie die Fehler und Inkonsistenzen der Aufgabenstellung und Musterlösung nicht bemerken oder schnell genug melden können.

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