Dienstag, 19. September 2017

Aufgaben und die Realität

Heute geht es nicht um eine besonders bescheuerte Aufgabe, sondern um eine ganz normal bescheuerte Aufgabe, also eine von denen, wie sie seit 20 Jahren ununterbrochen im Mathematikunterricht wiedergekäut werden - nur mit anderen Zahlen und in wechselnden Einkleidungen. Diese hier stammt aus dem Nachtermin des BW-Abiturs 2008:

Man hat also ein paar Messwerte, die sich wöchentlich fast verdoppeln, schließt daraus (man lernt das auswendig) auf exponentielles Wachstum, und bestimmt dann eine Exponentialfunktion, die diese Verkaufszahlen modelliert. Im Laufe der Aufgabe wird diese Funktion dann dazu benutzt, um Vorhersagen für die Verkaufszahlen der ersten 20 Wochen zu machen.

Das, so sagen die Modellierungsdidaktiker (Blum, Greefrath, Siller, Kaiser - hinter diesen Namen steckt eine ganze Industrie, die mit Forschungsgeldern und Promotionen um sich wirft), zeigt den Schülern, dass Mathematik in ihrem täglichen Leben eine Rolle spielt. Natürlich wird Mathematik in der Praxis nicht so angewandt - welches Label stellt einen Mathematiker ein, der aus den Verkaufszahlen von drei Wochen Vorhersagen für ein halbes Jahr macht? Und wozu?

Zehn Jahre lang habe ich im Glauben gelebt, dass es solche Mathematiker nicht gibt, und jetzt werde ich eines Besseren belehrt. Nun ja, eigentlich ist es kein Mathematiker, sondern ein Physiker, und eigentlich nicht mal das. Aber er wurde vom Spiegel interviewt, und die steile These des Herrn Randoll ging durch den ganzen Blätter- und Seitenwald der Qualitätsmedien. Was hat er gemacht? Er hat sich die Verkaufszahlen von E-Autos angesehen:


Dann hat er (in seiner Dissertation bei Daimler - wenn man bei Penny studieren kann, warum soll man dann bei Daimler nicht promovieren können?) festgestellt, dass sich die Verkaufszahlen jährlich etwa verdoppeln, auf das Vorliegen eines exponentiellen Wachstums geschlossen und dann die paar Zahlen dazu benutzt um vorherzusagen, dass 2026 die gesamte Weltproduktion von Autos aus E-Autos bestehen  wird. Nach 20 Jahren Unterricht in Modellieren haben wir hier das erste Exemplar des homo modellensis, der diese Strukturen aufgesaugt hat wie ein trockener Schwamm Wasser und sie jetzt tröpfchenweise wieder von sich gibt. Modellierung lebt! Modellierung funktioniert! Und man kriegt einen Doktor dafür!

Etwas unprofessionell erscheint dagegen die Tatsache, dass Dipl.-Phys. Randoll sein Diagramm nicht zurechtgedoktert hat. Die lila Rauten geben die Verkaufszahlen der Hybrid-Fahrzeuge an, die sich zuerst auch brav an exponentielles Wachstum halten, dann aber 2015 plötzlich einbrechen. Dürfen die das? Wenn man die ersten 4 lila Rauten verbunden hätte, dann bestünde 2025 die gesamte Weltproduktion der Autos aus Hybrid-Fahrzeugen. Vermutlich werden die dann sofort verschrottet, damit die Weltproduktion 2026 aus lauter E-Autos bestehen kann.

Verbindet man die Verkaufszahlen für 2014 und 2015, dann findet man heraus, dass 1850 die gesamte Weltproduktion von Autos Hybrid-Autos waren. Mathematik ist überall!

Zu meinen Studienzeiten hätte man jemand, der mit so einer Hausarbeit angetanzt
wäre, wieder nach Hause geschickt - heute reicht das für eine Promotion. Tempora mutantur - googelt das, Jugend! Wenn die Weltproduktion 2026 lauter E-Autos herstellt, braucht man Strom. Wenn man nachts tanken und tagsüber fahren will (solche Leute soll es geben), braucht man auch Strom, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Weil wir bis dahin die AKWs heruntergefahren haben, sollte jemand, der solche Vorhersagen macht, doch vielleicht ein klein wenig darüber nachdenken, wo dieser Strom herkommt. Oder wer in 8 Jahren die ganzen Zapfanlagen baut. Oder die Millionen von Batterien. Oder woher das Lithium in diesen Batterien kommen soll. Und was das Lithium kostet, wenn plötzlich der Bedarf an Lithium exponentiell in die Höhe schießt.

Stattdessen praktiziert Herr Randoll  Malen nach Zahlen und darf im Spiegel seine "Forschungsergebnisse" präsentieren. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass unser Bildungssystem (und ja, auch unsere Medien im allgemeinen und der Spiegel im besonderen) nicht mehr ganz das ist, was es mal gewesen ist, ja dann . . . könnten wir Herrn Randoll hernehmen.