Dienstag, 29. Mai 2018

Anwendungen

Rüdiger Baumann war in den 1980er Jahren Direktor des Johanneums in Lüneburg. In Band 2/1979 der Zeitschrift Mathematikunterricht (damals noch eine hervorragende Zeitschrift; Band 1/1979 über Olympiadeaufgaben von Arthur Engel und Horst Sewerin dürfte der beste Band dieser Zeitschrift überhaupt sein) hat er sich mit  "Anwendungsaufgaben" (die Anführungszeichen gehören da hin) beschäftigt. Dies ist ein Zitat wert:

       Heute wird viel Propaganda für die sogenannten Anwendungen gemacht, und man
       ist auf dem Weg, hier viel Unfug zu treiben. Dies kann für den Mathematikunterricht
       ruinös werden, weil die Mathematiklehrer sie selbst Anwendungen kennengelernt haben;
       es gebricht ihnen somit an Erfahrung und Urteilskraft auf diesem Gebiet. Manche 
       Analysis-Bücher schmücken sich, um den Anschein der Fortschrittlichkeit zu erwecken,
       mit sog. Anwendungen; so enthält z.B. das Buch von Tischel einen Abschnitt "Anwendungen
       in der Wirtschaftstheorie". Darin werden flugs abschnittsweise ganz-rationale Funktionen
       als Kosten- und Erlösfunktionen vorgestellt - vergessen oder verschwiegen wird dabei, dass
       es sich um abstrakte Modelle der theoretischen Ökonomie handelt, (fast) ohne jeden    
       Realitätsbezug. Das ist dem Studenten der Wirtschaftswissenschaften geläufig - dem
       Schulbuchautor bei seiner hastigen Adaption jedoch entgangen. Er zeichnet somit ein völlig
       falsches Bild von den Anwendungen der Mathematik: einmal durch die einseitige Auswahl 
       (kein Wort über die Anwendungen der Mathematik in Chemie, Biologie, Medizin,
        Psychologie, Soziologie etc.), zum anderen durch Vorspiegelung falscher Tatsachen: kein 
        Mensch der Praxis bestimmt ein Gewinnmaximum mittels Differentiation und Nullsetzen
        der Ableitung. Kein Wort erfährt man darüber, wie aus der Empirie dergleichen Funktionen
        gewonnen werden: der Prozess des Mathematisierens wird in diesen Pseudoanwendungen
        völlig unterschlagen. Bei den genannten Aufgaben handelt es sich lediglich um einfachste
        Übungsaufgaben - eingekleidet in eine andere Terminologie. Sie tragen weder zum 
        Verständnis der Mathematik, noch zu dem der Wirklichkeit bei.

Die hier kritisierten Schulbücher von Gerhard  Tischel sind,. nebenbei bemerkt, um Klassen besser als der Schund, unter dem wir die heutigen Schulbücher in Mathematik auswählen  müssen. Abschnittsweise definierte Funktionen gelten heute als höhere Mathematik. Dass es den Didaktikern in der Folge entgangen wäre, dass ihr Anwendungsbezug keiner ist, kann man heute nicht mehr behaupten - man hat es ihnen jahrelang erklärt, und sie haben es bis heute nicht verstanden. Der Liste der Fächer, in denen die Anwendung der Mathematik verschwiegen wird,  muss man inzwischen auch noch die Physik hinzufügen.

Heute besteht der Mathematikunterricht in der Oberstufe fast ausschließlich aus derartigem Stuss, weil der allergrößte Teil der Abituraufgaben in Mathematik genau so aussieht wie das, wovor Herr Baumann vor fast einem halben Jahrhundert so eindringlich gewarnt hat. Es ist auch nicht absehbar, dass sich hier in naher oder ferner Zukunft etwas ändert. Von mir aus kann man die ganze Oberstufenmathematik abschaffen: Das allermeiste davon würde ich ohnehin als Rufmord bezeichnen.

Auch das diesjährige Abitur in BW hatte wieder Aufgaben, bei denen man vor Scham in den Boden versinken möchte. Eine ziemlich dämliche  über globale Durchschnittstemperaturen (mit der Realität  hatte das Modell, vorsichtig gesagt, wenig zu tun) und eine noch dämlichere über das Geländeprofils eines Tals. Darüber führt eine Brücke, und um diese geht es im Teil b):

      An einem Punkt der Brücke, der im Modell die Koordinaten P(1|5) hat, wird ein 
     30 m langes Seil  befestigt, das senkrecht nach unten hängt. Das untere Ende des 
     Seils soll zu jedem Punkt des Geländeprofils einen Mindestabstand von 15 Meter haben.

      Untersuchen Sie, ob dieser Mindestabstand eingehalten wird.
   
Mir fehlen die Worte. Aber vermutlich hat die Aufgabenstellerin überdurchschnittliche physikalische Kenntnisse, weil ihr Seil nach unten und nicht nach oben hängt.

Noch besser ist eine Aufgabe aus dem Nachtermin. Dort wird ein aufgeklapptes Notebook in einem geeigneten Koordinatensystem beschrieben (Arghh!), und wieder bei b) heißt es:

      Die Position des rechten Auges einer Person, die am Notebook arbeitet, wird durch den
      Punkt R(10|40|50) beschrieben.
      Bestimmen Sie den Punkt P der Ebene K mit der kleinsten Entfernung zu R.
      Begründen Sie, dass P innerhalb des Rechtecks liegt, das die Bildschirmfläche beschreibt.
      Berechnen Sie den Abstand des Auges zum Bildschirm.

 Wie gesagt: Rufmord.