Sonntag, 15. Juli 2018

Felix Austria

Unter den deutschsprachigen Ländern ist das ehemalige Vorzeigebildungssystem Deutschland inzwischen das mit Abstand miserabelste, auch wenn dasjenige in Österreich nicht arg viel besser ist. Widerstand wird auch dort kleingeschrieben und kommt nicht von den selbsternannten Experten auf Didaktiklehrstühlen und aus der empirischen Bildungsforschung (was ja auch wenig einleuchtend wäre, haben diese doch zusammen mit der Politik den Mathematikunterricht ruiniert), sondern von Lehrern. Und nicht von irgendwelchen Lehrern, sondern von solchen einer katholischen Privatschule, nämlich dem Öffentlichen Stiftsgymnasium und Oberstufenrealgymnasium der Benediktiner in Melk. Dort haben die Mathematiklehrer einen offenen Brief an den Bildungsminister und ehemaligen Professor für Geoinformatik Heinz Faßmann geschrieben, der erstaunlicherweise auf der Homepage des örtlichen Volleyballvereins zu finden ist.,

Es ist überflüssig, aus dem offenen Brief zu zitieren - alles, was dort gesagt wird, gilt ebenso und in noch stärkerem Maße für den "Mathematik"-Unterricht in BW und den meisten anderen Bundesländern. Eine kleine Spitze will ich mir aber doch erlauben. Die Autoren schreiben nämlich

    Ein Doppelbruch oder eine Ungleichung stellen für viele Maturanten eine 
    ernst zu nehmende Hürde dar.

 Ich will mich gar nicht mit dem durch die Rechtschreibreform zerfaserten Unterschied zwischen ernst zu nehmend und ernstzunehmend auseinandersetzen (oder gar auseinander setzen), sondern bemerke lediglich, dass der Umgang mit Ungleichungen in BW überhaupt nicht unterrichtet wird (sieht man einmal davon ab, dass Abiturienten mitunter entscheiden müssen, ob eine Ableitung positiv oder negativ ist, was man mit etwas gutem Willen als eine einfache Ungleichung ansehen mag), und dass, was Doppelbrüche angeht, das Lehrbuch "Fortschritte der Mathematik 6" (S. 119) alles sagt, was hierzulande darüber gesagt werden muss:

           Samuel findet in einem alten Mathematikbuch einen Doppelbruch. 
     
Die kleinen Forscher aus dem Land der Tüftler werden dann aufgefordert, darüber nachzudenken, wie man 2/3 durch 4/5 teilt.     

Mittwoch, 4. Juli 2018

Brügelmann IV

Der Hochschulprofessor, den ich bei weitem am öftesten hier zitiert habe, ist der Herr Professor Brügelmann (man sehe hier, hier und hier). Anstatt nun seine satte Professorenpension zu genießen, die ihm der deutsche Steuerzahler für seine fachlichen Leistungen zuerkannt hat, lässt ihn das Thema Schulbildung nicht los - wenn ich den Grund erraten müsste, würde ich vermuten, dass er seine Felle davonschwimmen sieht, weil seine Erkenntnisse, etwa zum Erlernen des Schreibens nach Gehör, von den beteiligten Eltern über die Gymnasiallehrer bis hin zu den politischen Entscheidungsträgern als ein Grund für die Rechtschreibkatastrophe angesehen wird, die wir gerade erleben dürfen (Grundschullehrerinnen finden das gut, weil sie mit dieser Methode aus dem Schneider sind - Korrekturen werden nicht nur überflüssig, sondern sind geradezu schädlich, Lese-Rechtschreibschwächen werden erst am Ende der 4. Klasse entdeckt, und mit der Orthographie müssen sich die späteren Gymnasiallehrer herumschlagen: win-win, wohin man sieht). . Damit sein Vermächtnis nicht zum Mühlenstein der Bildungsforschung wird, schießt er auch seit 2012 in schöner Regelmäßigkeit auf seine vielen Kritiker. 

Das jüngste Feuerwerk hat er im Faktencheck Grundschule abgebrannt (seine Kollegin Erika Brinkmann ist natürlich auch mit von der Partie). Einige Höhepunkte dieser Publikation verdienen durchaus ein breiteres Publikum verdient. Er macht das durchaus geschickt: Mit

     Die mangelnde Anerkennung der Professionalität von Grundschullehrerinnen und -lehrern 
     suggeriert im Paket mit der öffentlichen und oberflächlichen Verbreitung von Plattitüden 
     und  Falschmeldungen letztlich, dass sich jeder, der früher einmal Schülerin oder Schüler 
     war, zu entsprechenden Themen äußern und eine eigene Einschätzung über pädagogische
     und fachliche Entwicklungen abgeben kann.

deutet  er die Kritik an seiner Methode gekonnt als Kritik an den Grundschullehrern um. Etwas ungeschickt dagegen der letzte Halbsatz, schließlich beruht die Qualifikation von Herrn Brügelmann, was Grundschuldidaktik abngeht, ebenfalls nur auf der Tatsache, dass er wohl auch einmal Grundschüler gewesen ist. Unterrichtet hat er jedenfalls keine einzige Klasse.

Zeit, die Vorurteile und fake news anzugehen, die Herr Brügelmann mit Fakten widerlegt (oder, weil er das nicht zum ersten Mal macht und Orthographie ein Prozess ist, der auch nach der Pensionierung weitergeht, wiederlegt).

  • .Vorurteil 1: Mehr Tests steigern  die Leistungen von Schülern, Lehrern, Ländern. 

Ein seltsames Vorurteil, das mir noch gar nicht bekannt ist und sich selbst widerlegt, denn wenn man nur noch testet, kann man gar nichts mehr lernen. Bevor diese Aussage also zu einem Vorurteil wird, muss man präzisieren, was mit "mehr" gemeint ist: Mehr als gar keine Tests, mehr als früher, mehr als heute oder mehr als morgen? Ich weiß auch gar nicht, wer nach mehr Tests ruft - Eltern und Lehrer sicherlich nicht. Tatsächlich sind Tests das Lieblingsinstrument von Bildungsforschern und Didaktikern, also von Herrn Brügelmanns Kollegen.  

  • Vorurteil 2: Zeugnisse ohne Noten sind ein Angriff auf das Leistungsprinzip.

Ein etwas verkürztes Urteil, das aber insofern richtig ist, als die Leute, welche die Noten abschaffen wollen, durch die Bank damit das Leistungsprinzip aushebeln möchten. Zur Widerlegung von Vorurteil 2 benutzt Herr Brügelmann diverse Strohmänner. 

       Noten sind informationsarm. 

Das stimmt nicht ganz, denn ob jemand eine 1 in Mathe oder eine 3 hat, lässt durchaus in den meisten Fällen  Rückschlüsse auf  seine mathematischen Kenntnisse zu. Bei PISA dagegen werden Schwankungen in der dritten Nachkommastelle als Erfolg oder Misserfolg von Reformen und Bildungssystemen gedeutet.  

     Noten fördern keine Leistung.

Das erlebe ich anders. Richtig ist aber, dass Noten in erster Linie nicht dazu da sind, Leistung zu fördern. Ebensowenig fördern Noten die Intelligenz von Schimpansen oder das Wachstum von Erdbeeren.
  
     Noten sind nicht vergleichbar, und sie sind nicht fair. Notenvergabe ist nicht objektiv.

Kurz: Notenvergabe ist nicht perfekt. Also muss man sie abschaffen. 

  • Vorurteil 3: Mehr Hausaufgaben fördern das Lernen und steigern die Lesitung.

Wieder ein "mehr", das nichts bedeutet: Mehr als was? Natürlich fördern Hausaufgaben nicht das Lernen schlechter Schüler, weil die die Hausaufgaben oft gar nicht machen. Das war schon zu meinen Schulzeiten so. Abschaffung der Hausaufgaben schadet aber den guten Schülern, denen sie tatsächlich bisweilen helfen, ihre Lücken zu entdecken. Aber die guten Schüler sind die hauptsächlichen Opfer des deutschen Bildungssystems.

  • Vorurteil 4: Offener  Unterricht ist nichts für die Schwachen.

Ich lasse Herrn Brügelmann dieses Vorurteil selbst widerlegen:

    Die Didaktik offenen Unterrichts bietet ein breitesR epertoire an Aktivitäten, die auch 
    in dieser Hinsicht flexibel sind (Peschel 2003). Ein Beispiel sind regelmäßige 
    Rechtschreibgespräche über schwierige Wörter mit der Lerngruppe: Die Regeln für 
    den Ablauf der Gespräche schaffen einen sozialen Rahmen (erst jede/r für sich; dann 
     Austausch und Klärung im Plenum); die Fachstruktur wird nicht in einer festen Abfolge,  
    sondern durch wiederholten Bezug auf Faustregeln und Strategien erarbeitet; es gibt also 
    keine Vorgabe »vom Einfachen zum Schweren«, sondern dieselben Rechtschreibphänomene 
    werden an immer neuen Beispielen wiederholt (»Festigung«)  und zu verschiedenen 
    Zeitpunkten immer wieder thematisiert  (»Passung« auf die unterschiedlichen Lernstände).



      So bringt man also schwachen Schülern die Rechtschraipung bai.  

  • Vorurteil 5: Mehr digitale Medien machen die Grundschule besser - oder dumm? 

Mehr als was? Ich wiederhole mich. Brügelmann bastelt einen Strohmann:

     Dass Kinder in einer (medien-) keimfreien Welt aufwachsen können, ist eine Illusion. 

Meine Güte, Brügelmann: Eine Illusion ist, dass es irgend jemanden gibt, der so etwas behauptet.Das kann man vom nächsten Vorurteil nicht behaupten:

  •  Vorurteil 6: Die Schülerleistungen werden immer schlechter.

Da bin ich mal auf die Widerlegung gespannt. Herrn Professor Brügelmann gelingt diese überraschend einfach:
   
      die Behauptung [ist] in dieser Form schlicht falsch.

So hab ich mir einen Faktencheck schon immer vorgestellt. Dass verschiedene Studien zu verschiedenen Ergebnissen kommen, interpretiert Brügelmann nicht dahingehend, dass solche Studien nichts taugen, sondern wertet sie als Beleg dafür, dass die Schülerleistungen nicht nachgelassen hätten. Die Realität im Klassenzimmer ist allerdings eine andere.

  • Vorurteil 7: Schreiben nach Gehör ist eine schädliche Methode und gehört verboten. 

Das durfte natürlich nicht fehlen. Hier kommt Brügelmann mit einer Beweislastumkehr, die man hier nachlesen kann: 

      Zum Beispiel übersieht der Vorwurf, Grundschule mache Kinder zu »Versuchskaninchen« 
      unbedachter und voreiliger »Experimente«, dass für die Überlegenheit der »alten« Methoden 
      mitnichten empirische Belege vorliegen – welche auch nie gefordert wurden. Trotzdem spricht 
      da niemand von »Experimenten«.

Das ist richtig und liegt daran, dass die traditionellen Methoden 4000 Jahre lang ganz passabel funktioniert haben, und zwar selbst zu Zeiten, als Rohrstock und Ohrfeigen abgeschafft waren. Wenn etwas funktioniert und nach einer Reform nicht mehr, dann kann man doch, wenn man ernst genommen werden möchte, nicht damit kommen, von den Leuten, die vor die Reform zurück wollen,  Belege dafür zu verlangen, dass die alte Methode besser ist. 

     Die weiteren Vorurteile tu ich mir heute nicht mehr an. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass Herr Brügelmann herausgefunden hat, dass  die Erlernung einer Schreibschrift für Schüler schädlich ist. Er kann das sogar begründen:

       Eine weitere Schriftform als zweite Schulschrift ist wegen des Bruchs in der
       Schreibentwicklung schädlich!

Man fragt sich, wie unsereins groß geworden ist und warum das die Japaner noch nicht herausgefunden haben - vermutlich haben die keine Didaktikprofessoren vom Format Brügelmanns. Dass Inklusion, wie sie in Deutschland teilweise praktiziert wird, alle überfordern würde, ist auch ein Vorurteil. Ich kann das bestätigen: Herrn Brügelmann überfordert die Inklusion nicht.