Dienstag, 6. November 2018

Wozu ist das gut?

Die Frage nach dem Sinn des Mathematikunterrichts ist nicht neu; allerdings haben die Antworten, welche die Didaktik seit den 1990er Jahren gegeben hat (Heymann vor allem), den Mathematikunterricht an Gymnasien in einem Ausmaß pervertiert, wie man sich das vor 30 Jahren nicht hat vorstellen können. Ich muss daher, wenn ich heute eine Antwort auf diese Frage gebe, nicht fürchten, dass das negative Auswirkungen auf den heutigen Mathematikunterricht haben könnte - dazu fehlt mir der Einfluss und dem  Lehrplan Niveau.

Zu Beginn werfe ich einen Blick zurück auf die Anfänge der Mathematik, soweit sie uns bekannt sind. Warum haben die Babylonier (genauer deren Vorgänger, die Sumerer) begonnen, Mathematik zu treiben und zu unterrichten? Weil sie auf Tontafeln geschrieben haben, von denen Tausende, die sich mit Mathematik befassen, zumindest teilweise erhalten sind, wissen wir relativ gut darüber Bescheid, womit sie ihre Schreiberlehrlinge gequält haben.

Unter den Aufgaben sind viele Teil-Probleme, bei denen etwa ein Erbe unter Brüdern "gerecht" aufgeteilt werden sollte, also etwa so, dass jeder Bruder denselben Betrag mehr bekommt als der nächstjüngere. Dazu muss man mit linearen Gleichungen umgehen lernen. Weil neben Geldbeträgen (also im wesentlichen Silber) auch Felder vererbt wurden, hat man sich auch mit der Teilung von Feldern bzw. der Bestimmung des Flächeninhalts von Drei- und Vierecken befasst. Viele solcher Aufgaben benutzen etwas, was wir den Strahlensatz nennen, und Probleme, bei denen der Satz des Pythagoras anzuwenden ist, führen regelmäßig auf quadratische Gleichungen. Auch das Leihen von Geld und Zins nebst Zinseszins musste, damit eine Gesellschaft funktioniert, berechnet werden können. Wieviel Erde muss bewegt werden, um eine Rampe an eine Mauer zu bauen oder einen Graben auszuheben, wie viele Arbeiter brauchte man dafür, und wieviel Brot, Bier und Silber benötigt man, um diese zu bezahlen?

Relativ schnell hat der Unterricht aber auch Aufgaben hervorgebracht, die mit der Organisation der Gesellschaft wenig bis nichts zu tun hatten: Wenn man ein Korn Getreide jeden Tag verdoppelt, wie viel hat man nach einem Monat? Welche Zahl erhält man, wenn man eine Zahl (etwa 9) 46 mal mit sich selbst multipliziert? Wie groß ist die Fläche eines Felds, das 1 km lang und 1 mm breit ist?

Wie sieht die Sache heute aus? Selbstverständlich führt kein Weg an dem vorbei, was man unter bürgerlichem Rechnen versteht; dies unterscheidet sich inhaltlich wenig von dem, was bereits die Babylonier machten.

Für die Gesellschaft als solche noch wichtiger als diese "Trivialitäten" erscheint mir etwas anderes. Ist unsere Gesellschaftsordnung gerecht? Warum sind Pensionen üppiger als Renten? Warum müssen gesetzlich Versicherte länger als privat Versicherte auf einen Arzttermin warten? Warum funktioniert die Mietpreisbremse nicht? Dahinter stecken Gesetze, solche die man gemacht hat und solche, die man nicht gemacht hat. Dass sich Renten anders entwickeln als Pensionen liegt auch daran, nach welchen Formeln die jeweiligen Erhöhungen berechnet werden.
Dass gesetzlich und private Versicherte anders behandelt werden liegt daran, dass Ärzte bei ihren Behandlungen unterschiedlich bezahlt werden. Dahinter steckt Mathematik, und wer die nicht versteht, ist darauf angewiesen, das zu glauben, was einem die Lobbyisten (Ärzteverband, Krankenkassen usw.) vorrechnen.

Für solche Aufgaben sind 7 Jahre, wie sie Heymann vorgeschwebt haben, eben nicht genug. Dazu reicht es auch nicht, wenn man weiß, wie man die Summe zweier Brüche in den Taschenrechner oder eine Funktion in den GTR eintippt. Hier muss man "denken lernen", also mit Voraussetzungen und Folgerungen umzugehen lernen.

Ein anderes modernes Problem sind Daten und Algorithmen. Den meisten Leuten ist nicht klar, wie gefährlich das Sammeln von Daten und deren Auswertungen sind. Ein Blick in die USA lohnt sich auch hier. Dort ist es bereits heute so, dass manche Kündigungen (etwa von Lehrern, deren Schüler bei Tests schlecht abschneiden, weil der Vorgänger beim Vorgängertest geschummelt hat) von Algorithmen ausgesprochen werden, oder dass Tarife bei Versicherungen zu 100% von einer Maschine berechnet werden, ohne dass ein Mensch darauf überhaupt noch Einfluss nehmen kann. Auch dahinter steckt natürlich Mathematik, aber deswegen sind die Entscheidungen der Maschine natürlich noch nicht gerecht. Welche Macht hat der, der den Algorithmus entwickelt hat? Wodurch ist diese Macht legitimiert? Das kann man kaum auf der Schule machen, aber wenn man im Studium die Mathematik lernen muss, die einem die Schule nicht mehr vermitteln kann, bleiben für solche Fragen wenig Zeit.

Eine ganz andere Antwort auf die Sinnfrage der Mathematik ist natürlich die des Wissenschaftlers: Schon Galilei hat bemerkt, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist. Ohne Mathematik gibt es kein Newtonsches Gravitationsgesetz und erst recht keine Einsteinsche Relativitätstheorie, keine Quantentheorie  (und eben auch keinen Kernspintomographen oder sichere Webseiten, auf denen man Bestellungen tätigen oder bezahlen kann).  Und dann wäre da noch die Antwort des Mathematikers, der die Mathematik faszinierend und schön findet, wobei ihm klar ist, dass diese Schönheit Nichtmathematikern ähnlich zugänglich ist wie die Schönheit von Beethovens 5. Sinfonie einem Tauben, der die Partitur vor sich hat.

Welchen Sinn hat nun der Mathematikunterricht? Im heutigen Zustand praktisch kaum einen - der Anwendungsfetischismus, den uns die Didaktik (Blum, Kaiser, Barzel, Reiss, Kaiser, Elschenbroich, Herget, Greefrath, Leuders und die ganze Bagage) seit PISA beschert hat, hat die Schulmathematik fürchterlich verunstaltet.  Die Inhalte sind inzwischen so weit ausgedünnt, dass es kaum mehr Zusammenhänge gibt, die Schüler verstehen könnten. Man hat versucht, den Unterricht so zu gestalten, dass den Schülern möglichst alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden. Das kann nicht das Ziel eines guten Unterrichts sein; ein solcher muss den Schülern zeigen, wie man mit Schwierigkeiten umgeht. Und die Dinge, die Schülern Probleme bereitet haben, sind inzwischen weg: geometrische Beweise, vollständige Induktion, Definitionen, Ungleichungen, Grenzwerte usw. wurden nach und nach entsorgt, um die Abiturientenquote auf 50 % eines Jahrgangs zu heben. Natürlich waren diese Dinge schwer. Genau deswegen hat man sie ja unterrichtet. Heute müssen auch die guten Schüler das glauben, was der Lehrer ihnen sagt. Warum sollten solche Schüler mit 23 Jahren mit dem Denken beginnen?

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