Samstag, 14. Januar 2017

Vive la France

Frankreich macht, mit 10 Jahren Verspätung gegenüber Deutschland, exakt den gleichen Murks in der Bildungspolitik. Im Gegensatz zu uns meldet sich dort aber die erste Reihe der Mathematiker zu Wort, nämlich Mitglieder der Akademie der Wissenschaften (so etwas wie hierzulande die Gewinner der letzten Staffeln von Deutschland sucht den Superstar), darunter Jean-Pierre Serre. Nicht, dass es etwas genützt hätte: der folgende Aufruf stammt von 2011, als dort der neue Lehrplan diskutiert wurde, den wir in Deutschland bereits 2004 umgesetzt haben, wobei wir auch damals bei weitem nicht das französische Niveau in Sachen Schulmathematik erreicht hatten.

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Mitteilung der Mitglieder der Akademie der Wissenschaften  betreffend die ministeriellen Vorschläge zu den Lehrplänen  für Mathematik im letzten Schuljahr, vorgestellt im März 2011


Das Bildungsministerium hat im März 2011 zur Begutachtung der neuen Pläne für das letzte Schuljahr aufgerufen.  Was die Programme in Mathematik für das Abitur S (Das ist die "wissenschaftliche" Schiene des Abiturs; S steht für sciences. Mathematik spielt dort eine
zentrale Rolle. [FL]) angeht, so enthüllt eine genaue Untersuchung der Vorschläge gravierende Lücken und fehlenden Zusammenhang. Die im Vorwort genannten Ziele (Fähigkeit, eigenständig zu forschen, eine kritische Haltung einzunehmen, zu modellieren) sind keinesfalls innerhalb der angegebenen Stundenzahlen und mit den vorgeschlagenen Inhalten zu erreichen. Wir beobachten an vielen Stellen die Abschaffung von nützlichen Definitionen und eines minimalen Formalismus, die allein erlauben würden, präzise Überlegungen und Argumentationen durchzuführen. In der Analysis etwa, wo man annimmt, die Definition der Ableitung sei bereits in der vorletzten Klasse erarbeitet worden, steht der Begriff des endlichen Grenzwerts in einem Punkt nicht mehr im Lehrplan, und jede Erwähnung des Zusammenhangs mit dem Begriff der Stetigkeit ist verschwunden. Viele Definitionen berufen sich auf vage Intuition und die Mehrzahl der fundamentalen Ergebnisse werden ohne Begründung verwendet.  Anstatt die Stärkung der Rechenfertigkeiten der Schüler zu empfehlen, reduziert sich das angestrebte Ziel für das Rechnen mit Ableitungen auf die Verwendung einer Prothese, nämlich die Benutzung von Computer-Algebra-Systemen. Die Tangensfunktion scheint aus dem Kanon der Grundfunktionen verschwunden zu sein.

Was das gravierende Fehlen von Zusammenhang angeht, bemerken wir das Verschwinden eines Kapitels über Differentialgleichungen, obwohl die Exponentialfunktion weiterhin als Lösung einer solchen eingeführt wird. Das Kapitel über Wahrscheinlichkeit, das nur oberflächlich beeindruckend wirkt, ist von vielen grundlegenden Inhalten gesäubert, die für ihre Behandlung und ihr Verständnis notwendig sind. Es wäre unter diesen Umständen viel besser, erst einmal den Inhalt einzuschränken, bevor man auf die tieferen Fragen eingeht. Die Geometrie ist wieder einmal das ungeliebte Stiefkind dieser Reform; so ist die  Einführung der komplexen Zahlen ihrer geometrischen Einkleidung beraubt, die auf der Untersuchung der Ähnlichkeit beruht, und der räumlichen  Geometrie fehlt auf schmerzliche Art und Weise jegliche umfassende Vision.

Der Lehrplan für das Abitur S korrigiert kaum das mittelmäßige Gesamtbild [der Mathematik], denn anstatt Begriffe wie die eindeutige Primfaktorzerlegung oder den größten gemeinsamen Teiler zu besprechen, die früher einmal zu Beginn der Gymnasialzeit behandelt wurden, sieht man recht erstaunliche Propositionen auftauchen, etwa über das Ehrenfestmodell zum Stoffaustausch durch eine Membran oder Irrfahrten auf Graphen, deren Titel eher an fortgeschrittene Forschung von Spezialisten erinnern . . .

Die Gestaltung neuer Programme lässt sich nicht innerhalb weniger Wochen improvisieren, und es wäre sehr oft wünschenswert, zuvor Versuche in repräsentativen Klassen zu machen, gefolgt von einer unparteiischen Analyse durch Experten und Lehrkräfte.

Die Wirkung der zu begutachtenden Vorschläge, abgesehen vom Absingen einiger unerreichbarer gutklingender Ansprüche, wäre vor allen Dingen die nochmalige Reduktion der Inhalte der Mathematik, welche den Schülern vorgesetzt wird. Neue Themen wie das der Algorithmen lassen sich nicht  einführen, ohne das globale Gleichgewicht für die Stundenzahlen der anderen Disziplinen zu überprüfen. Die den Wissenschaften gewidmeten Stundenzahlen sind heute für den wissenschaftlichen Zweig der Schulen  vollkommen ungenügend. Es ist weiter sehr bedauerlich, dass die Mathematik aus diversen eher literarischen Zweigen der Schulausbildung verschwunden ist, die doch weiterhin die Anwärter auf Staatsbeamte oder allgemeine Lehrer stellen.

Unter diesen Umständen wäre es dringend notwendig, eine zusammenhängende  und ehrgeizige Reform der Oberstufe und der vorhergehenden Stufen der Schule  auf die Beine zu stellen; dies ist eine unumgängliche Voraussetzung, um das derzeitige Ausbluten der wissenschaftlichen Berufe aufzuhalten.

Erstunterzeichner: Jean-Pierre Demailly, Jean-Marc Fontaine,  Jean-Pierre Kahane, Gilles Lebeau, Bernard Malgrange, Gilles Pisier,  Jean-Pierre Ramis, Jean-Pierre Serre, Christophe Soulé


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Letztes Jahr hat die Kommission der Lehre bei der SMF Bilanz gezogen:

Seit der großen Bildungsreform der Oberstufe von 2011 haben wir 2013 und 2014 die ersten Studenten erhalten, die diese Ausbildung  durchlaufen haben. Durch eine deutliche  Senkung der Stundenzahlen in Mathematik und das andauernde Austrocknen der Geometrie zugunsten eines Unterrichts der Stochastik hat diese Reform spürbar die tatsächlichen Kenntnisse in Mathematik beim Verlassen des Gymnasiums verändert. Es ist der Kommission der Lehre bei der SMF wichtig, eine erste Bestandsaufnahme zu machen, die sich in drei Zeilen zusammenfassen lassen: Die Studenten, die an den Universitäten oder den Vorbereitungsklassen erscheinen,

  • beherrschen mehrheitlich weder numerische noch algebraische Rechnungen;
  • haben die Lust und die Fähigkeit zu ausdauerndem Arbeit verloren;
  • wissen nicht, was Mathematik ist.

Es ist verlockend darauf zu antworten, dass dieser Befund nicht neu ist, aber dieses mal scheint es, als würde er auch unsere besten und sehr gut motivierten Studenten betreffen.

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Die Reduktion der Stundenzahlen und der Programme haben zu einer Verringerung der Kenntnisse der Schüler geführt. Die Grundtechniken des Rechnens und des Argumentierens haben diese sich nicht angeeignet. Das Scheitern ist total: Vorzeichenregel, Distributivität, Addition von Brüchen, trigonometrische  Formeln, Wurzeln, einfache Ableitungen . . . nichts davon ist sofort  abrufbar und alles eine mögliche Fehlerquelle. Noch schlimmer ist, dass die Grundlagen für deduktives Schließen nicht gelegt sind.

Gleichzeitig, obwohl Wahrscheinlichkeit und Statistik an der Schule verstärkt unterricht wird, haben sich die Leistungen der Studenten auf diesem Gebiet überhaupt nicht verbessert.

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Die Studenten in den Vorbereitungsklassen sagen direkt, dass sie ihr Abitur mit Auszeichnung erhalten haben, ohne jemals außerhalb der Schulstunden etwas getan zu haben.

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