. . . dann denkt er nur, er denkt.
Nach seinem jüngsten durchaus seltsamen Gastkommentar in der Sueddeutschen zum heutigen Mathematikunterricht habe ich bemerkt, dass Herr Prof. Christian Hesse der Spezies der geistigen Wiederkäuern anzugehören scheint, denn die meisten verqueren Forderungen in seinem Kommentar hat er bei sich selbst abgeschrieben.
Der Titel, das muss man wohl erklären, ist ein Wortspiel: zwei + zwei = wir. Get it? Wir statt Vier! Das ist so witzig wie 2 * 3 = sex oder 4 + 4 = Gute N8. Haha! Manche Mathematiker sind wahre Comedians.
Nach einem Lobgesang auf Ada Lovelace, die als Vorbild für heutige mathematikzubegeisternde Schülerinnen ebensowenig taugt wie die von der Genderista erfundenen Biographien von Theano (Frau Pythagoras) und Hypatia, kommt er auf den Grund zu sprechen, der Mädchen von einem gesteigerten Interesse an Mathematik abhängt:
Ein nicht unwesentlicher Grund dafür ist, dass der ganze MINT-Bereich
(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) landläufig immer
noch das Image hat, hauptsächlich von Nerds bevölkert zu sein, jenen
dick-bebrillten, unmodisch gekleideten, vertrottelten Sonderlingen. [ . . . ]
So will man natürlich nicht sein oder werden.
Wenn ich mir's recht überlege, möchte ich auch nicht so werden oder so geworden sein. Allerdings ist das ein Klischee, das Herr Hesse da erfunden hat - ich kann mich nicht entsinnen, in meiner Jugend irgendetwas davon mitbekommen zu haben.
Eigentlich ist damit ja alles geklärt: Schuld ist ein Klischee. Aber so einfach ist es nicht, wenn man Hesse heißt. Als nächstes beweist er: Schuld ist Goethe.
Schon Goethe hat sich als "zahlenscheu" bezeichnet und hatte
einen regelrechten Hass auf die Mathematik und viele Mathematiker.
Da hat der Herr Professor wenig Medienkompetenz bewiesen (was man ihm nicht vorwerfen kann, da er in einer Zeit groß geworden ist, als es das Internet noch gar nicht gab), denn hier kann man nachlesen, dass diese Charakterisierung von Goethe etwas an der Realität vorbeigeht, die nicht ganz so schwarz-weiß ist, wie Herr Hesse sie gern hätte.
Goethe war der Meinung, dass Experimente, die man mathematisch
interpretieren müsse, nichts wert seien. Das ist eine Sicht, mit der
er erkenntnistheoretisch in die Vorstellungswelt der alten Griechen
zurückfiel.
Erstaunlich, was man hier über die Griechen lernt. Mit "die Griechen" meint Herr Hesse vermutlich das, was er über Aristoteles gelesen zu haben glaubt. Die Messung des Erdumfangs von Eratosthenes oder des Abstands zu Mond und Sonne von Aristarch, der Almagest von Ptolemäus: ohne Mathematik wären diese Erkenntnisse schlicht und ergreifend nicht möglich gewesen. Und Goethe? Nun, das war seine Art sich darüber zu ärgern, dass er nicht mehr Mathematik gelernt hatte. Auch Dichter sind nur Menschen.
Dabei hatte die mathematische Methode der Naturforschung nicht
erst, aber besonders mit Newton schon ihren überwältigenden
Siegeszug angetreten. Mit mehr mathematischer Kompetenz hätte
Goethe das einsehen können.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Herr Hesse von Goethes Problemen mit Newton im Zusammenhang mit seiner Farbenlehre keine Ahnung hat. Sonst hätte er keinen solchen Bockmist geschrieben.
Insofern sehe ich Goethe mitverantwortlich für die bei uns immer noch
grassierende Geringschätzung mathematisch-quantitativer Kompetenz.
Goethe also. Ich fasse die Argumentationskette noch einmal zusammen:
1. Goethe hatte was gegen Mathematik
2. Heutige Schülerinnen haben auch was gegen Mathematik.
3. Also ist Goethe schuld.
Das wär eigentlich was für das Buch der Beweise, denn eleganter kann man kaum argumentieren.
In einer Welt, in der es mehr Zahlen als Worte gibt,
schreibt Herr Hesse, . . . egal. Aber den Vergleich mit der Neufassung in seinem jüngsten Kommentar gönnen wir uns:
Mittlerweile gibt es mehr Zahlen als Wörter auf der Welt.
Wie man sehen kann, muss ihm jemand in der Zwischenzeit den Unterschied zwischen Worten und Wörtern erklärt haben. Der Rest dagegen ist im wesentlichen derselbe Schmuh:
brauchen wir ein höheres Niveau quantitativer Bildung in unserer
Gesellschaft. Wir brauchen weiter verbreitete Fähigkeiten, um in
unserer überkomplexen Welt mit Zahlen, Funktionen, Daten,
Statistiken umzugehen, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, Chancen
und Risiken kompetent gegeneinander abzuwägen und fundierte
Entscheidungen daraus abzuleiten. Wir brauchen mehr Gauß und
weniger Goethe. Wir brauchen, etwas überpointiert auf den Punkt
gebracht, mehr Daten-Kompetenz und weniger Dativ-Kompetenz.
heißt es ein seinem ersten Kommentar, und
Wir brauchen deshalb dringend ein höheres Niveau an quantitativer
Bildung. Wir brauchen stärker ausgeprägte und weiter verbreitete
Fähigkeiten, mit Zahlen, Funktionen, Statistiken umzugehen,
Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, Daten zu analysieren, Chancen
und Risiken zu bewerten. Kurzum: Wir brauchen mehr
Mathematik-Sachverstand in der Gesellschaft. Leicht überspitzt:
Wir brauchen in den Schulen mehr Gauß und weniger Goethe. Wir
brauchen mehr Daten-Kompetenz und weniger Dativ-Kompetenz.
in seinem zweiten. Plagiatssoftware hätte darauf wohl angeschlagen. Schade allerdings, dass er in seinem zweiten Kommentar darauf verzichtet, die Dinge pointiert auf den Punkt zu bringen.
In Hesses erstem Beitrag geht die Märchenstunde noch weiter:
Für Barack Obama hat sein Team von Daten-Gurus 2012 die
Präsidentschaftswahl entschieden. Über jeden Wahlberechtigten
wurden mehr als 1000 Datenpunkte zusammengetragen - Geschlecht,
Alter, Wohngegend, Klubmitgliedschaften, Kreditkartenkäufe und
so weiter.
Das wäre dann in etwa so das größte Spionageereignis aller Zeiten, ein System, das nicht mal die Stasi im Osten derart perfektionieren konnte. Jetzt müssen wir Herrn Hesse nur noch glauben.
Die Datenanalytiker wussten in vielen Fällen schon, was jemand
wählen würde, noch bevor er es selber wusste.
Wie man Wahlen gewinnen kann, wenn man dieses Wahlverhalten nicht ändert und allem Anschein nach nicht einmal ändern will, bleibt Herrn Hesses Geheimnis. Übrigens hat big data nicht nur die Wahl Obamas entschieden, sondern auch die von Trump. Ganz zweifellos wird big data auch die Wahlen in in Frankreich und in Deutschland entschieden haben, wenn sie erst einmal gelaufen sind. Denn im Gegensatz zu den Instituten, die Wahlprognosen abliefern, irrt sich big data nie.
Weiter mit einem Märchen der schönen neuen Welt:
Bald schon werden die mit ihrem Know-how konstruierten
selbstfahrenden Fahrzeuge dafür sorgen, dass weniger Unfälle
im Straßenverkehr passieren, Staus der Vergangenheit angehören
und motorisierte Fortbewegung stressfreier wird.
Ganz zweifellos wird das so sein. Big Data bringt uns zurück ins Paradies und rückt Dinge zurecht, die eine Frau vor 6000 Jahren verbockt hat.
Mit der personalisierten Medizin werden sie im Gesundheitswesen
bald eine neue Ära einleiten, die das Arzt-Patient-Verhältnis
revolutionieren wird. Dann wird auf der Grundlage von riesigen
medizinisch-pharmakologischen Datenbergen für jeden Patienten
und dessen Daten-Profil aus zigtausend Laborwerten, genetischen
Risikofaktoren und Symptomen eine maßgeschneiderte Behandlung
vom Computer entworfen.
Vermutlich ist dies ein Segen für den Teil der Versicherten, die nicht wie Herr Hesse privat versichert sind und sich weiterhin auf kompetente Ärzte verlassen können. Wer diese Daten sammeln soll, verrät Herr Hesse auch nicht? Der Arzt? Der Arbeitgeber? Der Staat ihres Vertrauens?
Sonntag, 16. April 2017
Samstag, 8. April 2017
Hesse und der Deppenwolf
Was immer man von dem Brandbrief halten mag, es scheint eine Art Diskussion in Gang zu kommen, wenn man es so nennen möchte. Die jüngste Reaktion steht in der Sueddeutschen : Mehr Gauß, weniger Goethe.
Die Autoren fordern, dass man an "Deutschlands Schulen wieder zu einer an fachlichen
Inhalten orientierten Mathematikausbildung zurückkehren solle" und dass "symbolische,
formale und technische Elemente der Mathematik und abstrakte Inhalte wieder stärker
gewichtet werden,"
Was ist von diesen Forderungen zu halten? Nicht viel. Es handelt sich um seltsam
rückwärtsgewandte, altmodische Vorschläge, die den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts
nicht gerecht werden.
Das ist eine erstaunliche Einstellung. Warum das erstaunlich ist, möchte ich anhand eines Zitats von Laurent Lafforgue zeigen, dem man keinem Mathematiker vorstellen muss, weil er die Fieldsmedaille verliehen bekommen hat, also die höchste Auszeichnung, die die Mathematik zu vergeben hat. Lafforgue kämpft seit 2004 gegen das Totreformieren des französischen Bildungssystems, und zwar wie seine deutschen Kollegen erfolglos.
Meine Eltern, meine Geschwister und ich verdanken viel der Schule, einem Schulsystem,
das für eine sehr lange Zeit einen großen Wert besaß und das es uns erlaubt hat, eine
höhere Ausbildung zu erhalten. Meine Eltern waren beide die ersten in ihren Familien,
die lange studieren konnten. Wir sind zu einem großen Teil das Produkt eines Schulsystems,
das uns die Grundfertigkeiten beigebracht hat, bevor es uns Zugang zur Kultur und zu
immer feineren und komplexeren Kenntnissen verschafft hat.
Auch Christian Hesse, der Autor, der sich weniger Goethe wünscht, ist in Deutschland groß geworden und vermutlich auch hierzulande zur Schule gegangen, und zwar in den 1960er und 1970er Jahren. Er hat es auf eine Professur in Stochastik geschafft, und aus Dankbarkeit will er den Ast absägen, auf dem sein Elfenbeinbaumhaus gebaut ist.
Rückwärtsgewandt sind die Vorschläge, aber das ist, wenn man vor dem Abgrund steht, nicht per se schlecht. Altmodisch können sie nicht sein, denn vor 30 Jahren hat niemand gefordert, man möge den Studenten der Ingeneurswissenschaften auf der Schule bitteschön das Bruchrechnen beibringen. Und dass sie den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht werden, bleibt abzuwarten. Ich nehme nicht an, dass irgendjemand Herrn Hesse zum Sprecher des 21. Jahrhunderts gewählt hat.
Kompetenzorientierung bedeutet, dass realitätsnahe Fragen mit mathematischen Methoden
untersucht werden.
Ich weiß nicht, wo Herr Hesse diese Beschreibung der Kompetenzorientierung gelesen haben will. Vermutlich hat er sie erfunden, und ich kann ihm hiermit bescheinigen, dass er gar nicht weiß,. wovon er redet. Falls er sich nachbilden möchte, helfen für's Erste google und wikipedia..
Und was die realitätsnahen Fragen angeht, die den heutigen Unterricht überschwemmt haben, so habe ich auf diesen Seiten schon sehr viel dazu gesagt. Wenn Herr Hesse diese Aufgaben für realitätsnah hält, braucht er medizinische Hilfe. Meine Vermutung geht aber eher in die Richtung, dass er auch bei diesem Thema nicht weiß, wovon er redet.
Die Maßnahmen können als Schritt in die richtige Richtung gewertet werden, zeigt doch die
letztjährige PISA-Studie, dass sich Deutschland im internationalen Vergleich in den
vergangenen eineinhalb Jahrzehnten ordentlich verbessert hat.
Was PISA-Aufgaben mit Mathematikkenntnissen zu tun haben, bleibt zu klären. Wer die beiden Begriffe gleichsetzt wie Herr Hesse, hat nichts verstanden. Vielleicht hat er aber auch nur nicht gelesen, um wieviel Prozentpunkte die deutschen Leistungen beim Ankreuzen von multiple-choice-Fragen gestiegen sind, denn als Statistiker könnte er dann der Frage nachgehen, ob das überhaupt etwas zu bedeuten hat.
Das bedeutet aber nicht, dass diese Studienanfänger alle auch ein klassisches Abitur
besitzen. Bei nur der Hälfte dieser Erstsemester ist das noch der Fall. Die angesprochene
Mathematik-Malaise ist also nicht dem gymnasialen Unterricht anzulasten.
Wer bin ich, dass ich die Statistik eines Statistikprofessors anzweifeln könnte? Aber die Statistiken, die das Internet kennt, sprechen von einer Quote von über 97% aller Studienanfänger, die ein Abitur besitzen. Denkbar wäre, dass er mit klassischem Abitur nur ein Abitur meint, das man in den Räumen eines Gymnasiums geschrieben hat und nicht in denen eines beruflichen Gymnasiums. Vermutlich machen die Lehrer dort kein Bruchrechnen.
Mittlerweile gibt es mehr Zahlen als Wörter auf der Welt.
Man kommt aus dem Nachdenken darüber, was Herr Hesse meinen könnte, nicht mehr heraus. Jede Zahl kann man durch Worte ausdrücken, und tatsächlich gibt es für die allermeisten Zahlen Wörter in sehr vielen Sprachen. Das scheint er nicht zu meinen. Vielleicht, dass die Nullen und Einser in Computern eine größeres Datenvolumen ausmachen als die Bibliotheken dieser Welt zusammen? Oder was? Ich weiß es nicht.
Wir brauchen stärker ausgeprägte und weiter verbreitete Fähigkeiten, mit Zahlen,
Funktionen, Statistiken umzugehen, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, Daten
zu analysieren, Chancen und Risiken zu bewerten.
Nun gut. Wäre Herr Hesse Zahlentheoretiker, würde er das Hohelied der Kryptographie singen, und was liegt für einen Statistikprofessor näher als zu meinen, man müsse heute jedem Schüler beibringen, mit
Statistiken umzugehen, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, Daten zu analysieren, Chancen und Risiken zu bewerten? Wahrscheinlich nichts außer dem Hemd, das er anhat.
Nicht zuletzt müssen wir lernen, mit geringen Informationen und wenig Zeit gute
Entscheidungen zu treffen.
Ich nehme an, dass Herr Hesse wenig Zeit hat, und ich kann ihm bestätigen, dass er nur geringe Informationen über das deutsche Schulsystem besitzt. Ob die Entscheidung gut war, die ganze Welt wissen zu lassen, wie gering seine Kenntnisse des heutigen Schulsystems sind, mögen andere beurteilen. Mutig war sie allemal.
Der letzte Absatz ist etwas wirr. Wenn ich Herrn Hesse richtig verstehe, will er in der Oberstufe die Fächer abschaffen, um dann etwa in einem Projekt big data "substanzielle Beiträge aus Mathematik, Wirtschaft, Technik, Medizin, Ethik" an die Schüler zu vermitteln.
Durch diese Modularisierung wird für die weniger mathematik-affinen Schüler
das Fach an ihre Lebenswelt herangeführt.
Nun ja - alle Schüler, die bei drei nicht auf einem Baum sind, wenn der Lehrer "Projekt big data" ruft, werden dann im Ethikteil erfahren, wie google und facebook (und künftig die ganzen Programme, mit denen das sogenannte selbstgesteuerte Lernen von Schülern gesteuert werden wird) big data abgreifen und mit den von Herrn Hesse unterrichteten Methoden das Konsum- und Wahlverhalten ihrer Kunden steuern. An dieser Stelle eine Werbebreak: Weapons of Math Destruction. Amazon sammelt natürlich auch big data,
Abschließend der schönste Satz des ganzen Beitrags:
Es kann erwartet werden, dass diese Veränderungen die Lernmotivation vieler
Schüler gerade auch im Hinblick auf mathematische Lerninhalte steigern wird.
Sicher kann man das erwarten, schließlich stammt die Idee dazu von Herrn Hesse, der zweifellos weiß, wie man die Lernmotivation von Schülern im Hinblick auf mathematische Lerninhalte steigern kann. Ich möchte dem nur very small data entgegensetzen, nämlich zwei Wörter. Die lassen sich, Herr Hesse, auch mit ganz wenig Goethe lesen, und es kommt, sozusagen als Sahnehäubchen, nicht einmal ein Dativ vor.
Die Autoren fordern, dass man an "Deutschlands Schulen wieder zu einer an fachlichen
Inhalten orientierten Mathematikausbildung zurückkehren solle" und dass "symbolische,
formale und technische Elemente der Mathematik und abstrakte Inhalte wieder stärker
gewichtet werden,"
Was ist von diesen Forderungen zu halten? Nicht viel. Es handelt sich um seltsam
rückwärtsgewandte, altmodische Vorschläge, die den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts
nicht gerecht werden.
Das ist eine erstaunliche Einstellung. Warum das erstaunlich ist, möchte ich anhand eines Zitats von Laurent Lafforgue zeigen, dem man keinem Mathematiker vorstellen muss, weil er die Fieldsmedaille verliehen bekommen hat, also die höchste Auszeichnung, die die Mathematik zu vergeben hat. Lafforgue kämpft seit 2004 gegen das Totreformieren des französischen Bildungssystems, und zwar wie seine deutschen Kollegen erfolglos.
Meine Eltern, meine Geschwister und ich verdanken viel der Schule, einem Schulsystem,
das für eine sehr lange Zeit einen großen Wert besaß und das es uns erlaubt hat, eine
höhere Ausbildung zu erhalten. Meine Eltern waren beide die ersten in ihren Familien,
die lange studieren konnten. Wir sind zu einem großen Teil das Produkt eines Schulsystems,
das uns die Grundfertigkeiten beigebracht hat, bevor es uns Zugang zur Kultur und zu
immer feineren und komplexeren Kenntnissen verschafft hat.
Auch Christian Hesse, der Autor, der sich weniger Goethe wünscht, ist in Deutschland groß geworden und vermutlich auch hierzulande zur Schule gegangen, und zwar in den 1960er und 1970er Jahren. Er hat es auf eine Professur in Stochastik geschafft, und aus Dankbarkeit will er den Ast absägen, auf dem sein Elfenbeinbaumhaus gebaut ist.
Rückwärtsgewandt sind die Vorschläge, aber das ist, wenn man vor dem Abgrund steht, nicht per se schlecht. Altmodisch können sie nicht sein, denn vor 30 Jahren hat niemand gefordert, man möge den Studenten der Ingeneurswissenschaften auf der Schule bitteschön das Bruchrechnen beibringen. Und dass sie den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht werden, bleibt abzuwarten. Ich nehme nicht an, dass irgendjemand Herrn Hesse zum Sprecher des 21. Jahrhunderts gewählt hat.
Kompetenzorientierung bedeutet, dass realitätsnahe Fragen mit mathematischen Methoden
untersucht werden.
Ich weiß nicht, wo Herr Hesse diese Beschreibung der Kompetenzorientierung gelesen haben will. Vermutlich hat er sie erfunden, und ich kann ihm hiermit bescheinigen, dass er gar nicht weiß,. wovon er redet. Falls er sich nachbilden möchte, helfen für's Erste google und wikipedia..
Und was die realitätsnahen Fragen angeht, die den heutigen Unterricht überschwemmt haben, so habe ich auf diesen Seiten schon sehr viel dazu gesagt. Wenn Herr Hesse diese Aufgaben für realitätsnah hält, braucht er medizinische Hilfe. Meine Vermutung geht aber eher in die Richtung, dass er auch bei diesem Thema nicht weiß, wovon er redet.
Die Maßnahmen können als Schritt in die richtige Richtung gewertet werden, zeigt doch die
letztjährige PISA-Studie, dass sich Deutschland im internationalen Vergleich in den
vergangenen eineinhalb Jahrzehnten ordentlich verbessert hat.
Was PISA-Aufgaben mit Mathematikkenntnissen zu tun haben, bleibt zu klären. Wer die beiden Begriffe gleichsetzt wie Herr Hesse, hat nichts verstanden. Vielleicht hat er aber auch nur nicht gelesen, um wieviel Prozentpunkte die deutschen Leistungen beim Ankreuzen von multiple-choice-Fragen gestiegen sind, denn als Statistiker könnte er dann der Frage nachgehen, ob das überhaupt etwas zu bedeuten hat.
Das bedeutet aber nicht, dass diese Studienanfänger alle auch ein klassisches Abitur
besitzen. Bei nur der Hälfte dieser Erstsemester ist das noch der Fall. Die angesprochene
Mathematik-Malaise ist also nicht dem gymnasialen Unterricht anzulasten.
Wer bin ich, dass ich die Statistik eines Statistikprofessors anzweifeln könnte? Aber die Statistiken, die das Internet kennt, sprechen von einer Quote von über 97% aller Studienanfänger, die ein Abitur besitzen. Denkbar wäre, dass er mit klassischem Abitur nur ein Abitur meint, das man in den Räumen eines Gymnasiums geschrieben hat und nicht in denen eines beruflichen Gymnasiums. Vermutlich machen die Lehrer dort kein Bruchrechnen.
Mittlerweile gibt es mehr Zahlen als Wörter auf der Welt.
Man kommt aus dem Nachdenken darüber, was Herr Hesse meinen könnte, nicht mehr heraus. Jede Zahl kann man durch Worte ausdrücken, und tatsächlich gibt es für die allermeisten Zahlen Wörter in sehr vielen Sprachen. Das scheint er nicht zu meinen. Vielleicht, dass die Nullen und Einser in Computern eine größeres Datenvolumen ausmachen als die Bibliotheken dieser Welt zusammen? Oder was? Ich weiß es nicht.
Wir brauchen stärker ausgeprägte und weiter verbreitete Fähigkeiten, mit Zahlen,
Funktionen, Statistiken umzugehen, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, Daten
zu analysieren, Chancen und Risiken zu bewerten.
Nun gut. Wäre Herr Hesse Zahlentheoretiker, würde er das Hohelied der Kryptographie singen, und was liegt für einen Statistikprofessor näher als zu meinen, man müsse heute jedem Schüler beibringen, mit
Statistiken umzugehen, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, Daten zu analysieren, Chancen und Risiken zu bewerten? Wahrscheinlich nichts außer dem Hemd, das er anhat.
Nicht zuletzt müssen wir lernen, mit geringen Informationen und wenig Zeit gute
Entscheidungen zu treffen.
Ich nehme an, dass Herr Hesse wenig Zeit hat, und ich kann ihm bestätigen, dass er nur geringe Informationen über das deutsche Schulsystem besitzt. Ob die Entscheidung gut war, die ganze Welt wissen zu lassen, wie gering seine Kenntnisse des heutigen Schulsystems sind, mögen andere beurteilen. Mutig war sie allemal.
Der letzte Absatz ist etwas wirr. Wenn ich Herrn Hesse richtig verstehe, will er in der Oberstufe die Fächer abschaffen, um dann etwa in einem Projekt big data "substanzielle Beiträge aus Mathematik, Wirtschaft, Technik, Medizin, Ethik" an die Schüler zu vermitteln.
Durch diese Modularisierung wird für die weniger mathematik-affinen Schüler
das Fach an ihre Lebenswelt herangeführt.
Nun ja - alle Schüler, die bei drei nicht auf einem Baum sind, wenn der Lehrer "Projekt big data" ruft, werden dann im Ethikteil erfahren, wie google und facebook (und künftig die ganzen Programme, mit denen das sogenannte selbstgesteuerte Lernen von Schülern gesteuert werden wird) big data abgreifen und mit den von Herrn Hesse unterrichteten Methoden das Konsum- und Wahlverhalten ihrer Kunden steuern. An dieser Stelle eine Werbebreak: Weapons of Math Destruction. Amazon sammelt natürlich auch big data,
Abschließend der schönste Satz des ganzen Beitrags:
Es kann erwartet werden, dass diese Veränderungen die Lernmotivation vieler
Schüler gerade auch im Hinblick auf mathematische Lerninhalte steigern wird.
Sicher kann man das erwarten, schließlich stammt die Idee dazu von Herrn Hesse, der zweifellos weiß, wie man die Lernmotivation von Schülern im Hinblick auf mathematische Lerninhalte steigern kann. Ich möchte dem nur very small data entgegensetzen, nämlich zwei Wörter. Die lassen sich, Herr Hesse, auch mit ganz wenig Goethe lesen, und es kommt, sozusagen als Sahnehäubchen, nicht einmal ein Dativ vor.
Schuster . Leisten .
Montag, 3. April 2017
Eisenmann (homo sapiens sapiens, CDU CDU)
Wie die Welt berichtet, hat sich Frau Eisenmann (CDU), Bildungsministerin in BaWü und 2017 Vorsitzende der Kultusministerkonferenz KMK, zum Brandbrief geäußert. In diesem Brandbrief beklagten 130 Lehrer und Hochschuldozenten die mangelhaften Kenntnisse der Abiturienten vor allem, was den Stoff der Unter- und Mittelstufe angeht, einschließlich Bruch- und Prozentrechnen. Dazu bemerkt Frau Eisenmann (CDU):
Ziel des Abiturs ist die Hochschulreife - und nicht das Niveau zum Ende eines
Mathe-Studiums. Es ist eine Frage des Anspruchs.
Da stellt sich die Frage, ob Frau Eisenmann (CDU) in einem Paralleluniversum lebt oder ich. Inhalt des Briefs war es doch, dass Abiturienten alles mögliche haben, nur nicht eine allgemeine Hochschulreife.
Will Frau Eisenmann (CDU) sagen, dass Bruch- und Prozentrechnen das Niveau beschriebt, das Studenten erst am Ende eines Mathe-Studiums an baden-württembergischen Universitäten besitzen? Das ist schwer vorstellbar. Hat Frau Eisenmann (CDU) also den Brief nicht ganz verstanden? War der Text zu lang für eine promovierte Germanistin? Ist das Lesen eines zweiseitigen Briefs eine Kompetenz, die erst am Ende der Habilitation vorausgesetzt werden kann? Oder hat die CDU in BW eine Ministerin nominiert, die ihrem Amt nicht einmal ansatzweise gewachsen ist? Ich weiß gar nicht, ob ich die Antwort hören will.
In diese erfahrenen Didaktiker haben wir großes Vertrauen.
Zu den von Frau Eisenmann (CDU) gelobten Experten gehört Frau Prof. Reiss. Diese wiederum hat betont, ein Abitur berechtige zwar zu einem Studium, sorge aber nicht für die dazu notwendigen Kenntnisse. Frau Eisenmann (CDU) widerspricht also nebenher den Experten, die sie zitiert. Wieso sie Vertrauen in Personen hat, denen sie fundamental widerspricht, weiß ich nicht. Und ich weiß nicht, ob ich es wissen will.
Dass BaWü im letzten VERA-Test zu den Schlusslichtern gehörte, hat Frau Eisenmann (CDU) im Gespräch mit der GKP zu der Bemerkung veranlasst,
Wir haben das so nicht kommen sehen. Für die Experten kam das Ergebnis aber
nicht überraschend.
Wir Mathematiker schließen aus einem solchen Satz, dass das Bildungsministerium in BaWü keine Experten besitzt, denn sonst hätten die das ja kommen sehen müssen. Einsicht ist normalerweise der erste Schritt zur Besserung, aber im vorliegenden Fall ist die Sache hoffnungslos.
Nun, ein Gutes hat die Sache. Wenn ich mich über den Zustand des Schulsystems in BaWü 2017 beklage, fragt man mich immer, ob die Grünen daran Schuld seien, und ich antworte in der Regel, dass das Frau Schavan (CDU) im Jahre 2004 verbrochen hat. Man glaubt mir allerdings nicht. Künftig werde ich dann nur noch Frau Eisenmann (CDU) sagen müssen, um mein Gegenüber von der absoluten Ahnungslosigkeit der baden-württembergischen CDU in Sachen Bildung zu überzeugen. Wie es aussieht, laufen alle Parteien (SPD, CDU, Grüne, FDP) den Scharlatanen aus der Didaktik hinterher, die nur mit PISA-Punkten zu winken brauchen, um diese Esel hinzuführen, wohin sie wollen. Und was das bedeutet, will ich ganz bestimmt nicht wissen.
Ziel des Abiturs ist die Hochschulreife - und nicht das Niveau zum Ende eines
Mathe-Studiums. Es ist eine Frage des Anspruchs.
Da stellt sich die Frage, ob Frau Eisenmann (CDU) in einem Paralleluniversum lebt oder ich. Inhalt des Briefs war es doch, dass Abiturienten alles mögliche haben, nur nicht eine allgemeine Hochschulreife.
Will Frau Eisenmann (CDU) sagen, dass Bruch- und Prozentrechnen das Niveau beschriebt, das Studenten erst am Ende eines Mathe-Studiums an baden-württembergischen Universitäten besitzen? Das ist schwer vorstellbar. Hat Frau Eisenmann (CDU) also den Brief nicht ganz verstanden? War der Text zu lang für eine promovierte Germanistin? Ist das Lesen eines zweiseitigen Briefs eine Kompetenz, die erst am Ende der Habilitation vorausgesetzt werden kann? Oder hat die CDU in BW eine Ministerin nominiert, die ihrem Amt nicht einmal ansatzweise gewachsen ist? Ich weiß gar nicht, ob ich die Antwort hören will.
In diese erfahrenen Didaktiker haben wir großes Vertrauen.
Zu den von Frau Eisenmann (CDU) gelobten Experten gehört Frau Prof. Reiss. Diese wiederum hat betont, ein Abitur berechtige zwar zu einem Studium, sorge aber nicht für die dazu notwendigen Kenntnisse. Frau Eisenmann (CDU) widerspricht also nebenher den Experten, die sie zitiert. Wieso sie Vertrauen in Personen hat, denen sie fundamental widerspricht, weiß ich nicht. Und ich weiß nicht, ob ich es wissen will.
Dass BaWü im letzten VERA-Test zu den Schlusslichtern gehörte, hat Frau Eisenmann (CDU) im Gespräch mit der GKP zu der Bemerkung veranlasst,
Wir haben das so nicht kommen sehen. Für die Experten kam das Ergebnis aber
nicht überraschend.
Wir Mathematiker schließen aus einem solchen Satz, dass das Bildungsministerium in BaWü keine Experten besitzt, denn sonst hätten die das ja kommen sehen müssen. Einsicht ist normalerweise der erste Schritt zur Besserung, aber im vorliegenden Fall ist die Sache hoffnungslos.
Nun, ein Gutes hat die Sache. Wenn ich mich über den Zustand des Schulsystems in BaWü 2017 beklage, fragt man mich immer, ob die Grünen daran Schuld seien, und ich antworte in der Regel, dass das Frau Schavan (CDU) im Jahre 2004 verbrochen hat. Man glaubt mir allerdings nicht. Künftig werde ich dann nur noch Frau Eisenmann (CDU) sagen müssen, um mein Gegenüber von der absoluten Ahnungslosigkeit der baden-württembergischen CDU in Sachen Bildung zu überzeugen. Wie es aussieht, laufen alle Parteien (SPD, CDU, Grüne, FDP) den Scharlatanen aus der Didaktik hinterher, die nur mit PISA-Punkten zu winken brauchen, um diese Esel hinzuführen, wohin sie wollen. Und was das bedeutet, will ich ganz bestimmt nicht wissen.