Samstag, 8. April 2017

Hesse und der Deppenwolf

Was immer man von dem Brandbrief halten mag, es scheint eine Art Diskussion in Gang zu kommen, wenn man es so nennen möchte. Die jüngste Reaktion steht in der Sueddeutschen : Mehr Gauß, weniger Goethe.

      Die Autoren fordern, dass man an "Deutschlands Schulen wieder zu einer an fachlichen
      Inhalten orientierten Mathematikausbildung zurückkehren solle" und dass "symbolische,
      formale und technische Elemente der Mathematik und abstrakte Inhalte wieder stärker
      gewichtet werden,"

       Was ist von diesen Forderungen zu halten? Nicht viel. Es handelt sich um seltsam
       rückwärtsgewandte, altmodische Vorschläge, die den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts
       nicht gerecht werden.

Das ist eine erstaunliche Einstellung. Warum das erstaunlich ist, möchte ich anhand eines Zitats von Laurent Lafforgue zeigen, dem man keinem Mathematiker vorstellen muss, weil er die Fieldsmedaille verliehen bekommen hat, also die höchste Auszeichnung, die die Mathematik zu vergeben hat. Lafforgue kämpft seit 2004 gegen das Totreformieren des französischen Bildungssystems, und zwar wie seine deutschen Kollegen erfolglos.

     Meine Eltern, meine Geschwister und ich verdanken viel der Schule, einem Schulsystem, 
     das  für eine sehr lange Zeit einen großen Wert besaß und das es uns erlaubt hat, eine 
     höhere Ausbildung zu erhalten. Meine Eltern waren beide die ersten in ihren Familien, 
     die lange studieren konnten. Wir sind zu einem großen Teil das Produkt eines Schulsystems, 
     das uns die Grundfertigkeiten beigebracht hat, bevor es uns Zugang zur Kultur und zu
     immer feineren und komplexeren Kenntnissen verschafft hat. 

Auch Christian Hesse, der Autor, der sich weniger Goethe wünscht, ist in Deutschland groß geworden und vermutlich auch hierzulande zur Schule gegangen, und zwar in den 1960er und 1970er Jahren. Er hat es auf eine Professur in Stochastik geschafft, und aus Dankbarkeit will er den Ast absägen, auf dem sein Elfenbeinbaumhaus gebaut ist.

Rückwärtsgewandt sind die Vorschläge, aber das ist, wenn man vor dem Abgrund steht, nicht per se schlecht. Altmodisch können sie nicht sein, denn vor 30 Jahren hat niemand gefordert, man möge den Studenten der Ingeneurswissenschaften auf der Schule bitteschön das Bruchrechnen beibringen. Und dass sie den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht werden, bleibt abzuwarten. Ich nehme nicht an, dass irgendjemand Herrn Hesse zum Sprecher des 21. Jahrhunderts gewählt hat.

      Kompetenzorientierung bedeutet, dass realitätsnahe Fragen mit mathematischen Methoden 
      untersucht werden.

Ich weiß nicht, wo Herr Hesse diese Beschreibung der Kompetenzorientierung gelesen haben will. Vermutlich hat er sie erfunden, und ich kann ihm hiermit bescheinigen, dass er gar nicht weiß,. wovon er redet. Falls er sich nachbilden möchte, helfen für's Erste google und wikipedia..

Und was die realitätsnahen Fragen angeht, die den heutigen Unterricht überschwemmt haben, so habe ich auf diesen Seiten schon sehr viel dazu gesagt. Wenn Herr Hesse diese Aufgaben für realitätsnah hält, braucht er medizinische Hilfe. Meine Vermutung geht aber eher in die Richtung, dass er auch bei diesem Thema  nicht weiß, wovon er redet.

      Die Maßnahmen können als Schritt in die richtige Richtung gewertet werden, zeigt doch die 
      letztjährige PISA-Studie, dass sich Deutschland im internationalen Vergleich in den 
     vergangenen  eineinhalb Jahrzehnten ordentlich verbessert hat.

Was PISA-Aufgaben mit Mathematikkenntnissen zu tun haben, bleibt zu klären. Wer die beiden Begriffe gleichsetzt wie Herr Hesse, hat nichts verstanden. Vielleicht hat er aber auch nur nicht gelesen, um wieviel Prozentpunkte die deutschen Leistungen beim Ankreuzen von multiple-choice-Fragen gestiegen sind, denn als Statistiker könnte er dann der Frage nachgehen, ob das überhaupt etwas zu bedeuten hat.

        Das bedeutet aber nicht, dass diese Studienanfänger alle auch ein klassisches Abitur
        besitzen. Bei nur der Hälfte dieser Erstsemester ist das noch der Fall. Die angesprochene
        Mathematik-Malaise ist also nicht dem gymnasialen Unterricht anzulasten.

 Wer bin ich, dass ich die Statistik eines Statistikprofessors anzweifeln könnte? Aber die Statistiken, die das Internet kennt, sprechen von einer Quote von über 97% aller Studienanfänger, die ein Abitur besitzen.   Denkbar wäre, dass er mit klassischem Abitur nur ein Abitur meint, das man in den Räumen eines Gymnasiums geschrieben hat und nicht in denen eines beruflichen Gymnasiums. Vermutlich machen die Lehrer dort kein Bruchrechnen.

         Mittlerweile gibt es mehr Zahlen als Wörter auf der Welt.

Man kommt aus dem Nachdenken darüber, was Herr Hesse meinen könnte, nicht mehr heraus. Jede Zahl kann man durch Worte ausdrücken, und tatsächlich gibt es für die allermeisten Zahlen Wörter in sehr vielen Sprachen. Das scheint er nicht zu meinen. Vielleicht, dass die Nullen und Einser in Computern eine größeres Datenvolumen ausmachen als die Bibliotheken dieser Welt zusammen? Oder was? Ich weiß es nicht.

     Wir brauchen stärker ausgeprägte und weiter verbreitete Fähigkeiten, mit Zahlen, 
     Funktionen, Statistiken umzugehen, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, Daten
     zu analysieren, Chancen und Risiken zu bewerten.

Nun gut. Wäre Herr Hesse Zahlentheoretiker, würde er das Hohelied der Kryptographie singen, und was liegt für einen Statistikprofessor näher als zu meinen, man müsse heute jedem Schüler beibringen, mit
Statistiken umzugehen, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, Daten zu analysieren, Chancen und Risiken zu bewerten? Wahrscheinlich nichts außer dem Hemd, das er anhat.

        Nicht zuletzt müssen wir lernen, mit geringen Informationen und wenig Zeit gute
        Entscheidungen zu treffen.

Ich nehme an, dass Herr Hesse wenig Zeit hat, und ich kann ihm bestätigen, dass er nur geringe Informationen über das deutsche Schulsystem besitzt. Ob die Entscheidung gut war, die ganze Welt wissen zu lassen, wie gering seine Kenntnisse des heutigen Schulsystems sind, mögen andere beurteilen. Mutig war sie allemal.

Der letzte Absatz ist etwas wirr. Wenn ich Herrn Hesse richtig verstehe, will er in der Oberstufe die Fächer abschaffen, um dann etwa in einem Projekt big data "substanzielle Beiträge aus Mathematik, Wirtschaft, Technik, Medizin, Ethik" an die Schüler zu vermitteln.

      Durch diese Modularisierung wird für die weniger mathematik-affinen Schüler 
      das Fach an ihre Lebenswelt herangeführt.

Nun ja - alle Schüler, die bei drei nicht auf einem Baum sind, wenn der Lehrer "Projekt big data" ruft, werden dann im Ethikteil erfahren, wie google und facebook (und künftig die ganzen Programme, mit denen das sogenannte selbstgesteuerte Lernen von Schülern gesteuert werden wird) big data abgreifen und mit den von Herrn Hesse unterrichteten Methoden das Konsum- und Wahlverhalten ihrer Kunden steuern. An dieser Stelle eine Werbebreak: Weapons of Math Destruction. Amazon sammelt natürlich auch big data,

Abschließend der schönste Satz des ganzen Beitrags:

      Es kann erwartet werden, dass diese Veränderungen die Lernmotivation vieler
      Schüler gerade auch im Hinblick auf mathematische Lerninhalte steigern wird.

Sicher kann man das erwarten, schließlich stammt die Idee dazu von Herrn Hesse, der zweifellos weiß, wie man die Lernmotivation von Schülern im Hinblick auf mathematische Lerninhalte steigern kann. Ich möchte dem nur very small data entgegensetzen, nämlich zwei Wörter. Die lassen sich, Herr Hesse, auch mit ganz wenig Goethe lesen, und es kommt, sozusagen als Sahnehäubchen, nicht einmal ein Dativ vor.

    Schuster . Leisten .



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