Mittwoch, 22. Januar 2020

Deutschland bildet sich fort

Lehrerfortbildung, da sind sich alle Didaktiker einig, ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Bildungspolitik. Denn bei Lehrerfortbildungen sitzen wir Lehrer an der Quelle des Wissens über die heutige Schule, nämlich bei Didaktikern und Bildungsforschern an Bildungsforschungsinstituten, die uns erklären können, was heute an Schulen los ist und wie guter Unterricht geht.

Heute morgen kam wieder mal eine Email, die mich auf eine solche Fortbildung hinweisen wollte. Normalerweise werden solche Mails, das gebe ich zu, ungelesen gelöscht, und wenn ich einen schlechten Tag habe, leite ich sie an Kollegen weiter. Die heutige Mail war allerdings so schlecht, dass ich sie mir ganz durchgelesen habe.

Inhaltlich war die Mail von einer Webseite des RP kopiert. Gerichtet war sie an Lehrer/innen, genauer an Lehrkräfte allgemein bildender Gymnasien. Gymnasien sind ja allgemein bildend, das heißt im Großen und Ganzen bilden sie. Früher, als man im RP noch Deutsch gesprochen hat, waren sie allgemeinbildend: dies ist das Adjektiv zu Allgemeinbildung, und eine allgemeinbildende Schule war eine, die ihren Schüler etwas Allgemeinbildung vermitteln sollte. Was die deutsche Sprache etwa von der englischen unterscheidet, ist die schier unbegrenzte Möglichkeit, durch Zusammensetzung neue Wörter zu bilden. Kindergarten, Zeitgeist, oder eben auch Allgemeinbildung. Kinder Garten ist dagegen eine sinnfreie Nebeneinanderreihung zweier Wörter, ähnlich wie allgemein bildend. Im Englischen geht das: statt Steinzeit sagt man dort stone age. Im Deutschen geht das nicht, da setzt man die Wörter zusammen. Jeder Zahlentheoretiker, der etwas auf sich hält, versucht, einmal in seinem Leben eine Arbeit (in Englisch) zu schreiben, in dem das Wort Führerdiskriminantenproduktformel vorkommt.

Zurück zur "fort Bildung". Worum geht es?

´    Die Teilnehmenden
        - erlangen fachbezogene und fachübergreifende Kompetenzen 
           zu dem Themenkomplex "Modellierung und Simulation"

Die "Teilnehmenden" ist neudeutsch für die Teilnehmer. Weder das eine, noch das andere Wort legt das Geschlecht der Teilnehmer fest, aber wenn man "Teilnehmende" sagt, lässt man durchblicken, dass das Geschlecht des Teilnehmenden so wichtig ist, dass das Geschlecht des Wortes geschlechtsneutral versteckt wird. Der zweite Teil ist Kompetenzsprech. Die Behauptung, dass die Teilnehmer bei der Fortbildung irgendetwas erlangen ist eben das: eine Behauptung. Sie wird nicht wahrer dadurch, dass man mögliche Zugewinne an Wissen oder Kompetenzen sprachlich in sichere Zugewinne verwandelt. Aber die Kompetenzmafia kann normale deutsche Sätze nicht einmal mehr denken, geschweige denn schreiben. Immerhin: wenn ich einen solchen Satz gelesen habe, habe ich meinen Erkenntnisgewinn schon hinter mir: von solchen Leuten kann ich nichts lernen, jedenfalls nichts, was ich lernen möchte. Und in meinem Alter darf ich mir aussuchen, was ich lernen will.

    - verfügen über fundierte theoretische Grundlagen, reichhaltiges 
       editierbares Material und ein LS-Heft zur Verfügung;

Ungefähr so würden sich vor 40 Jahren meine Sätze angehört haben, wenn ich sie in Latein oder Altgriechisch formuliert hätte. Zum Glück mussten wir damals nur ins Deutsche übersetzen, und Deutsch konnten damals selbst schwäbische Gymnasiasten. Wenn wir die Grammatik mal beiseite lassen, bleibt immer noch die Frage, was der Satz uns hätte sagen wollen. Verfügen die Teilnehmenden über fundierte theoretische Grundlagen, wenn sie hinkommen, oder bekommen sie die dort? Und Grundlagen wovon? Was ist editierbares Material? Und nicht einmal google weiß, was ein LS-Heft ist.

Offenbar hat da jemand oder jefraud eine Seite verfasst, der oder die den Kampf gegen die Widrigkeiten der deutschen Sprache schon verloren hat. Gegengelesen hat es ebenso offenbar niemand. Die Mail selbst hat Andreas Erb vom Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung weitergeleitet, der mit diesem Geschwurbel offenbar keinerlei Probleme hat.

Die andere Möglichkeit ist, dass sich die deutsche Sprache an mir vorbeientwickelt hat. Das ist durchaus denkbar, allerdings würde ich dann eher nicht von Entwicklung reden wollen. Ebensowenig wie ich bei ZSL vom Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung reden möchte.

P.S. Ministerpräsident Kretschmann hat erkannt, dass Grammatik und Rechtschreibung nicht die wirklich großen Probleme der heutigen Bildungspolitik sind, weil es "kluge Geräte" gebe, welche "Grammatik und Fehler" korrigieren würden. Jetzt müsste man die im RP nur noch benutzen. Natürlich hat der Herr Brügelmann, dem ich inzwischen wirklich Pest und Cholera an den Hals wünsche, ihm in diesem Punkt beigepflichtet.

Auch die Zusammenfassung des Interviews rechts neben dem Bild ist beachtenswert:
 
     Geht es nach Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried 
     Kretschmann, sollte die Gesellschaft wieder mehr Wert auf 
     Rechtschreibung legen.

Offenbar gibt es noch keine klugen Geräte, die den Journalisten das Lesen abnehmen. Oder sie werden nicht benutzt.

2 Kommentare:

  1. Nachdem ich ein wenig auf der Seite des Vereins für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V. herumgestöbert habe, stellt sich mir die Frage: Wie entstanden eigentlich anfänglich Mathematik-Lehrpläne und zugehörige Aufgabenkataloge? Bottom-Up, Top-Down oder in eine Mischform? Was war anders im Vergleich zu der heutigen Vorgehensweise?

    http://www.vrs-ev.de/index.php
    Insbesondere http://www.vrs-ev.de/KritKomm.pdf

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    1. Ein sehr schönes Dokument - leider vertraut man hierzulande irgendwie immer den falschen.
      Mathematiklehrpläne wurden früher von erfahrenen Lehrern und Hochschullehrern entworfen; anders ging es ja nicht, weil man damals weder Didaktik noch Bildungsforschung kannte. Die erste Reform, die man gegen Lehrer und Hochschullehrer durchboxte, war die Einführung der Mengenlehre. Seither ist alles in der Hand der Didaktiker und Erziehungswissenschaftler - selbst das Schreiben der Lehrbücher.

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