Mittwoch, 29. April 2020

Didaktik der Analysis II

Noch einmal zurück zu Greefraths Didaktik der Analysis. Ich habe mir inzwischen Artins "Freshman Honors Course in Calculus and Analytic Geometry" besorgt, das deutsche Didaktiker so gerne zitieren (die meisten Treffer, wenn man nach pdfs googelt, in denen das Buch zitiert wird, gehen tatsächlich auf Kosten der deutschen Didaktiker) und  damit das Geschwurbel rechtfertigen wollen, mit dem sie die neuen Lehrbücher in Mathematik angefüllt haben. Artins Buch ist, das wird niemanden überraschen, ein Juwel: auf 70 Seiten präsentiert er meisterhaft den Inhalt einer Anfängervorlesung in Analysis. Schade, dass kaum jemand das Buch kennt.

Was den "propädeutischen Grenzwertbegriff" angeht, den Greefrath an Artin festmachen will, so ist zu sagen, dass Artin den Begriff der Steigung anschaulich erklärt und dann feststellt:

      Wir haben also den undefinierten geometrischen Begriff der Steigung 
     durch den undefinierten numerischen Begriff des Annäherns ersetzt. 
      Eine genaue Definition was mit "nähert sich an" gemeint ist wird später
      im Kurs gegeben werde, wenn Erfahrung Dich dafür bereit gemacht hat.

Auch an allen andern Stellen, an denen er den Beweis auf später verschiebt, klärt Artin seine mündigen Zuhörer auf, dass an dieser Stelle etwas fehlt, dass dies später nachgeholt wird, und erklärt, warum er das macht. Artin als Kronzeuge für eine Schulanalysis zu betrachten, in der alles in der Luft hängt (wo also nicht nur Grenzwerte, sondern auch Extrempunkte, Wendepunkte, Vorzeichenwechsel, Stetigkeit oder Monotonie nicht definiert werden), ist Rufmord. Allein dafür müsste man die moderne deutsche Mathematikdidaktik teeren und federn.

Heute schauen wir uns den Abschnitt 5.3.1 in Greefraths Buch an, das mit "Produktsummenaspekt" überschrieben ist. Mathematiker, die noch nie etwas von Produktsummen gehört haben, können hier etwas dazulernen:

       Unter einer Produktsumme versteht man einen Ausdruck des Typs
                           a1 · b1 + a2 · b2 + · · · + an · bn.
    Definition und Berechnung des Riemann-Integrals können mithilfe
    von Produktsummen erfolgen.

Hier kann man wieder sehen, dass Didaktiker keine Mathematiker sind. Letztere hätten sicherlich
     a1b1 + a2b2 + · · · + anbn oder Σ  ajbj
geschrieben.  Ich zähle inzwischen nicht mehr mit, wie oft mich meine Schülerinnen darauf hinweisen, ich hätte bei 2(3+4) einen Malpunkt vergessen. Ich habe auch noch keine Abituraufgabe gesehen, in der eine Funktion f(t) = 2e-t vorgekommen wäre: Es heißt immer f(t) = 2 · e-t. Dagegen scheint f(x) = 2x keinen Malpunkt zu verlangen. Außer man fasst 2x als Produktsumme auf.

Zurück zum Thema: Ist die Definition da oben eine Definition? Natürlich ist sie das nicht, weil gar nicht gesagt wird, was die aj und bj sein sollen. Ist 2 · Äpfel + 3 · Birnen eine Produktsumme? Ich weiß es nicht. Tun wir also mal so, als wären die aj und bj reelle Zahlen. Ist dann 1 eine Produktsumme? Eigentlich nicht, denn sonst wäre jede reelle Zahl eine Produktsumme und jede Produktsumme eine reelle Zahl, und man könnte sich die Bezeichnung locker sparen.

Warum muss man einem Ausdruck wie 2·3 + 3·4 eigentlich einen Namen geben? Das ist absolut nicht notwendig, auch nicht im Zusammenhang mit Riemannintegralen. Man hat hier aus einer Trivialität eine Schwierigkeit gemacht, mit der selbst gestandene Mathematiker Probleme haben.

Allerdings soll der Begriff ja einen Mehrwert haben:

      Die Betrachtung der Produktsummen ermöglicht zwei Interpretationen des
     Integrals im Rahmen dieses Aspekts. Da in den Produktsummen sowohl
     Summationen als auch Multiplikationen auftreten, kann jeweils die eine oder die 
      andere Operation betont werden. Die erste Interpretation ist die der verallgemeinerten 
      Summe, die im Rahmen der Kumulationsvorstellung diskutiert wird.

Ich verstehe kein Wort. Die Kumulationsvorstellung, so erfährt man auf S. 254, ist die näherungsweise Berechnung eines Integrals durch Riemannsummen:

         Ein Beispiel zur Förderung der Kumulationsvorstellung ist die Verallgemeinerung 
        der folgenden Definition der physikalischen Arbeit, die zunächst als Skalarprodukt 
       von Kraft- und Wegvektor aufgefasst werden kann: W = F · s
        Ist die Kraft allerdings wegabhängig, so kann für die näherungsweise Berechnung 
        dieses Skalarprodukts die Kraft längs kleiner Wegstücke als konstant
      angenommen und summiert werden.

     Das Integral wird im Sinne der Kumulationsvorstellung also als Produktsumme 
      aufgefasst, in der viele Teilprodukte gesammelt bzw. angehäuft sind. Diese Sicht auf 
      die Summation betont eher den Prozess und nicht das Ergebnis des Integrierens.

Beim Integrieren wird allerdings nicht summiert, weil Integrale Grenzwerte sind. Diese sind aber keine Produktsummen mehr, außer man fasst 1 · ∫ f(t) dt als Produktsumme auf. Dann ist es zwar eine Produktsumme, hat aber nichts mehr mit dem Prozess des Integrierens zu tun.

Das ganze hat natürlich mit Arbeit nichts zu tun und geht genauso mit Flächeninhalten: Das Integral ∫0a b  dx  beschreibt die Fläche eines Rechtecks, und die ist ein Produkt, nämlich F = a · b. Ist b dagegen nicht konstant, muss man unterteilen und aufsummieren. Integrale sind also, das haben wir jetzt gelernt, verallgemeinerte Produkte. Das kann man ruhig wiederholen, weil es ist wichtig:

      Die Integration kann also als verallgemeinerte Summation und Integrale können 
      als verallgemeinerte (Größen-)Produkte beschrieben werden.

Bestenfalls ist das Gerede über Integrale, Produktsummen und verallgemeinerte Produkte inhaltsleeres Gefasel, aus dem man nichts, aber auch gar nichts lernen kann.



3 Kommentare:

  1. Hin und wieder mache ich mich über "Laberfächer" lustig, wohlwissend, dass die Schulmathematik auf dem besten Weg ist, eines zu werden. Zum Beweis wollte ich gerade mal im Schulbuch "Mathematik. Gymnasiale Oberstufe. Nordrhein-Westfalen. Einführungsphase" von Bigalke/Köhler nach "inhaltsleerem Gefasel" und "Geschwurbel" suchen.

    Statt "Geschwurbel" bin ich gleich auf der ersten zufällig aufgeschlagenen Seite auf einen fachlichen Fehler gestoßen. Auf Seite 39 heißt es:

    "Der Graph einer beliebigen quadratischen Funktion f(x)=ax^2 + bx + c [ohne Malpunkt! NRW-Schüler verstehen das!] ist stets eine Parabel, die aus der Normalparabel durch Verschiebung und Streckung hervorgeht. Daher besitzt f höchstens zwei Nullstellen (Schnittstellen mit der x-Achse)."

    Da ich mathematisch noch nicht völlig abgestumpft bin, habe ich mich kritisch gefragt, wie eine nach unten geöffnete Parabel, zum Beispiel y=-x^2, aus der Normalparabel lediglich durch Verschiebung und/oder Streckung hervorgehen kann. Das wäre ja nur möglich, wenn man -- ungewöhnlicherweise -- unter Streckung auch eine Spiegelung an der x-Achse verstehen würde.

    Auf der Doppelseite S.36/37 findet sich dankenswerterweise ein Überblick über "Streckung, Verschiebung und Spiegelung beliebiger reeller Funktionen" (dass die Schüler zu diesem Zeitpunkt der Lektüre de facto nur lineare und quadratische Funktionen kennen, macht das Verständnis dieses Themas nicht unbedingt leicht). Laut diesem Überblick spricht man von einer "vertikalen Streckung", wenn die ursprüngliche Funktion mit einem Faktor a > 1 multipliziert wird. Von einer "vertikalen Stauchung" spricht man, wenn die Funktion mit einem Faktor a, 0 < a < 1, multipliziert wird. Bingo! Die Autoren selber zählen eine Spiegelung an der x-Achse also nicht zu einer Streckung/Stauchung. Streng genommen hätten sie sogar in dem Text auf S. 39 "Streckung/Stauchung" und nicht nur "Streckung" schreiben müssen, aber das wäre dann wirklich zu viel verlangt. Für heute habe ich genug von Bigalke/Köhler.

    Es soll übrigens Leute geben, die stören sich weniger an solchen fachlichen Fehlern in Matheschulbüchern, sondern daran, dass manche Matheschulbücher die Übungsaufgaben nicht streng nach Operatorenkatalog formulieren...

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  2. Übrigens hat f im Fall a=b=c=0 unendlich viele Nullstellen. Wenn "quadratische Funktion" per Definition bedeutet, dass a nicht 0 ist, ist dieser Fall ausgeschlossen. Wurde der Begriff "quadratische Funktion" so definiert/erklärt?

    Wie wurde eigentlich der Begriff "Parabel" eingeführt? Oder soll man den zitierten Text als Definition von "Parabel" ansehen?

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    1. Auf Seite 30 von Bigalke/Köhler heißt es:

      "Ein solcher Tragwerkbogen kann mathematisch durch eine quadratische Funktion modelliert werden. Das ist eine Funktion mit der Gleichung f(x) = ax^ + bx + c, wobei die Koeffizienten a, b und c relle Zahlen sind, a ungleich 0. Ihr Graph wird als quadratische Parabel bezeichnet."

      Für Bigalke/Köhler eine recht passable Leistung -- wobei ich mich frage, ob es in der Welt von Bigalke/Köhler auch Parabeln gibt, die nicht quadratisch sind...

      Und den einleitenden Text sollte man auch nicht genauer untersuchen:

      "Bei Brücken, Bögen und Gewölben treten durch die Schwerkraft Belastungen auf, die in die Fundamente abgeleitet werden müssen, um sich dort im Erdreich verteilen zu können. Am besten geht das mit parabelförmigen Tragwerkbögen wie bei der abgebildeten Müngstener Brücke [...]"

      Belastungen verteilen sich im Erdreich? Und warum das "am besten mit parabelförmigen Tragwerkbögen" geht, wird auch nicht verraten, sondern einfach behauptet. Aber Hauptsache, man hat schnell einen Anwendungsbezug hergestellt. Neugier auf Physik oder auf echte "Angewandte Mathematik" wird so nicht geweckt. Da hilft eher der Wikipedia-Artikel über "Bogen (Architektur)"...

      Mein Maß an Bigalke/Köhler ist für heute wieder voll. Trotzdem danke für die Nachfrage!

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