Donnerstag, 23. April 2020

Didaktik der Analysis

Befassen wir uns also ein wenig mit Greefraths Didaktik der Analysis, die pars pro toto für alle Bücher dieses Jahrtausends stehen, die vorgeben, sich mit der Didaktik der Analysis zu befassen.

Infinitesimalrechnung ist der Umgang mit Grenzwerten, jedenfalls wenn man sich nicht mit hyperreellen Zahlen abgeben will (und es macht, nebenbei bemerkt, gar keinen Sinn, die Grenzwerte, welche viele Schüler nicht verstehen, durch Konstruktionen zu ersetzen, die kaum ein Lehrer auch nur ansatzweise verstehen kann). Die Mathematikdidaktik hat sich von Grenzwerten verabschiedet:

        Das Konzept einer derartigen strengen Behandlung des Grenzwertbegriffs
       im Zusammenhang mit Folgen wurde vielfach kritisiert (etwa Pickert 1962).
       So wurden zu Beginn des Analysisunterrichts aufgrund des breit behandelten
       "Vorbaukapitels Folgen" kaum Anwendungsaufgaben behandelt, es traten im 
       Unterricht bei vielen Schülerinnen und Schülern Schwierigkeiten beim Rechnen 
       mit Beträgen und Ungleichungen und numerischen Abschätzungen auf, und es fehlten 
       entsprechende Veranschaulichungen insbesondere bei rekursiv definierten Folgen.

Das ist das, was Kaenders "antididaktische Omission" genannt hat, was aber wohl eher "didaktische Omission" heißen muss, weil fast alle Didaktiker dieser Methode anhängen: Was Schülern Schwierigkeiten bereitet, wird einfach weggelassen.

Dies kann aber nicht das Ziel von Bildung sein; Bildung bedeutet doch im Gegenteil, dass man lernt, sich mit Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, dass man lernt, sie zu meistern anstatt sie zu umgehen.

Die Begründung, warum der moderne "propädeutische Grenzwertbegriff" flächendeckend eingeführt worden ist, verläuft in der heutigen Didaktik ausnahmslos mit Verweis auf Emil Artin und Serge Lang (zwei der wirklich großen Mathematiker des 20. Jahrhunderts), die das in den 60er Jahren in ihren Anfangsvorlesungen in den USA so gemacht hätten.

Allerdings ist das bestenfalls Augenwischerei, und ich würde das eher unter dreiste Lüge verbuchen. Richtig ist, dass die beiden bei der Einführung in die Analysis einen intuitiven Grenzwertbegriff benutzten; im Gegensatz zu den Vertretern der modernen Didaktik haben sie diesen Begriff allerdings nicht vermieden, sondern benutzt!

Lang beispielsweise beginnt mit Ungleichungen, der Betragsfunktion (die didaktische Omission war noch nicht erfunden), der Kreisgleichung, Potenzgesetzen und was man sonst noch unbedingt braucht, und entwickelt ganz ausführlich das, was man heutzutage die "h-Methode'' zu nennen beliebt (ein schrecklich nichtssagender Begriff). Außerdem erklärt er die Bedeutung der Schreibweise lim [f(x+h) - f(h)]/h und dann kommen eben Gesetze zum Rechnen mit Grenzwerten, dass etwa der Operator lim linear ist, also Summen und Produkte respektiert.

Danach folgt der Begriff der Stetigkeit, der Beweis der Produkt-, der Quotienten- und der Kettenregel, die Zwischenwertsätze, der Begriff der Monotonie und der Konvexität, die Ableitung der trigonometrischen Funktionen und der Umkehrfunktionen, sowie der Exponential- und Logarithmusfunktionen. Auch wenn der Begriff des Grenzwerts intuitiv und ohne ε und δ eingeführt wird, folgt danach Mathematik und nicht das Wischiwaschihändewedeln der heutigen "Lehrbücher" der Schulmathematik. Tatsächlich glaubt die moderne Didaktik, dass man neben dem intuitiven Grenzwertbegriff eben auch mit intuitiven Vorstellungen all dieser Regeln (bewiesen wird davon heutzutage nämlich keine mehr) arbeiten kann und das ganze dann immer noch Mathematik ist. Das ist ein monumentaler Trugschluss, und diesen dann auch noch auf Artin und Lang zu schieben ist eine Unverschämtheit.

2 Kommentare:

  1. Eine kurze Durchsicht des erwähnten Aufsatzes von Pickert, der hier einzusehen ist:
    https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=ens-001:1962:8#122
    läßt die zitierte Behauptung, Pickert habe die "zu strenge" Behandlung des Grenzwertbegriffs kritisiert, seltsam erscheinen. Vielmehr handelt es sich um ein Plädoyer für eine von der "vielfach" praktizierten Abfolge und Fassung der Begriffsbildungen abweichende, aber keineswegs weniger strenge Variante.

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  2. Das hätte mir auch auffallen können, dass Artin und Lang nicht die einzigen sind, die von Didaktikerns zitiert, aber nicht gelesen oder nicht verstanden wurden. Ich habe ein Studienheft von Pickert hier (Klett - die haben seinerzeit noch gute Bücher gemacht), in dem er die Analysis auf Schulniveau darlegt, und zwar in einem Formalismus, den man heute wohl erst in einem master-Studium verlangen könnte.

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