Dienstag, 28. April 2020

Modellieren mit Mathe.Delta

Von Mathe.Delta 11/12 für das Basisfach Mathematik, das hier und  hier schon ausführlich diskutiert worden ist, ist jetzt ein ausführlicherer Teildruck erschienen, den man sich hier herunterladen kann. Auch dieser ist gespickt mit Fehlern unterschiedlicher Größenordnung, und was wäre in diesen Zeiten ein geeigneteres Thema, diese Besprechung zu beginnen, als die Modellierung von Epidemien.

Die Autoren haben sich dafür die Ebola-Epidemie 2014 hergenommen. Schon der erste Abschnitt gefällt mir nicht:


Keine Population entwickelt sich exponentiell. Sie kann sich zeitweise exponentiell entwickeln. Der Unterschied ist, wie wir noch sehen werden, umso wichtiger, als ihn die Autoren nicht einmal ansatzweise verstanden haben. Dass das exponentielle Wachstum vom Bestand abhängt, ist je nach Interpretation schwammig oder irreführend oder falsch. Der momentane Zuwachs hängt vom Bestand ab und bei exponentiellem Wachstum sind diese Größen proportional. Nicht das Wachstum hängt also vom Bestand ab, sondern die Änderungsrate. Und auch beim linearen Wachstum g(t) = mt + b, das sei doch angemerkt, geht der Anfangsbestand b in die Funktionsgleichung ein.


Das ist also der Epidemieverlauf, den wir gleich modellieren werden. Schön wäre es gewesen, der geneigte Leser hätte erfahren, was die Zahlen bedeuten: Neuinfizierte, die Gesamtzahl, die  täglichen Todesopfer? Ein Vergleich mit den Zahlen der WHO legt nahe, dass es sich hierbei um die Gesamtzahl der Infizierten handelt. Für später halten wir fest, dass der Abstand zwischen zwei Angaben 14 Tage beträgt, also nach Adam Riese zwei Wochen.

       Für diesen Verlauf wollen wir nun die zugrunde liegende 
       Exponentialfunktion finden.

Dass eine Exponentialfunktion zugrunde liegt bedarf anscheinend keiner Begründung - wir befinden uns schließlich im Kapitel Exponentialfunktion und Logarithmus. Es  wird also fröhlich "modelliert", und man erhält f(t) = 260 * 1,4t für die Anzahl der Infizierten. Vergleicht man beide Datenreihen graphisch, so die Autoren, ergibt sich eine gute Übereinstimmung:


Gegen Ende laufen die Kurven zwar auseinander, aber es kommt ja niemand auf die Idee, mit dieser Funktion Vorhersagen machen zu wollen.

Niemand außer den Autoren:


Wenn 14 Tage 3 Wochen sind, muss es sich um die berühmten 5-Tage-Wochen handeln. Und weil exponentielles Wachstum exponentielles Wachstum ist, wächst die Anzahl der Infizierten wahrscheinlich heute noch exponentiell. Rechnet man mit 2 Wochen für 14 Tage, kommt man auf 1,8 Millionen Infizierte nach einem Jahr. Nach den Zahlen der WHO waren es insgesamt 14.100.

Erstaunlich mag man auch die Merksätze finden, mit denen die Schüler des Basisfachs beglückt werden:


Die Quotienten benachbarter Daten? Wenn man so ein Geschwurbel kommentieren will, weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll.



Auch das scheint exponentielles Wachstum vom linearen oder beschränkten Wachstum zu unterscheiden; bei letzteren scheint es unbedeutend zu sein, welchen Zeitraum man sich anschaut.

Es scheint so zu sein, dass die Qualität der Schulbücher in Mathematik exponentiell abnimmt. Das würde bedeuten, dass es bald ein Mathematikbuch für Gymnasien gibt, das noch schlechter ist als dieses hier. Kann das sein?

8 Kommentare:

  1. In diesem Buch findet man sicher hunderte Beispiele für groben Unsinn. Als erstes stach mir Aufgabe 21 auf Seite 23 ins Auge: Dort wird die Ableitungsregel (cf)'=cf' "bewiesen". Die Aufgabe ist, "jede Umformung [zu] kommentieren und dabei auch [zu] sagen, warum sie gemacht wurde". Die Terme 1,5,6,7,8 bilden offenbar den "Beweis". Die Terme 2,3,4 sind dermaßen falsch/sinnlos/schwachsinnig, dass ich sie nur mit geistiger Umnachtung des Autors erklären kann. Viel Spaß dabei, herauszufinden, warum diese "Umformungen" gemacht wurden!

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    1. Welchen Mist man zuerst findet hängt offenbar wesentlich davon ab, welche Seite man zuerst aufschlägt.

      Ich habe mir auch den Band 10 besorgt, und zwar die der Vorgänger und die aus Bayern. Das Buch ist deutlich besser als das, was wir in BW mit dem Lambacher-Schweizer hatten oder haben. Der Absturz ist dramatisch.

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  2. Noch ein Beispiel (unter hunderten): Auf Seite 24 findet man die folgende Aussage: "[W]enn f(x) = g(x)∙h(x) gilt, ist f'(x) ≠ g'(x)∙h'(x)". Im "Sachzusammenhang" kann man das nur als allgemeingültige Regel verstehen, und ich befürchte, so meinen die Autoren es tatsächlich. Und dann wundere ich mich an der Universität, warum meine Studenten so konfuses oder falsches Zeug von sich geben.

    Das fachliche Niveau der Autoren kommt mir sehr bekannt vor. In Mathematik-Seminaren für den Studiengang Lehramt Gymnasium hält meist ein Drittel bis die Hälfte der Teilnehmer Vorträge in genau diesem Stil und gibt anschließend entsprechende schriftliche Ausarbeitungen ab: viele unpräzise oder klar falsche Aussagen, kaum eine logische Argumentation erkennbar. Von mir und meinen Kollegen bekommen diese Leute typischerweise Noten im Bereich 3,0 bis 4,0; durchfallen lässt man nur Extremfälle. Ließe man nur gute bis sehr gute Studenten bestehen, wäre ein Mangel an Gymnasiallehrkräften in den Folgejahren wohl unausweichlich.

    Dass solchen Leuten mit etwas gutem Willen die Befähigung bescheinigt wird, eine Schulklasse zu unterrichten, heißt aber noch lange nicht, dass sie dann plötzlich selbst Schulbücher verfassen dürfen, nach denen sich der Mathematikunterricht für ein ganzes Bundesland richten soll. So war das nicht gedacht! Naiv wie ich bin, hätte ich erwartet, dass kein Schulbuchverlag solche Autoren anheuert. Oder zumindest, dass anschließend irgendein Lektor den Irrtum der Personalabteilung erkennt, den Schulbuch-Entwurf einstampft und der Verlagsleitung empfiehlt, die (fest angestellten?) Möchtegern-Autoren nur noch als Reinigungsfachkräfte einzusetzen. Oder zumindest, dass später irgendeine kompetente Person im Kultusministerium (oder vom Kultusministerium angeheuert; heutzutage kaufen sich Ministerien ja meist externen Sachverstand ein, weil sie selbst keinen mehr haben) erkennt, dass hier etwas gründlich schiefgelaufen ist und die Allgemeinheit davor warnt, dieses Buch im Unterricht einzusetzen.

    Was mich zu der Frage bringt: Wie muss ich mir die Abläufe, die zum Einsatz eines solchen Schulbuchs (das ja offenbar kein Einzelfall mehr ist) führen, praktisch vorstellen? Wer wählt die Autoren aus? Anhand welcher Qualifikationen? Wird so ein Buch lektoriert oder begutachtet? Von wem, mit welcher Qualifikation? Wer entscheidet über den Einsatz im Unterricht? An welcher Stelle kommt das Kultusministerium ins Spiel? Wer muss sonst noch alles versagen, damit so ein Machwerk irgendwann im Unterricht benutzt wird? Liegt es an mir, weil ich in meinen Seminaren nicht genug inkompetente Lehramtsstudenten ausgesiebt habe? Haben die Autoren überhaupt jemals in irgendeiner Form Mathematik studiert?

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    1. Was das Kultusministerium vorgibt, ist bekanntermaßen heilig. Und daher halten sich die Verlage mit penibler Genauigkeit daran. Man muss sich doch nur Folgendes vor Augen führen: Gäbe es tatsächlich eine Mathematikbuch für den Schulunterricht, das einigermaßen mathematisch wäre, so läge es derart deutlich über dem intellektuellen Niveau der Schüler, Lehrkräfte, Eltern, Nachhilfelehrer usw., dass doch keine Schule ernsthaft die Anschaffung erwägen würde.

      Die Schulbücher entstammen denselben kranken Gehirnen wie auch die Lehrpläne, der Modellierungswahn, die Kalkülfeindlichkeit und die generelle Ablehnung der Mathematik als logisch-stringente Disziplin: denen der Didaktiker. Menschen, von denen man sich fragt, wie sie jemals durch ein Studium der Mathematik durchgeschleust werden konnten. Menschen, die wahrscheinlich schon mit den Anfängervorlesungen hoffnungslos überfordert waren.

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    2. (Ich bin Anonym 29.4., 1:55 und 17:47 Uhr.) Die Lehrpläne sind das eine Problem; ob sie das Hauptproblem sind, kann man diskutieren. Selbst wenn man die Lehrpläne zähneknirschend akzeptierte, könnte man aber dazu passende Schulbücher verfassen, die das Beste aus den armseligen Vorgaben machen. Schulbücher, die zumindest keine grotesken mathematischen Fehler enthalten. Die sich so klar und präzise ausdrücken, wie es im Rahmen der Lehrpläne möglich ist. (Weniger Rechtschreib- und Grammatikfehler wären auch nett.) Ich frage mich einfach, ob wirklich keine halbwegs kompetente Person außer den Endnutzern eine Qualitätskontrolle durchführt: kein Lektor, niemand im Ministerium?

      Warum fragt das Ministerium nicht ein paar echte Mathematiker (keine Didaktiker!), ob sie mal ein paar Seiten korrekturlesen und kommentieren könnten? Wenn mich so eine Anfrage erreichte, wäre ich durchaus bereit, 10 Seiten durchzusehen -- ohne Entlohnung, als Dienst für die Allgemeinheit. Für alles, was über 10 Seiten hinausgeht, würde ich allerdings Schmerzensgeld verlangen.

      Oder haben die Didaktiker bereits alle Schlüsselpositionen in den Kultusministerien besetzt? An welcher Stelle im Plot von "Invasion of the Body Snatchers" befindet sich die deutsche Bildungslandschaft?

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  3. S. 38, unten: Eine der Lösungen der Gleichung sin(x) = 0,5 ist x = 210,3 Grad.

    Ich sage dazu nur noch: Setzen, 0,3 Punkte!

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  4. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Sinus von 210 Grad nicht gleich 0,5, sondern gleich -0,5 ist...

    Setzen, -0,3 Punkte!

    Und der Verlag wird von Leuten mit Doktortitel geleitet...

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  5. Wahrscheinlich haben sie nicht Mathematik, sondern mathematical sciences studiert . . .

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