Montag, 20. Dezember 2021

Lambacher-Schweizer und der Strahlensatz

Der Strahlensatz in Klasse 9 ist in den letzten Jahren immer mehr zum Problem geworden: bei Aufgaben, in denen der Kartoffelbrei nicht vorgekaut war und man etwa selbständig eine Skizze machen musste, hatten die Schüler zunehmend Schwierigkeiten, um es mal vornehm auszudrücken. Glücklicherweise haben die Bildungsplaner (wie kann es sein, dass in einer Demokratie niemand weiß, wer das macht?) darauf reagiert und den Strahlensatz nach Klasse 8 geschoben (wo stattdessen der Satz des Pythagoras hingehören würde, weil dieser nämlich zur Einführung der  Quadratwurzeln passt). 

Der Band 8 des LS wurde für den Bildungsplan 2016 überarbeitet, folgerichtig kann man auch dem Autorenverzeichnis nicht ansehen, wer für die Änderungen in diesem Band zuständig ist, weil untern den Dutzenden von Autoren auch die stehen, die am entsprechenden Band von vor 20 Jahren mitgeschrieben haben. Dass die Einführung wohl recht schnell ging, kann man schon der Tatsache entnehmen, dass auf der zweiten Seite als Zusatzmaterial für LS Band 8 das Arbeitsheft LS 7 angepriesen wird. Ansonsten ist zu konstatieren, dass der Verlag keinen Lehrer gefunden hat, der über Physikkenntnisse verfügt, wie man sie früher auf der Hauptschule vermittelt hat - wie anders kann man sich die folgende Angabe auf Seite 77 erklären?

    1 cm\(^3\) Stahl wiegt ca. 7,9 g/cm\(^3\);

1 Satz, 2 Fehler. Setzen 6 hätte man das früher kommentiert.

Aber jetzt zum Strahlensatz, oder was die Autoren des LS sich darunter vorstellen. Den Strahlensatz können heutige Autoren in Deutschland anscheinend nur noch mit Hilfe der zentrischen Streckung beweisen, oder zumindest glauben sie das. Also beginnt das Abenteuer mit einer Definition der zentrischen Streckung:



Dazu ist so Einiges zu sagen. Zuerst gehört die Voraussetzung \( k > 0\) an den Beginn ("mit dem Streckzentrum S und dem Streckfaktor \( k > 0\)"), denn sonst ist Aussage (1) schon falsch, weil P' im Falle \( k < 0 \) nicht auf dem Strahl SP liegt, sondern auf dem entgegengesetzten. In (2) dagegen ist k > 0 überflüssig, weil Streckenlängen grundsätzlich positiv sind. Zweitens ist zu sagen, dass eine zentrische Streckung durchaus auch S auf einen Punkt abbildet, nämlich auf sich selbst; würde man das sagen, dann könnte man sogar zeigen, dass eine zentrische Streckung genau einen Fixpunkt hat, wenn nicht gerade k=1 ist.

Ein flüchtiger Blick auf die Skizze lässt einen im Text nach den Größen i und j suchen; die findet man dort aber nicht. Auch ist nicht klar, was das k in der Skizze überhaupt zu bedeuten hat - mir deucht, dass es sich dabei gar nicht um den Streckfaktor handelt. Was andererseits nicht schlecht ist, denn die Abbildung zeigt alles Mögliche, nur keine zentrische Streckung: R' müsste in einem solchen Fall 1,5 mal so weit von S wegliegen wie R, aber das ist nicht der Fall. 

 Weiter im Text:



"Man kann zeigen" heißt übersetzt "Das müsst ihr jetzt glauben". Mathe 5, Religion 1: selig wer glaubt, ohne zu sehen. Warum man das zeigen kann, aber nicht im LS, bleibt das Geheimnis der Autoren. Dass Geraden auf parallele Geraden abgebildet werden, gehört anscheinend nicht mehr zum Glaubensbekenntnis; allerdings ist schon der erste Satz des Beweises falsch: selbstverständlich gibt es Geraden g, deren Bild g' mit g einen Punkt gemeinsam haben, nämlich alle Geraden durch S. Und wenn es um eine zentrische Streckung mit k=1 geht, sogar alle Geraden. Hätte man sich über Fixpunkte bei zentrischen Streckungen unterhalten, wären die Ausnahmefälle klar zu benennen gewesen, und der Beweis wäre ein Kinderspiel: offenbar hat die zentrische Streckung in der Skizze zwei Fixpunkte, nämlich S und P. Also ist entweder S = P (Gerade durch S) oder k=1. 

Kommen wir jetzt zum eigentlichen "Beweis" des Strahlensatzes.


Natürlich gibt es, wenn g und h parallel sind, zentrische Streckungen, die g auf h abbilden. Sogar unendlich viele. Die helfen aber nichts, denn wir brauchen zentrische Streckungen, die P auf P' und Q auf Q' abbilden; wenn man diese vier Punkte nicht hat, bekommt man auch kein Streckzentrum S. Die Voraussetzungen sind also, dass es parallele Geraden PQ und PQ' gibt derart, dass PP' und QQ' sich in genau einem Punkt S schneiden. Und weil die Autoren offenbar Angst hatten, den Beweis zu versauen, haben sie ihn als Übungsaufgabe 15 an die Schüler delegiert. Vermutlich eine ihrer eher intelligenten Entscheidungen.

Wir halten fest: Zentrische Streckungen werden eingeführt, damit man den Strahlensatz beweisen kann. Ein Drittel des Beweises (Geradentreue) muss man glauben, ohne ihn sehen zu können, ein Drittel wird vorgeführt, aber mit Lücken und Fehlern, und das letzte Drittel ist Übungsaufgabe für Schüler. 

7 Kommentare:

  1. Stahl:
    Sie hätten wohl lieber gelesen:
    "Eisen hat eine Dichte von 7,85g/cm^3"
    Hätten das alle verstanden?
    Da finde ich die Originalformulierung einfacher, und Masse in g/cm^3 auszudrücken ist ein offensichtlicher Tippfehler.
    Die Kids können ja heute Physik abwählen, da sind Masse, Dichte und Kraft unbekannt.

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    1. Ich pflege immer zu sagen "Wenn ihr schon alles könntet, wärt ihr nicht hier". Es ist egal, ob das alle verstehen; wenn nicht, ist der Lehrer da. Aber in einem Satz gleichzeitig Masse mit Gewicht und Dichte verwechseln? Dann sollten wir MINT gleich nach China auslagern.

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  2. Müsste es in der Lambacher-Schweizer-Definition der zentrischen Streckung nicht heißen "auf dem von S ausgehenden Strahl" an Stelle von "auf dem ausgehenden Strahl"? -- Davon abgesehen:

    Ihr habt Probleme in Baden-Württemberg! In Nordrhein-Westfalen ist der Strahlensatz nicht mehr Teil des Lehrplans (weder im auslaufenden G8 noch im neu eingeführten G9). Der G8-Lehrplan sieht auch keine zentrische Streckungen vor. Im G9-Lehrplan sind sie wieder drin. Wichtiger als der Strahlensatz sind digitale Medien:
    "Mit diesen Kernlehrplänen und dem Medienkompetenzrahmen NRW ist somit die verbindliche Grundlage dafür geschaffen, dass das Lernen und Leben mit digitalen Medien zur Selbstverständlichkeit im Unterricht aller Fächer wird und alle Fächer ihren spezifischen Beitrag zur Entwicklung der geforderten Kompetenzen liefern."

    Ich muss jetzt aufhören, mich mit Lehrplänen zu beschäftigen, weil ich sonst -- insbesondere wegen des Kompetenzsprechs -- das Kotzen kriege.

    Link zum neuen G9-Lehrplan Mathematik: https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplan/195/g9_m_klp_3401_2019_06_23.pdf

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    1. NRW darf mich gerne fragen, wie das digitale Lernen in unseren Tablet-Klassen funktioniert. Und der Strahlensatz ist ja zumindest für rechtwinklige Dreiecke bei der Einführung des Sinus noch drin -). Und ihr habt den Kosinussatz - dafür kriegt man in BW ja schon den Bachelor.

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    2. Ich tu mal so, als ob meine Lieblingsministerin Yvonne Gebauer mich beauftragt hätte, mich im Namen des großartigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen an Dich zu wenden:

      Die Landesregierung NRW hat sich "weltbeste Bildung" zum Ziel gesetzt. Dafür bedarf es zwar keinerlei Nachhilfe aus anderen Bundesländern; trotzdem darf ich einmal fragen: Wie läuft es in Baden-Württemberg mit Euren Tablet-Klassen? Leisten diese digitalen Medien einen Beitrag zur Entwicklung des Mathematikunterrichts (und somit zur weltbesten Bildung)?

      Was es mit dem Medienkompetenzrahmen NRW auf sich hat, kann man übrigens hier nachlesen: https://schule.roentgen24.eu/2020/medienkompetenzrahmen-nrw-was-fuer-ein-kleinkarierter-seelenloser-quatsch/

      Gibt es so etwas auch in Baden-Württemberg?

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    3. Mit "unseren" hab ich nur die an unserer Schule gemeint. Da läuft es so, wie man das als Lehrer erwartet hätte: Die guten Schüler können problemlos damit umgehen, die mittleren kämpfen mit den Tücken des Geräts, und die schlechten lenken sich 90% der Unterrichtszeit damit ab.

      A propos Neil Postman: in der Nachkonferenz der tablet-Klassen habe ich die Frage gestellt, welches Problem wir mit der Einführung von Tablet-Klassen gelöst hätten. Antwort: Der Zeitgeist verlangt das halt.

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  3. Diese Frage sollte man mutatis mutandis öfters stellen. Meine Lieblingsschulministerin Yvonne Gebauer ist auf demselben Trip: "Das digitale Lernen ist zeitgemäß." (Brühl, August 2020). Und alle machen mit, weil alle mitmachen.

    Ich sage meinen Kollegen (m/w/d) gelegentlich: Für meinen guten Unterricht brauche ich keine digitalen Medien.


    Zur Erinnerung an die bemerkenswerten Aussagen der Ministerin in Brühl (bei Köln): https://schule.roentgen24.eu/2020/diskussionsveranstaltung-mit-schulministerin-fdp-bruehl-veroeffentlicht-video-nicht/

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