Montag, 23. Mai 2022

Die größte bekannte Zahl

 Jugendreporter Gustav König von Funky meint, dass es auch ohne Mathe geht:

       Warum das Fach vom Stundenplan gekürzt werden sollte.

Deutsch, das wird schon zu Beginn klar, ist nicht seine Stärke. Vom Stundenplan tilgen oder streichen geht, den Stundenplan kürzen geht auch, vom Stundenplan kürzen aber nicht.

 Wer gedacht hätte, in den Geistes- oder Sozialwissenschaften der Welt der Zahlen und Gleichungen zu entkommen, wird spätestens in der ersten Statistik-Vorlesung merken, dass auch hier gerechnet werden muss.

Wer gedacht hat, ein Jugendreporter könne Deutsch . . .  aber ich wiederhole mich.

Dass sich Abiturient*innen auch ohne den Druck der Benotung ,freiwillig mit einer „Bernoulli-Kette“ beschäftigen, ist schwerer vorstellbar als die Zahl „Zentillon“, die höchste, bekannte Zahl, die 10 zur 600sten Potenz erhoben bedeutet.

Offenbar hat er hier aus wikipedia abschreiben wollen. Dort heißt es:

„Die höchste benannte Zahl ist die Zentillion, die 10 zur 600sten Potenz erhoben bedeutet, also eine Eins mit 600 Nullen.“

Hätte er doch cut-and-paste benutzt. So hat er ein Komma eingefügt, wo keines hingehört, und aus der Zentillion ein Zentillon gemacht. Und er ist dämlich genug zu glauben, es gäbe eine größte bekannte Zahl. 

 Ist die „Polynomdivision“ oder die „Mitternachtsformel“ wirklich wichtig, um in der Carsharing-App das richtige Auto zu finden? 

Ist die Bedienung einer Carsharing-App das, was sich Gustav König unter einem erfüllten Leben vorstellt? Braucht man dazu irgendein anderes Fach? Und wer braucht eigentlich Gustav König? Warum schaffen wir den nicht ab? Und Professor Prof. Weitz, der den Mathematikunterricht streichen will, gleich mit:

       Man kann beweisen, dass man bestimmte Fragen nicht beantworten kann.

Kann ich auch. Die Frage nach der Anzahl der Buchstaben, die Goethe in seinem Leben geschrieben hat, lässt sich etwa nicht beantworten. Dazu braucht man Gödel nicht. Gödel braucht man, wenn man als Dödel was sagen will, was schlau klingt. Für Gustav König hat's jedenfalls gereicht.

Das Fach sollte auf das Wesentliche reduziert werden und es sollte viel mehr darum gehen, die Komplexität der Mathematik zu verstehen: Was bedeutet Unendlichkeit, warum lassen sich bestimmte Fragen nicht beantworten?

Klar. Wir reden mit Schülern, die den Zahlenraum bis 20 mäßig beherrschen, über die Bedeutung der Unendlichkeit - Reduktion auf das Wesentliche?. Wissen über die Unendlichkeit braucht man wahrscheinlich, wenn man eine Carsharing-App besitzt, die von deutschen Spezialisten geschrieben worden ist. Und wir klären, warum man manche Fragen  nicht beantworten kann. Etwa die, warum Leute, die man, weil sie Mathematikprofessoren sind, erst einmal für schlau hält,  jeden Zweifel an ihrer Beschränktheit beseitigen, indem sie Dinge reformieren wollen, von denen sie nicht den Hauch einer Ahnung haben.

P.S. (31.05.2022) Weitz erklärt, was er eigentlich hätte sagen wollen, hier. Kann man sich ganz anhören  . . .

8 Kommentare:

  1. Dieter Osterholz23. Mai 2022 um 20:01

    Lieber Herr Lemmermeyer,

    fangen wir mal mit den Deutschkenntnissen an. Eine geile - ich bitte um Nachsicht für die Wahl dieses Wortes – App erfordert keine Kenntnisse des Schriftdeutschen, sondern versteht eine Spracheingabe und ist symbolgesteuert (GUI) und vor allen Dingen fehlertolerant. Als Mathematiker wissen Sie doch, was ein selbstkorrigierender Code ist. Wir sagen der Carsharing-App einfach „Besorgt mir mal einen 3er-BMW.” und der Bank-App „Tu mal was für meine Altersversorgung.” Den Rest erledigt die eingebaute KI, die von cleveren Schulabbrechern entwickelt wurde.

    Und jetzt zum Hauptthema: Will Herr Weitz den Mathe-Unterricht streichen oder will er diesen Mathe-Unterricht streichen? Ist er vielleicht in guter Gesellschaft mit Herrn Sonar, der (in der Schule) die Analysis ganz streichen will? Und ist es nicht vielmehr so, daß wir einen Mathe-Unterricht, der junge Leute hervorbringt, die solche Artikel produzieren, wirklich entbehren können? Wenn der Oberstufen-Unterricht nicht mehr schaffte, als eine gewisse Demut gegenüber einem Gauss oder in diesem Falle einem Gödel hervorzubringen, wäre auch schon viel gewonnen.

    Dem Gedanken, die Mathematik in der gymnasialen Oberstufe in Arbeitsgemeinschaften aus interessierten Schülern zu verlagern, kann ich durchaus etwas abgewinnen.

    Viele Grüße von einem Gesinnungs- und Leidensgenossen.

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    1. Thomas Sonar will nicht die Analysis abschaffen, er hat nur vor den Tatsachen kapituliert. Es wäre in der Tat besser, die Studienanfänger wären wenigstens mit den Grundlagen der Schulalgebra und der elementaren Geometrie vertraut, als dass sie bei Bruchrechnen und einfachsten Umformungen versagen und stattdessen ein paar Rezepte zum Ableiten kennen.
      Ich sehe das allerdings so: wenn wir es nicht schaffen, unseren Abiturienten in Mathematik etwas beizubringen, dann sollten wir nicht die Mathematik abschaffen (und Deutsch, das mit ähnlichen Schwierigkeiten kämpft, gleich mit), sondern die Abiturienten- und Studentenquoten wieder auf ein Maß reduzieren, das unserer Gesellschaft gut tut.

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  2. Lieber Herr Lemmermeyer,

    ich lese regelmäßig ihren Blog und bin häufig erhellt und erheitert. Hier jedoch muss ich Ihnen widersprechen. Als Lehrer an einem Berufskolleg in NRW sehe ich jeden Tag, wie sich ein erheblicher Teil der Schüler mit der Mathematik schwertut und wie wenig mathematisches Verständnis vorhanden ist und aufgebaut wird - nach 12 Jahren Mathe ist da in der Breite erschreckend wenig vorhanden. Bei mir setzt sich immer mehr die Ansicht durch, dass es sich bei vielen Schülern um reine Zeitverschwendung handelt. Gespräche mit anderen Mathelehrern bestätigen dieses Bild. Ich teile Ihre Sicht auf die Mathematik, möchte aber zu bedenken geben, dass nicht jeder einen Blick für die Schönheit der Mathematik hat und ihren instrinsischen Wert erkennt. Diesen zu vermitteln, dazu fehlt uns Lehrern schlicht die Zeit und Muße, wenn es sich nicht schon von vornherein um ein aussichtsloses Unterfangen handelt. Unsere Schüler haben nämlich ganz andere Probleme und Interessen, und ihnen fehlen oftmals die Voraussetzungen, um in der Mathematik zu reüssieren (Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer etc.)

    Viele Grüße

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    1. Ich bin wie Sie der Meinung, dass der Mathematikunterricht in der Oberstufe für mindestens 50 % der Schüler reine Zeitverschwendung ist. Das Gymnasium ist die neue Hauptschule, und für mindestens die Hälfte aller Schüler wäre es besser, sie würden in der Oberstufe grundlegende Dinge lernen anstatt Rezepte zur Berechnung von Flächen unter Schaubildern. Die Frage bleibt, warum man diesen Schülern unbedingt die allgemeine Hochschulreife attestieren muss.

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  3. Hallo,
    vielleicht hat das junge Mann*in ja recht. Denn es gibt ja die "Mathe-Apps" wie z.B. "derive". Und eigentlich schon irre: Wir suchten neulich die Leistung eines elektrohydraulischen Systems, das 90 Liter pro Minute bei 210 bar liefern sollte. Und während ich noch rechnete, gab ein Azubi tolldreist bei "google" ein:
    "90 l/min * 210 bar" -- und was spuckt das Ding aus:

    (90 (l / min)) * 210 bar = 31 500 watts

    Wobei der Azubi freilich offenbar gewußt hat, "Druck * Volumen = Arbeit".

    Sie können auch heute Laser-Entfernungsmesser kaufen, die die gemessene Strecke automatisch mit dem Cosinus des vertikalen Neigungswinkel multiplizieren. Ich habe so eines, sehr praktisch.

    In seinem Buch "In Mathe war ich immer schlecht" erzählt Ihr Kollege Albrecht Beutelspacher von einem Matheprofessor, der staunt: "Jetzt schafft mein Bub schon zwei Jahre beim Siemens und hat noch kein einziges Integral gelöst".

    Am Machwerk des Jungspundes stört mich die unglaublich dämliche, anmaßende Behauptung, daß es "schwer" vorstellbar sei, daß sich auch nur irgend jemand in einem Mathe-Leistungskurs für die Bernoullis interessieren könnte.
    Als Schüler konnte ich mir damals "schwer vorstellen", daß jemand an so einem unsäglich blöden Proletengerangel wie "Fußball" Interesse haben könnte.

    Vielleicht brauchen wir hier ein Umdenken, Matheunterricht wie seinerzeit in der DDR: Einfaches, praktisches Rechnen in den Berufsschulen, angewandtes Rechnen in den polytechnischen Schulen und anspruchsvolle Mathematik bzw. Hinführung dorthin in der "Spezi", ich glaube sie hieß offiziell "EOS".
    Grün-gleichgeschaltetes Denken haben wir ja schon.

    Ja, ich meine es ernst. Vor der m.E. völlig unnötigen "Wende" war ich in einigen VEB tätig, die "einfachen" Werker überraschten mit umfassenden Trigonometriekenntnissen, die ein moderner Jungingenieur vermissen läßt. Aber dafür wurden sie weder mit Gödel noch mit komplexen Zahlen zugestopft.

    Wieviele Schüler haben Sie in einem Mathe-LK, von denen Sie den Eindruck gewinnen können, jene interessierten sich für Mathematik und die Schönheit dahinter (und ich traue Ihnen zu, diese Schönheit vermitteln zu können) ? Sind es eher 2 von 20 oder 5 von 20 ?

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  4. 1. Herr Beutelspacher ist nicht mein Kollege.
    2. Zu Zeiten der Wende gab es im Westen auch noch guten Mathematikunterricht. Damals wusste man hüben wie drüben, dass man sehr gut ausgebildete Abiturienten nur bekommt, wenn man nicht 50 % eines Jahrgangs das Abi machen lässt. Und es gibt immer noch begabte und interessierte Schüler - aber man kann ihnen kaum was beibringen, weil sie mit Leuten in der Klasse sitzen, die früher eine für sie geeignete Schule besucht hätten.

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  5. Der Vorschlag von Herrn Weitz, den Mathematikunterricht in der gymnasialem Oberstufe freiwillig zu machen, halte ich persönlich gar nicht für so abwegig, aber doch recht radikal und in absehbarer Zeit nicht umsetzbar.
    Im Schulunterricht hat jedoch - so, wie aktuell gelehrt - die Analysis (insbesondere die "Kurvendiskussion") meiner Meinung nach einen zu hohen Stellenwert. Die Bereiche, die dort als Grundlage interessant und wichtig sind (z.B. Folgen, Grenzwerte) tauchen meist gar nicht mehr oder nur kurz in der Einführungsphase auf. Gerade hier ist es allerdings möglich, (auch!) "philosophische Aspekte" einzubringen und Mathematik als Geisteswissenschaft zu erfahren. Beim Beweisen und Einüben von Ableitungsregeln ist das schwieriger möglich. Solche Phasen sind wichtig, aber - solange es beim reinen Einüben eines Kalküls bleibt - unnütz, wenn die Idee der Ableitung nicht klar geworden ist. Der (oft kritisierte) Verzicht auf einzelne Verfahren wie z.B. die Quotientenregel, die partielle Integration oder Integration durch Substitution, ist in meinem Augen verkraftbar.
    Viel sinnvoller als solche reinen "Rechenverfahren" (ich übertreibe: natürlich sind Grundlagen wie Bruchrechnung, Termumformung, Quadratische Gleichung auch in der Oberstufe wichtig) finde ich eine Einführung in den Funktionsbegriff und damit verbunden "Mengen" (die kommen ja allenfalls in der Stochastik vor) und (Eigenschaften von) "Relationen".

    Ein Punkt noch zu digitalen Hilfsmitteln: Die Verwendung von Programmen wie GeoGebra halte ich zum Erarbeiten und Veranschaulichen durchaus für sinnvoll.
    Klausuraufgaben jedoch (dürfen gerne innermathematisch bleiben, wenn es sinnvoll ist) sollten weitgehend ohne (G)TR lösbar sein (also keine Funktion -0,454x^2+..., wo man die halbe Zeit mit reinem Einhämmern in den TR beschäftigt ist.)

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  6. Zu diesem Jugendreporter möchte ich nur sagen: Manche Menschen haben einen Gesichtskreis vom Radius Null und nennen ihn ihren Standpunkt.

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