Dienstag, 23. Mai 2023

Mathe-Abitur 2023 BW

Nun ist die leidige Zweitkorrektur also auch erledigt. Wie es aussieht, werden inzwischen reihenweise fachlich falsche Aussagen als richtig bewertet - nicht nur in Mathematik: Kollegen aus den Naturwissenschaften erzählen mir durch die Bank dasselbe. Bei den Biologen kommt noch hinzu, dass die Aufgabenstellung fachliche Fehler enthält. Da sind wir in Mathe ja glücklicherweise noch weit davon entfernt . . . .

Und damit sind wir beim Thema: Mathe-Abitur 2023 in BW. Feststellen kann man, dass das Rechnen weiter zurückgedrängt wurde. Außer dem Ableiten einer Funktion dritten Grades und dem Integrieren von \( f(x) = \sqrt{x+2} \) gab es kaum Analysis (im innermathematischen Wahlteil musste man immerhin  eine Funktion von Typ \(x^2 \cdot e^{-2x}\) ableiten). Stattdessen musste man am laufenden Band irgendwelche undokumentierte Rechnungen interpretieren. Das kann man sicherlich einmal fragen - aber warum um Gottes Willen so oft?
  • PT 3: Mit dem Term \( \pi \int_0^2 (f(x))^2\ dx \) kann das Volumen eines Körpers  berechnet werden. Begründen Sie, dass dieses Volumen größer als  \( \pi \cdot 0,5^2 + \pi \cdot 1^2 \) ist.


Natürlich war die Idee dahinter, dass man das mit dem Volumen von Zylindern vergleicht; dazu muss man das Integral als Volumen eines Rotationskörpers auffassen. Allerdings ist das Volumen ein Distraktor; es hätte vollkommen genügt,  zeigen zu lassen, dass das Integral
  \( \int_0^2 (f(x))^2\ dx > 0,5^2 + 1^2 \)
ist; dazu hätte man nur die Kästchen unter dem Schaubild von \( (f(x))^2 \) zählen müssen.
  • PT 1, Aufgabe 6: Geben Sie im Sachzusammenhang ein Ereignis an, dessen Wahrscheinlichkeit mit dem Term \(2 \cdot \frac35 \cdot \frac25 \) berechnet werden kann.
Nichts Weltbewegendes, es gab auch nur 0,5 VP (zum letzten Mal - nach jahrelanger Beharrung auf halbzahlige Bepunktung, um die Lehrer bei der Noteneingabe in den Wahnsinn zu treiben, werden diese nächstes Jahr abgeschafft), aber warum fragt man nicht einfach, mit welcher Wahrscheinlichkeit man zwei verschiedenfarbige Kugeln zieht?
  •  WT Geo B2. In c) sollte man den Term \( 6 \cdot 6 - \frac12 \cdot 3 \cdot 3  -2 \cdot \frac12 \cdot 3 \cdot 6 \) erklären, anstatt die Fläche des Dreiecks auszurechnen.
  • WT Geo B2   In f) gab es eine weitere Rechnung im Zusammenhang mit einer Drehung zu interpretieren:  \(\left( \begin{smallmatrix} 6 \\ -3 \\ 0 \end{smallmatrix} \right)  \cdot \left[ \left( \begin{smallmatrix} 0 \\ 6 \\ 0 \end{smallmatrix} \right)  + t \cdot \left( \begin{smallmatrix} 6 \\ -3 \\ 0 \end{smallmatrix} \right)  - \left( \begin{smallmatrix} 3 \\ 0 \\ 0 \end{smallmatrix} \right)  \right] = 0  \iff t=0,8, \) d.h. \(S(4,8 | 3,6 |0) \).  \( \vec{OT} = \vec{OS} + |\vec{CS}| \cdot \left( \begin{smallmatrix} 0 \\ 0 \\ 1 \end{smallmatrix} \right)  \)
Zu rechnen gab es in Geometrie nicht wirklich viel: eine  Ebenengleichung, einen Winkel, eine Punktprobe, und einen Punkt bestimmen,  sodass ein Dreieck rechtwinlklig wird. Wir nähern uns asymptotisch dem kalkülfreien Mathe-Abitur.
  • WT A1.1 Wenn \(f_t(x) = (1-tx^2) \cdot e^{-2x} \) ist, so sollte man zeigen, dass der Schnittpunkt des Schaubilds mit der y-Achse von \( t \) unabhängig ist.
 Meine Güte - wenn ihr Punkte verschenken wollt, schreibt doch gleich,  dass man \( f_t(0) \) ausrechnen soll. So aber ist die Aufgabe peinlich.

WT Geo B2, d) hat den Vogel abgeschossen. Es ging um ein Prisma mit aufgesetzter Pyramide. Ich zitiere:
  • Die Ebene \(N_k\) enthält die \(x_3\)-Achse und den Punkt \(P_k(1-k | k | 0) \) mit \(k \in ]0; 1[ \). Welche Kanten des Körpers von \(N_k\) geschnitten werden, ist abhängig von \( k \). Durchläuft  \( k \) alle Werte zwischen 0 und 1, so gibt es Bereiche \( ] a; b [\), für die \(N_k\) für alle Werte von \( k \in  ] a; b [ \) jeweils die gleichen Kanten des Körpers schneidet. Bestimmen Sie den größten dieser Bereiche und geben Sie die zugehörigen Kanten an.
Alles klar? Nach der dritten Lesung vielleicht? Warum heißen Intervalle jetzt Bereiche? Wie wird die Größe dieser Bereiche gemessen - Lebesgue I presume? Nun ja: Unmöglich ist es nicht, auf die Frage zu kommen, welche die Aufgabensteller stellen wollten: Die Ebenen \(N_k\) schneiden für gewisse Werte von \( k \in ]0; 1[ \) dieselben Kanten des Körpers, und gesucht ist das Teilintervall maximaler Länge mit dieser Eigenschaft. Die von den Aufgabenstellern erträumte Lösung ist, dass die Ebenen für  \(0 < k < \frac13 \) und für \( \frac31 < k < 1 \) jeweils dieselben Kanten schneiden, und deswegen ist das zweite Intervall \( ]\frac13 ; 1 [ \) das längere - size matters. 
Size matters indeed: Das Intervall \( ]1 ; 2[ \) ist noch länger, und für alle \(k \) aus diesem Intervall schneidet \(N_k \) jeweils dieselben Kanten, nämlich gar keine, weil es wegen \(k \in ]0; 1[ \) gar keine Ebene gibt. Vielleicht wäre es gut gewesen zu sagen, dass \(0 < a < b < 1\) sein soll.
Zugegeben - diese Frage hat während des Abiturs nur wenige gequält, weil die meisten gar nicht wussten, worum es dabei ging.

Natürlich hätte ich den anderen Wahlteil wählen können, aber da habe ich in Teil c) nicht einmal die Lösung verstanden. Man sollte da im wesentlichen begründen, warum im folgenden Bildchen der Mittelpunkt M der Hypotenuse des Dreiecks den kleinsten Abstand der Strecke zum Kreis hat. 


Schon der erste Satz der Musterlösung ist ein Paradebeispiel dafür, dass mathematisches Argumentieren etwas ganz anderes ist als Beweisen:
  • Die \(x_3\)-Achse stellt die Symmetrieachse des zylinderförmigen Masts dar. Damit ist es ausreichend, zu begründen, dass kein Punkt des Vierecks ABED einen kleineren Abstand zur \(x_3\)-Achse hat als der Mittelpunkt M der Strecke DE.
Die eigenwillige Zeichensetzung stammt nicht von mir, aber ich kann sie imitieren:


Die \(x_3\)-Achse stellt die Symmetrieachse des quaderförmigen Masts dar. Damit ist es ausreichend, zu begründen, dass kein Punkt des Vierecks ABED einen kleineren Abstand zur\(x_3\)-Achse hat als der Mittelpunkt M der Strecke DE. Mathematisch Argumentieren ist echt leicht, wenn man es mal verstanden hat.

In einer anständigeren Welt als der unseren würde ich diese Aufgabe allen DidaktikprofessorInnenx vorlegen. Wer sie in 30 Minuten nicht mathematisch sauber lösen kann, sucht sich einen anderen Job. Ich bin mir sicher, dass wir in einer halben Stunde die Hälfte der Ursachen unseres Bildungsnotstands los wären.

Stochstik C1.b) war auch lustig:
  • An einem Supermarkt wird regelmäßig die gleiche Anzahl von Flaschen geliefert. Dabei enthalten im Mittel mehr als 780 Flaschen mindestens 600 ml Öl. Ermitteln Sie, wie viele Flaschen mindestens geliefert werden.
Hä? Die einzigen Flaschen, über die man was aussagen könnte, sind die Autoren dieser bescheuerten Aufgabe. Die Lösung funktioniert so, dass man als erstes sein Hirn ausschaltet und auf das Reizwort ``im Mittel'' einen Pawlow vollführt: Aus \( mu = n \cdot p \) kann man dann schließen, dass es mindestens 792 Flaschen sein müssen. Wenn man sein Hirn wieder einschaltet, stellt man fest, dass es sich hier um aktive Verblödung von Schülern und, so vermute ich, Lehrern handelt. Woher weiß man denn, dass der Erwartungswert größer als 780 ist? Hat den Hawking ausgerechnet? Eher nicht; man hat den Supermarkt eine Weile beobachtet und Häufigkeiten gezählt. Der ``wirkliche'' Erwartungswert ist also unbekannt. Insbesondere kann ich diesen Erwartungswert nicht benutzen, um auszurechnen, wie viele Flaschen geliefert werden. Warum sollte ich das auch - wenn der Supermarktleiter den Verdacht hat, dass weniger als 792 Flaschen geliefert werden, wird doch wohl sicherlich, wenn er in den letzten 10 Jahren in BW Abitur gemacht hat, einen Hypothesentest machen. Oder eine App runterladen, die Kartons zählen kann.









8 Kommentare:

  1. Die GEO B2 Aufgaben hatten wir in Bayern auch zur Wahl. War da nicht etwas mit Wahl und Qual?
    Ich habe echt versucht meine Schüler auf dumme Abituraufgaben vorzubereiten, aber das KM war beim entwickeln von Bullshit-Aufgaben einfach noch viel kreativer, als ich es mir hätte vorstellen können...
    Ich hatte die Tage eine "geniale" Idee: MINT-Studiengänge haben idR eh keine wirkliche Zulassungsbeschränkung. Warum also nicht einfach einen Mathekurs anbieten, der auf ein MINT-Studium vorbereitet und nebenbei noch ein Abi absolvieren, in dem mindestens 50% Fragen sind, die für einen MINT-Studenten irrelevant sind...?

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    1. Die mindestens 50% irrelevanten Fragen sind nicht das Problem. Solche Kurse würden meinem Arbeitsleben wieder einen Sinn geben, deswegen glaube ich nicht, dass daraus was wird. Wenn die Studentenzahlen in den MINT-Fächern wegbrechen (und bei dem Mist, den man in Mathe und Physik inzwischen macht, würde mich alles andere wundern) wird man wieder diejenigen fragen, die für die Misere verantwortlich sind und die zweifellos wieder eine tolle Idee aus dem Hut zaubern werden.

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    2. Warum meinen Sie, dass die irrelevanten Fragen kein Problem sind?

      Die irrelevanten Fragen sind für mich insofern ein Problem, da ich versuche meine Schüler auf sowas vorzubereiten (ich will ja nicht, dass sie im Abitur komplett auf die Nase fallen) und dadurch Zeit verliere, die ich für richtige Mathematik nutzen könnte. Gleiches gilt für Physik.

      Man könnte einen solchen Kurs ja einfach "inoffiziell" an der Schule anbieten. Wenn genug Schüler diesen Kurs für die Qualifikationsphase wählen, wird einer der regulären Mathekurse einfach zu so einem Kurs umdeklariert. Den Schülern wird klar gemacht, dass sie zwar nicht ideal auf das Abitur, dafür aber so gut, wie möglich auf ein MINT-Studium vorbereitet werden.

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    3. Kein Problem für das RP hab ich gemeint. Ich habe schon eines damit.
      Was den Kurs angeht, hätte der vielleicht die letzten Jahre funktioniert; für die absehbare Zukunft sehe ich an meiner Schule deutlich zu wenige an einem MINT-Studium Interessierte.

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  2. Matheabitur Hessen 2023. Schüler schreiben 1000 Wörter.

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    1. Nach Duden oder nach der Anlautmethode?

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    2. Einer der Schüler bei meiner Zweitkorrektur hat die Auslautmethode benutzt. Da kann man den letzte Buchstabe im Wor einfa weglasse.

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    3. PT 1, Aufgabe 6: Geben Sie im Sachzusammenhang ein Ereignis an, dessen Wahrscheinlichkeit mit dem Term 2⋅3/5⋅2/5 berechnet werden kann.
      Antwort: 2⋅3/5⋅2/5 = 12/25. Interpretation im Sachkontext: In einem Käfig sitzen 12 Primaten und 13 Didaktiker. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein zur Vernunft begabtes Wesen aus dem Käfig tritt, wenn man die Käfigtür öffnet?

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