Montag, 15. Januar 2018

Don't know what a slide rule is for

    Don't know much about geography,  
    Don't know much trigonometry,
    Don't know much about algebra,
    Don't know what a slide rule is for.

Ich konnte dieses Lied noch nie so recht leiden; vermutlich hat man es Mitte der 80er Jahre doch ein wenig zu oft im Radio abgenudelt. Sogar die Schreiber in der Titanic konnten damals lästern, dass sie durchaus gewusst hätten, wozu man einen Rechenschieber gebrauchen können hat, nämlich um dem Vordermann in der Schule eins überzubraten.

Die Digitalisierung hat Schüler dieser Anwendung beraubt. Dafür kann man mit Taschenrechner andere Dinge machen. Was, das lernen Lehrer in Fortbildungen. Mit dem Ding den Didaktikern den Scheitel nachzuziehen gehört leider nicht dazu.

Ab dem Jahr 2019 ist der GTR ja nun nicht mehr zugelassen. Als er 2004 eingeführt worden ist, hat man die alten Aufgabenformate aus dem Fenster geschmissen und neue eingeführt, um den Schülern die Unverzichtbarkeit dieser Geräte klarzumachen. Diese konnten Gleichungen lösen, Integrale ableiten, Nullstellen, Maxima und Minima bestimmen und dergleichen mehr, und zwar mehr oder weniger auf Knopfdruck. Alles, was man davor von Hand zu rechnen hatte, übernahm jetzt der GTR. Wer denkt, dass mit der Abschaffung des GTR jetzt das Rad zurückgedreht wird, irrt allerdings gewaltig. Es ist wie anderswo auch:

  • Bayern schafft G9 ab und führt es wenige Jahre später wieder ein. Allerdings nicht so, wie es gewesen ist, sondern als Sitzenbleiben für alle: wer nach der 10. Klasse schlecht ist, dreht eine Ehrenrunde.
  • BW schafft die Leistungskurse ab, um sie (ab 2019) wieder einzuführen. Bei der Abschaffung wurde inhaltlich abgespeckt; jetzt soll im LK genau das gemacht werden, was bisher alle gemacht haben, während der GK mit 3 Stunden einen nochmals abgespeckten Lehrplan bekommt. Ziel: die Stärkung der Fachlichkeit.
Wie hat man sich die neuen Aufgaben nun vorzustellen? Im wesentlichen wie die bisherigen, nur dass das, was bis jetzt der GTR gerechnet hat, gar nicht mehr gerechnet wird. Stattdessen wird vom Schaubild abgelesen.

           Abbildung 1 zeigt den Graphen einer Funktion f, die für 0 ≤  t ≤ 15
           das Volumen des Wassers in einem Becken in Abhängigkeit von der
           Zeit beschreibt.

           Dabei ist t die seit Beobachtungsbeginn vergangene Zeit in Stunden
           und f (t) das Volumen in Kubikmetern.
Jetzt die Fragen (zur Erinnerung: dies ist eine Musteraufgabe für ein Mathematikabitur in Baden-Württemberg).

           Geben Sie das Volumen des Wassers fünf Stunden nach 
           Beobachtungsbeginn an.

Hier ist aus dem Schaubild abzulesen, dass f(5) etwas kleiner als 500 ist. Die Musterlösung der Musteraufgabe gibt f(5) ≈ 480. Bei der Fortbildung haben wir auch gelernt, dass hier der "WTR-Einsatz nicht möglich" ist. Außer um dem Vordermann  -  aber lassen wir das.

          Geben Sie den Zeitraum an, in dem das Volumen mindestens 
          350 Kubikmeter beträgt.
   
Auch hier muss der zukünftige Abiturient dem Schaubild entnehmen, dass dies für Zeiten zwischen 0,8 und 6,8 Stunden nach Beobachtungsbeginn der Fall ist. Den Lehrern wird bei der Fortbildung erklärt, dass auch hier der "WTR-Einsatz nicht möglich" ist. Was nicht ganz korrekt ist, denn wer gerade kein Lineal zur Hand hat, könnte auch den WTR benutzen, um in das mitgelieferte Diagramm eine halbwegs gerade Linie bei y = 350 einzuzeichnen.

        Bestimmen Sie die momentane Änderungsrate des Wasservolumens 
        zwei Stunden nach Beobachtungsbeginn.          

Hier hat der Abiturient die Tangente in t=2 einzuzeichnen, geht 1 nach rechts und liest ab, wie weit er auf der Tangente nach oben gehen muss. Die Änderungsrate beträgt also etwa 100 Kubikmeter pro Stunde. Bis jetzt haben wir das Niveau von Hauptschule Klasse 7 noch nicht wirklich überschritten, allerdings haben wir etwas übersehen: bei dieser Aufgabe ist der WTR-Einsatz nämlich, wer hätte das gedacht, möglich. Anstatt 1 nach rechts und 100 nach oben kann man auf der Tangente nämlich auch 2 nach links gehen und nein, nicht 200 nach unten (sonst kommt der WTR nicht ins Spiel), sondern von 520 auf 320 runter gehen. Dann kann man den WTR auspacken und die Steigung ausrechnen. Damit die Lehrer der künftigen Abiturienten davon nicht überfordert werden, bekommen sie vom RP im Begleitmaterial einen Screenshot mitgeliefert:



Zugegeben, Hauptschüler der 7. Klasse hätten das früher auch ohne WTR hinbekommen, aber im digitalen Zeitalter muss man Taschenrechnerumgangskompetenz beweisen.

       Begründen Sie, dass die Funktionsgleichung von f weder die Form 
       I noch die Form II hat:
        I      y = -0,3 t4 + at2 + 100
        II     y = 8,5t3+ 3,7t2+ bt + 100.

Hier muss man schreiben, dass das Schaubild von f nicht symmetrisch zur y-Achse
ist und drei Extrempunkte hat, was I und II ausschließt. Das ist so ungefähr wie wenn man im Deutsch-Abitur zeigen soll, dass bei

      Fest gemauert in der Erden 
      Steht die Form, aus Lehm gebrannt. 
      Heute muss die Glocke werden. 
      Frisch Gesellen, seid zur Hand. 

das Reimschema nicht AABB ist. Oder in Astronomie, dass der Vollmond nicht aussieht wie ein Quadrat. Nein, nicht wirklich. Eigentlich ist es kaum möglich, in einem andern Fach eine Aufgabe zu entwerfen, die genauso bescheuert ist wie diese hier. Das geht echt nur in Mathematik. Und in Baden-Württemberg.

            Die fünfzehn Stunden nach Beobachtungsbeginn vorliegende 
            momentane Änderungsrate des Wasservolumens bleibt bis zu 
            dem Zeitpunkt erhalten, zu dem das Becken kein Wasser mehr 
             enthält. Beschreiben Sie ein Verfahren, mit dem man diesen 
             Zeitpunkt grafisch bestimmen kann.

Das ist eine Standardfrage, die in praktisch jedem Abitur drankommt. Schüler wissen, dass es darum geht, eine Tangente in t=15 einzuzeichnen und deren Nullstelle zu bestimmen. Allerdings wäre das zu einfach. Hier soll man nämlich keine Tangente einzeichnen und deren Nullstelle bestimmen, sondern man soll ein Verfahren beschreiben, wie man dies grafisch machen kann. Man muss also schreiben, dass man eine Tangente einzeichnen und deren Nullstelle bestimmen soll. Beschreiben ist auf einem deutlich höheren Kompetenzniveau als die tatsächliche Ausführung. Es kann also keine Rede davon sein, dass ein Hauptschüler in Klasse 7 das auch hinbekäme.  Oh, und für Lehrer: "WTR-Einsatz nicht möglich".

        Interpretieren Sie die Gleichung f(t+6) - f(t) = 350 im 
        Sachzusammenhang.

Auch diese Frage ist Standard, nur dass man diese Gleichung früher selbst aufstellen musste, wenn gefragt war, in welchem 6-Stunden-Zeitraum die Änderungsrate um 350 Kubikmeter pro Stunde abgenommen hat. Ein WTR-Einsatz ist hier nicht möglich.

          Geben Sie eine Lösung der Gleichung an.

Hier muss man also im Schaubild nachsehen und stellt fest, dass f zwischen t = 4 und t = 10 um 350 fällt. Die Lehrer lernen bei der Fortbildung, dass hier der WTR-Einsatz möglich ist, und wieder bekommen sie einen Screenshot geliefert:



Damit hat der Abiturient knapp die Hälfte der Verrechnungspunkte eingefahren, die es im Wahlteil Analysis zu vergeben sind. Zweifellos werden baden-württembergische MINT-Studenten künftig keine Probleme mit fehlenden Kenntnissen in Mathematik haben. Wer in 20 Jahren mit dem Flugzeug fliegen muss, sollte aber eine chinesische Maschine nehmen.

Im Teil c) ist dann das Maximum einer kubischen Funktion zu bestimmen (Ableitung = 0 setzen, Klasse 10) und ein Integral auszurechnen (die Stammfunktion der kubischen Funktion ist sicherheitshalber angegeben).

Es ist schwer, bei diesem Trauerspiel auch noch mitmachen zu müssen. Man weiß langsam nicht mehr, was man sagen soll.

Als Erinnerung an eine Zeit, in der nicht nur die Mathematikaufgaben besser waren, und an die Sängerin Dolores O'Riordan von den Cranberries, die heute gestorben ist: