Montag, 29. April 2019

Heinrich mir graut vor dir

Rainer Heinrich hat sich vor 20 Jahren für die Verbreitung des graphikfähigen Taschenrechners im Mathematikunterricht in Sachsen und anderswo eingesetzt - erfolgreich. Natürlich hat er ebenso wie seine westdeutschen Kollegen Meissner und Barzel, die sich ihre Werbung für TI bezahlen lassen haben, Beispiele gegeben, die beweisen, dass der GTR für die den Mathematikunterricht und weit darüber hinaus unentbehrlich ist:

       Wozu Fußballer den TI-83-plus und dynamische          
       Geometriesoftware nutzen könnten

       Am 6.10.2001 spielte die deutsche Fußballnationalmannschaft 
       gegen Finnland. Das Spiel endete torlos: „0:0“. Die deutsche 
       Boulevard-Presse ging hart mit den Kickern von Team-Chef 
       Rudi Völler ins Gericht. Man wertete das Remis wie eine
       Niederlage. Die „Dresdner Morgenpost“ kritisierte vor allem
       Stürmer Oliver B., der aus „8 Metern (!)“ Entfernung das Tor 
       nicht traf. Schüler fragten sich zum Spaß, warum in der
       „Morgenpost“ hinter der Angabe „8 Meter“ das Ausrufezeichen
        stand. Ist es vielleicht weniger verwerflich, aus 6m das Tor 
        zu verfehlen oder aus einer Entfernung von 10m?

        Diese Frage lässt sich mit dem TI-83 Plus leicht beantworten.

Da fragt man sich, wo die TI-Vertreter bei der letzten WM gewesen sind.

Seit ebenfalls 20 Jahren bespricht Dr. Heinrich den Wandel der Aufgaben an Beispielen aus den Jahren 1994 und 1999, wobei das Beispiel von 1999, das er in Dutzenden von Publikationen erwähnt, aus dem Nachtermin des Jahres 2001 stammt. Ist aber nicht so wichtig; Fehler passieren.

       Insbesondere zeigen diese die Veränderungen von stark
       kalkülhaften Aufgaben hin zu kompetenzorientierteren 

       Aufgaben.

So steht es hier auf S. 10. In der Aufgabe von 1994 sollten Nullstellen, Extrema usw. der Funktion f(x) = (x2+2x+1)/(4x-4) berechnet werden. Kompetenzorientiert dagegen ist die Aufgabe von "1999":

    Der symmetrische Giebel eines Barockhauses soll rekonstruiert 
    werden. Eine symmetrische, ganzrationale Funktion f beschreibt 
    den oberen Giebelrand. Die x-Achse ist Tangente an den 
    Graphen der Funktion f in den Punkten A (-4;0) und B (4;0).
    Die Höhe des Giebels beträgt 4m.

     a) Begründen Sie, dass die Funktion f mindestens 4. Grades 
          sein muss.
     b) Bestimmen Sie eine Gleichung der Funktion f.

Beim Abschreiben hat Herr Heinrich vergessen zu erwähnen, dass f(x) in Meter angegeben wird. Ist aber nicht so wichtig; Fehler passieren. Bei Begründungen, dass eine ganzrationale Funktion Grad mindestens n hat, muss man, wie wir inzwischen gelernt haben, immer die Anzahl der Nullstellen oder der Extrempunkte zählen und dann behaupten, dass alle ganzrationalen Funktionen mit 4 Nullstellen oder 2 Tiefpunkten, die man bisher gesehen hat, mindestens 4. Grades gewesen sind - Beweisen kann man das ohne Polynomdivision heute ja nicht mehr.

Aufgabe b) dagegen ist etwas seltsam: der Aufgabensteller hat in a) noch gesehen, dass die Funktion Grad 4 oder höher haben sollte, jetzt in b) gibt es nur noch eine. Irgendwo zwischen Teil a) und b) hat sich also die unsichtbare Bedingung eingeschlichen, dass die Funktion jetzt Grad 4 haben soll.  Was an einer einfachen Steckbriefaufgabe kompetenzorientiert sein soll, muss man wohl auch raten. Gesagt wird dazu jedenfalls nichts.

Den Fortschritt zwischen "1999" und dem Leistungskurs 2016 kann man schon an der Form erkennen: die ersten fünf Aufgaben im hilfsmittelfreien Teil sind jetzt multiple-choice-Fragen mit genau einer richtigen Antwort. 2016 musste der LK-Abiturient ankreuzen, welche der folgenden Aussagen über die Funktion f(x) = (x+2)/(x+2)(x-1) richtig ist:

  a) Die Funktion f besitzt an der Stelle x = -2 einen Funktionswert.
  b) Die Funktion f besitzt an der Stelle x = -2 zwei Funktionswerte.
  c) Die Funktion f besitzt an der Stelle x = -2 eine Nullstelle.
  d) Die Funktion f besitzt an der Stelle x = -2 eine Polstelle.
  e) Die Funktion f besitzt an der Stelle x = -2 einen Grenzwert.

Wer nicht ganz dämlich ist, kann die ersten drei Möglichkeiten sofort ausschließen und hat dann eine 50-50-Chance darauf, die richtige Antwort zu erraten, insbesondere dann, wenn er dem Funktionsterm ansieht, dass man x+2 kürzen kann.

Da das Niveau der kompetenzorientierten Aufgaben ins Bodenlose gefallen ist, könnte man sich ja folgende Frage stellen:

      Welche Kompetenzen erlernen die Schüler im Fach 
      Mathematik heute, die früher nicht Teil des 
      Mathematikunterrichts waren ?

Eben diese Frage hat die AfD im baden-württembergischen Landtag der Landesregierung gestellt.  Wer erwartet hat,  dass Frau Eisenmann diese Frage beantworten kann, wurde herb enttäuscht:

        Insofern ist ein Vergleich zwischen inhaltsbezogenen 
        Lehrplänen und standardbasierten, kompetenzorientierten 
        Bildungsplänen nicht möglich.

Ich lese das so, dass man auf der Haben-Seite nichts vorzuweisen hat. Auch die andern Antworten von Frau Eisenmann sind lesenswert. Wer wie ich Probleme mit hohem Blutdruck hat, sollte vorher aber eine Tablette extra einnehmen.

Freitag, 26. April 2019

Frauenpower IV

Die Sueddeutsche hat letztes Jahr Leser nach ihren Erinnerungen an den Matheunterricht befragt. Katja hat sich auch gemeldet:

     "Und wozu werde ich das jemals in meinem späteren 
       Leben brauchen?"

      Darauf wusste kein Mathelehrer eine Antwort, jedenfalls  
      keine befriedigende. Daher nun die Antwort für alle, die 
      bei Schulmathematik philosophisch werden: Ihr werdet 
      es niemals brauchen, für nichts und für niemanden. Denn 
      Ihr werdet euch bei eurer Berufswahl so weit wie
      möglich von Mathe fernhalten. Und es nicht vermissen.

Genauso wird es sein. Und die darauffolgenden 40 Jahre werdet ihr euch, etwa mit einem bachelor-Abschluss als Influencerin auf youtube, über den gender pay gap und die unsägliche Benachteiligung der Frauen beschweren. Da soll noch mal jemand sagen, es sei schwer, die Zukunft vorherzusagen.

Freitag, 19. April 2019

Einheit Schweinheit

Dass einem die Einheiten in den realitätsfremden Wahteilaufgaben heutiger Abiturprüfungen sagen, was zu tun ist, hätte ich vor zwei Jahren wohl noch unterschrieben. Ist f(t) eine Zeit-Weg-Funktion mit der Einheit m und wird t in Sekunden gemessen, dann sind Fragen zur Geschwindigkeit (m/s) mit f' und solche zur Beschleunigung (m/s2) mit f'' zu beantworten.

Allerdings setzt das voraus, dass die Aufgabensteller das Arbeiten mit Einheiten beherrschen. Davon kann neuerdings, wie ich schon des öfteren beklagt habe, keine Rede mehr sein. Das jüngste Beipiel, über das ich gestolpert bin, stammt aus dem Aufgabenpool des IQB aus dem Jahre 2017, nämlich A2 auf erhöhtem Anforderungsniveau. Dort bezeichnet n(t) eine (quadratische!) Funktion, welche die Anzahl der Pollen pro Kubikmeter zum Zeitpunkt t beschreiben soll. Die Aufgabe für den Leistungskurs besteht darin, die Steigung einer Geraden durch zwei Punkte auszurechnen, eine quadratische Funktion abzuleiten  und eine lineare Gleichung zu lösen. Die Aufgabe deckt dann drei Leitideen und drei mathematische Kompetenzen ab. Ich verstehe wirklich nicht, warum Abiturienten, die solche Aufgaben lösen können, in einem MINT-Studium trotz Leistungskurs Probleme bekommen.

Der zweite Teil der Aufgabe lautet im IQB-Original so:

          Ermitteln Sie den Zeitpunkt nach Beginn der Messung, 
          zu dem die momentane zeitliche Änderung der Anzahl 
          der Pollen pro Kubikmeter und Stunde  -30 beträgt.     

Nun hat die Funktion n die Einheit 1/m3, die Funktion, welche die Anzahl der Pollen pro Kubikmeter und Stunde beschreibt, muss also die Ableitung n'(t) sein. Deren momentane Änderungsrate ist dann n''(t) = 6, also nie gleich -30. Der Erwartungshorizont dagegen sieht vor, dass der Abiturient die Ableitung gleich 0 setzt, also die Änderungsrate der Anzahl der Pollen pro Kubikmeter. Wir dürfen daraus schließen, dass am IQB in Berlin niemand sitzt. der noch mit Einheiten umgehen kann.

Nun ist diese Poolaufgabe unverändert auch von Hamburg   (Aufgabe 30) und Niedersachsen als Beispielaufgabe für 2018 ausgewählt worden; offenbar gibt es dort auch niemanden, der noch mit Einheiten umgehen kann.

Als Abituraufgabe ist dieser IQB-Vorschlag von Bayern ausgewählt und so modifiziert worden, dass die Einheiten passen:

       Ermitteln Sie den Zeitpunkt nach Beginn der Messung, zu 
       dem die momentane Änderungsrate der Anzahl der Pollen  
       in einem Kubikmeter Luft  -30 1/h beträgt.

In Bayern gibt es offenbar noch jemanden, der mit Einheiten umgehen kann  (auch wenn ich die Einheit  1/m3 h vorgezogen hätte). Soweit ich informiert bin, muss ein Bundesland, das eine Aufgabe aus dem Pool entnimmt und sie abändert, vom IQB die Erlaubnis einholen. Das IQB ist also darüber informiert worden, dass und weshalb Bayern die Einheiten abgeändert hat. Offenbar hat dort aber niemand verstanden, dass und warum dies eine Rolle spielt.

Damit ein Lehrer in BaWü seine Schüler adäquat auf das Abitur vorbereiten kann, sollte er natürlich wissen, ob Baden-Württemberg zu den Ländern gehört, in denen man mit Einheiten richtig rechnet, oder zu denen wie Berlin, Hamburg und Niedersachsen, wo man sie beliebig an Funktionen hinkleben und Geschwindigkeiten, wenn es sein muss, auch mal in Grad Celsius messen kann. Aber wen soll man da fragen?

Mittwoch, 10. April 2019

Es geht voran III

Ich wundere mich immer wieder über den Vorwurf von seiten gewisser Didaktoren, manche Leute in meinem Dunstkreis (mich eingeschlossen)  würden gerne zur Aufgabenkultur des letzten Jahrhunderts zurückkehren wollen. Warum soll das schlecht sein? Das wäre nur der Fall, wenn die Aufgaben besser geworden sind.  Sie sind anders geworden, wie die Musik auch: Der "Künstler" mit den meisten Nummer-1-Hits in Deutschland ist Capital Bra. Langweiliges Gedudel auf einem musikalischen Niveau, das dem mathematischen Niveau der neuen Aufgaben in nichts nachsteht.

Eine Steilvorlage in Sachen Niveau lieferte Berlin 2013 in der Rodelbahn-Aufgabe. Man hatte zwei Funktionen f(x) = 4xe-0.2x und g(x) = 20e-0.2x , und man sollte im Mathematik-Abitur folgende Aufgabe lösen:

    Zeigen Sie, dass die Funktionen f und g bei x=5 den gleichen
    Funktionswert haben.

Übersetzt heißt das: Zeigen Sie, dass 4 * 5 = 20 ist. Das hätte man früher in einer Hauptschulprüfung nicht zu fragen gewagt.

Einen Fortschritt sprachlicher Natur durfte man im Abitur 2018 bewundern; in Bayern findet man im Wahlteil Geometrie folgende Frage:

     Der Hersteller des Sonnensegels empfiehlt, die verwendeten
     Metallstangen bei einer Sonnensegelfläche von mehr als 20m2
     durch zusätzliche Sicherungsseile zu stabilisieren. 
     Beurteilen Sie, ob eine solche Sicherung aufgrund dieser 
     Empfehlung in der vorliegenden Situation nötig ist.

Übersetzt heißt das: Berechnen Sie die Fläche des Dreiecks. Inzwischen gibt es kaum eine Abituraufgabe mehr, bei der  nicht nach der Fläche eines rechtwinkligen oder gleichschenkligen Dreiecks oder, wie in BaWü neuerdings üblich, nach der Fläche eines Rechtecks gefragt wird. Ich stelle mir das so vor, dass im IQB  Mitarbeiter sitzen und einen internen Wettbewerb darüber laufen haben, wer die trivialste Aufgabe in die umständlichste Einkleidung bringen kann.

Und das erinnert mich an Zeiten, als die Musik noch gut war: Bei den Beatles gab es zwischen Paul McCartney und John Lennon einen Wettbewerb darum, wer in einem Hit-Song die längste Folge gleicher Töne unterbringen kann.
McCartney etwa sang

       and I will "say the only words I know that you'll" understand

in Michelle, Lennon

          "She's the kind of girl that puts you down when friends
            are there you feel a" fool

in Girl.

Ich fürchte, dass wir, bis beim IQB-Einkleidungs-Wettbewerb etwas Vergleichbares herauskommt, länger warten müssen als das Universum noch existiert.

Montag, 8. April 2019

2 von 4 Punkten

Die Bezirksregierung NRW erklärt den Lehrern hier, wie das mit den Operatoren funktioniert, und wie man beim Korrigieren des Mathematikabiturs gerecht Punkte verteilt. Sehr gefallen hat mir diese Seite:


Erde an Bezirksregierung NRW: Nein, könnte man nicht.
Und wo wir schon dabei sind: Ansatz falsch. Alles andere auch falsch. Kann man den Beamten in der Bezirksregierung das Gehalt halbieren? Wenn man ihnen sagt, es würde sich beim Halbieren verdoppeln, sind bestimmt alle dafür.

Freitag, 5. April 2019

Lambacher-Schweizer - eine unendliche Geschichte

Dass man den Lambacher-Schweizer zu nichts gebrauchen kann (außer vielleicht wie in "wonderful world", um dem Vordermann eins überzubraten - aber vermutlich ist das heutzutage strafbar (und sexistisch obendrein, wenn man vergisst, den Vorderfrauen genauso oft das Buch auf den Kopf zu hauen)), hat sich wohl herumgesprochen. Weil ich wegen Korrektur und Erstellen von Nachterminen und Tests etwas gestresst bin, habe ich heute zum ersten Mal in diesem Schuljahr das Schulbuch (LS 10, Gymnasium BW) zur Hand genommen. Schließlich sollen sich die Schülerinnen an die bescheuerten Textaufgaben, denen man im Abitur begegnet, frühzeitig gewöhnen.

Meinem Blutdruck hat das nicht gutgetan. Die meisten Aufgaben fielen meiner Zensur in Bruchteilen von Sekunden zum Opfer, aber auch diejenigen, die das Auswahlverfahren überlebt haben, erwiesen sich als, nun ja, welt-, physik-  und mathematikfremd.

In der ersten (S. 60) ging es um eine Böschung, die durch den Graphen von f(x) =  x  beschrieben wird. Zwar sind auf dem Bildchen ein Baum und ein LKW zu sehen, von Längeneinheiten ist aber nicht die Rede. Die Länge der Rampe sind dann halt 4,1 irgendwas. Unglücklicherweise steht nicht einmal da, dass x- und y-Achse in derselben Einheit angegeben sind, sodass alle Fragen zu Steigungswinkeln (also die ganze Aufgabe) eigentlich nicht lösbar ist. Macht aber nichts.

In der zweiten Aufgabe (S. 65) waren Einheiten gegeben. Ein Hubschrauber steigt senkrecht hoch, seine Höhe nach t Sekunden soll h(t) sein, und zwar in Metern. Start ist bei t = 0, und nach 3 Sekunden hat er eine Höhe von 120 Metern. Das macht eine durchschnittliche Steiggeschwindigkeit von 40 m/s, also von 144 km/h. Nicht schlecht. Das Internet will wissen, dass die Steiggeschwindigkeit bei handelsüblichen Hubschraubern zwischen 5 und 10 m/s liegt, bei militärischen bis zu 36 m/s.

Nun reden wir aber von einem Start, der mit einer Geschwindigkeit von 0 beginnt. Bei konstanter Beschleunigung a ist v  = at, die Durchschnittsgeschwindigkeit also v = at/2; setzt man die gleich 40 m/s, so erhält man für t=3 s die Beschleunigung a = 27 m/s2. Das sind fast 3 g, mit der die 1 Tonne der Masse nach oben schießt (eine Saturn V hat seinerzeit 37 m/s2 erreicht), sodass auf die Piloten satte 4 g wirken.

Damit nicht genug. Tatsächlich soll der Hubschrauber nach 3 s eine Steiggeschwindigkeit von 20 m/s haben, d.h. er hat bereits wieder abgebremst. Wenn wir, wie uns Blum & Co gelehrt haben, annehmen, dass die Geschwindigkeit durch eine möglichst einfache Funktion modelliert wird, dann dürfte hier eine quadratische Funktion v(t) vorliegen, die folgenden Bedingungen genügen muss:

  1. v(0) = 0
  2. v(3) = 20
  3. Durchschnittsgeschwindigkeit 40
Damit kommt man mit etwas Mathematik auf die Funktion

        v(t) = -20t2 + 200t/3.

welche auf die maximale Steiggeschwindigkeit von fast 56  m/s2 führt.  Damit nicht genug: die Beschleunigung a ist gegeben durch a(t) = -40t + 200/3, folglich ist a(3) ≈ -53 m/s2. Davon gehen etwa 10 m/s2 auf das Konto der Erdbeschleunigung; zum Abbremsen muss der Hubschrauber also mit -43 m/s2 nach unten beschleunigen. Er hat also einen ziemlich kräftigen Rückwärtsgang. Jedenfalls, wenn er nicht kopfüber fliegt. Was für punktförmige Hubschrauber, die unsern heutigen Mathematikunterricht bevölkern, eine echte Leistung darstellt.

Bisher habe ich meinen Schülerinnen immer gesagt, sie sollten am Ende einer Aufgabe prüfen, ob die Resultate, die sie erhalten haben, realistisch sind. So langsam muss ich Angst haben, dass ich ihnen damit die Abinote versaue. 



Dienstag, 2. April 2019

Mathematisch Argumentieren

Der Begriff "mathematisch argumentieren" ist, das gebe ich zu, geschickt gewählt: Leute, die etwas von Mathematik verstehen, denken, dass es sich dabei um eine Vorstufe des Beweisens handelt und finden diese Kompetenz außerordentlich wichtig. Dass sie eingeführt wurde, um jegliche Beweise aus den Büchern entfernen zu können, ahnen sie nicht - dazu müsste man mal ein paar Schulbücher in die Hand nehmen.

Auch im schon zweimal vorgestellten PISA-macht-Schule-Dokument findet sich eine von Modellierer Blum gelobte Aufgabe zur Kompetenz mathematisch Argumentieren, und zwar geht es um die Behauptung, 7123 habe weniger als 123 Dezimalstellen. In Lösungsmöglichkeit 1 wird vorgerechnet, dass sich beim Übergang von 7 zu 77 die Anzahl der Dezimalstellen nicht ändert, und dann wird so zu Ende geschlossen:

      Die Anzahl der Stellen bleibt hier das erste Mal gleich. 
      Dies wird sich bis 7123 mehrfach wiederholen, deshalb 
      hat 7123 weniger als 123 Stellen.

Ich kann hier außer "7 ist kleiner als 10" keinerlei mathematisches Argument erkennen. Mathematik, Herr Blum, geht anders. Auch die zweite Lösungsmöglichkeit besticht durch die Eleganz des gewählten Arguments: Im 7er-System hat die Zahl 124 Stellen (welcher Schüler sieht das, selbst wenn er sich im Selbststudium den Begriff der Zahldarstellungen in anderen Stellenwertsystemen angelesen hat?):

      Da das 7er-System aber „wesentlich schneller mehr Stellen“ 
      erreicht als das 10er-System, hat es im 10er-System sicherlich
      weniger Stellen als 123.

Vielleicht auch weniger als 122? Oder 121? Bedeutet das Wort "sicherlich" auf didaktisch etwas anderes als in der Realität? Stehen Leute, die einen solchen Schwachsinn als mathematisches Argumentieren bezeichnen, unter Drogen, und wenn ja, was haben sie genommen? Lauter Fragen, auf die ich keine Antwort wissen will.

Aber: Hut ab vor einer Didaktik, die diesen Rückschritt in das mathematische Mittelalter als Fortschritt verkaufen konnte.

Bernoulli II

Die Schwammigkeit der modernen Schul-"Mathematik" (muss man das "Schul" inzwischen auch in Anführungszeichen setzen? Ich fürchte, man muss) ist, zugegeben,  ein Thema, das so lästig ist wie der Brext und wie dieser nie zu enden scheint. Aber was soll man machen außer seinen Schülern zu sagen, dass man als promovierter Mathematiker auch nicht in der Lage ist, anhand der "Definitionen" in den Schulbüchern die Fragen korrekt zu beantworten, die man im Abitur vorgesetzt bekommen könnte.

Eine dieser Fragen ist ein Klassiker: Liegt hier ein Bernoulli-Experiment vor?
 
       Ein Würfel wird dreimal geworfen und die Anzahl 
       der Sechsen notiert.

Die Aufgabe findet sich auf der Seite von Brinkmann, der in seiner aktiven Zeit unzählige Arbeiten und Übungsblätter zu Mathematik und Physik ins Netz gestellt hat und nach seiner Pensionierung einen schweren Unfall hatte - von meiner Seite aus die besten Genesungswünsche. In den Lösungen schreibt er:

        Es handelt sich um eine Bernoullikette der Länge n = 3. 
       Als Treffer bezeichnet man das Ereignis 6. 
       Die Trefferwahrscheinlichkeit ist in jeder Stufe gleich p = 1/6.

So kann man das sehen. In der Aufgabensammlung zum hilfsmittelfreien Teil des Abiturs in Berlin-Brandenburg steht die Aufgabe auf S. 29, die Lösung auf S. 41. Dort gilt das Experiment nicht als Bernoullikette.

Des Rätsels Lösung dürfte sein, dass die möglichen Ergebnisse des Experiments 0, 1, 2, 3 sind und es folglich mehr als zwei mögliche Ergebnisse gibt. Kann man natürlich machen: Fangfragen beim Abitur.

Dann kann man aber auch ernsthaft die Frage, ob

        Aus einer Urne mit drei weißen und sieben roten Kugeln 
        wird viermal, mit Zurücklegen, jeweils eine Kugel gezogen.
 
eine Bernoullikette ist, mit Nein beantworten: es ist ja nicht einmal gesagt, was die Zufallsvariable sein soll. Man könnte beispielsweise X die Anzahl aller Ziehungen zählen lassen, in dem einen die gezogene Kugel auf den rechten Fuß fällt. Weil sie auch auf den linken Fuß und bei den Physikkenntnissen der heutigen Didaktiker auch an die Decke fliegen kann, liegt keine Bernoullikette vor.

Sehr schön auch die folgende Aufgaben aus derselben Sammlung (von Brinkmann oder Berlin; bei Brinkmann taucht die Aufgabe in einer Klassenarbeit aus dem Jahre 2008 auf  (die Lösungen gibt es hier), den Autoren  Viola Adam und Mike Reblin der Berliner Sammlung (oder, wie sie sich selbst nennen, dem Team der CAS-Multiplikatoren) ist zwar copy und paste bekannt, die Technik des sauberen Zitierens dagegen nicht - tatsächlich beanspruchen sie den rechtlichen Schutz für ihr Plagiat, und wer weiß schon. ob ich mich beim Zitieren daraus strafbar gemacht habe):

       Das Glücksrad aus (e) wird so oft gedreht, bis die 3 
       erscheint, höchstens jedoch fünfmal.

Dass dies in BW nicht als Bernoullikette durchgeht, weil die Länge nicht festgelegt ist, habe ich schon das letzte mal bemerkt. Brinkmann jedenfalls hat das anders gesehen:

      Es handelt sich um eine Bernoullikette mit 
      nichtfestgelegter Länge.

So wie es aussieht, ist die korrekte Beantwortung von Abiturfragen in diesen Zeiten ein Zufallsexperiment. Ob dabei eine Bernoullikette vorliegt, vermag ich aber nicht zu sagen.