Samstag, 30. Juni 2018

Es geht auch ohne Mathe-Studium

Die Mitteilungen der DMV (Deutsche Mathematiker-Vereinigung, die zusammen mit der GDM (Gesellschaft für Didaktik der Mathematik) und MNU (Deutscher Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts) alle Reformen gutgeheißen hat, die das Fach Mathematik an Schulen zu dm gemacht haben, was es heute ist) bemühen sich in den letzten Heften um eine Diskussion über den Stand des Mathematikunterrichts an deutschen Gymnasien. Dass dabei Deutschlands Didaktiker bevorzugt zu Wort kommen, erstaunt niemanden, schließlich sind diese die Experten für guten Unterricht- man hat ja darüber promoviert.

In den jüngsten Mitteilungen meldet sich nun Herr Meyerhöfer zu Wort. Dass er Didaktiker ist, merken Eingeweihte schon am ersten Absatz
:
Wer sich bisher die Lücke zwischen Schule und Hochschule nicht vorstellen konnte, kann es jetzt. Publikationen der letzten 20 Jahre in der Mathematikdidaktik sind voll von solchen Bildern, die tiefschürfende didaktische Konzepte auf dem Niveau von Kindergartenschülern illustrieren.

Aus dieser Skizze werden jetzt Folgerungen gezogen:

     Für das Füllen einer Lücke lassen sich prinzipiell zwei Strategien benennen: Man kann die 
     Lücke von unten füllen, oder man kann sie von oben füllen.

Wie wahr. Wenn man die Lücke zwischen zwei horizontale Blöcke gesetzt hätte, dann könnte man die Lücke entweder von links füllen, oder man könnte sie von rechts füllen. Wie man sieht, werden hier ganz dicke Bretter gebohrt. Und zwar auf höchstem sprachlichen Niveau:

     Der Diskurs der mathematischen Kommunität kennt hingegen nur eine Richtung:

Mit "Diskurs der mathematische Kommunität" meint Herr Meyerhöfer die Beiträge der Mathematiker, die sich in der Diskussion zu Wort gemeldet haben. In der Didaktik klingt nämlich alles viel besser, wenn man es auf Englisch sagt; wahlweise kann man den englischen Begriff, der das natürlich viel besser beschreibt als jeder deutsche Ausdruck, den der Autor kennt, ins Deutsche übersetzen. Das hat Herr Meyerhöfer hier gemacht: Aus der vielbeschworenen "mathematical community" ist so die nicht ganz so vielbeschworene "mathematische Kommunität" geworden.

Dass man den Ausverkauf der deutschen Sprache auch als Akademiker über jede Grenze hinaus treiben kann, zeigt Herr Meyerhöfer wenig später:

          Sollen die Universitätsprofessor/innen jede/n einzelne/n Lehrer/in im Lande besuchen 
          und erzählen, was man künftig von den Studienanfänger/innen erwartet?

Dagegen klingt Trapattoni wie Goethe.Das ist, mit Verlaub, ein Scheißdrecksdeutsch. Man kann das sicherlich auf intellektuellere Art und Weise kritisieren, und ich kenne auch jemand, der das kann, nämlich  Hans-Jürgen Bandelt auf rubikon. Lesen! Das ist ein Befehl. Die Krone auf das Genderdeutsch ist dann das Wort "Mathematikprofessore/innen".

Was die rhetorische Frage angeht, ob Professoren jeden einzelnen Lehrer im Lande besuchen sollen, wenn sie ihnen etwas zu sagen haben, so fragt man sich, ob der Autor Lehrer für beschränkt hält; ich habe den Eindruck, dass hier jemand glaubt, Lehrer könnten keine Kommunikationsmittel oberhalb von Rauchzeichen nutzen. Denkbar ist allerdings auch, dass die "Mathematikprofessore/innen" zu doof sind, auf andere Art mit Lehrern zu kommunizieren als durch ein persönliches Gespräch mit jedem einzelnen von ihnen. Allerdings ist das wenig glaubhaft, denn Mathematikprofessore/innen sind sicherlich in der Lage, eine/n befreundete/n Didaktiker/in zu fragen, wie man/n einen Artikel schreibt oder Emails schickt.

      Dieser Artikel verfolgt nicht das Ziel, positive Alternativen aufzuzeigen.

Was dann? Richtungsloses Rumnölen?

     Es fällt aber auf, dass die mathematische Kommunität vermeidet, den Charakter der Lücke
     Schule-Hochschule überhaupt zu beschreiben.

Das ist dann aber doch etwas frech. Man fragt sich, was die ganzen Autoren, die sich vor Meyerhöfer zu Wort gemeldet haben, eigentlich geschrieben haben. Im Brandbrief wurde klar thematisiert, dass die wesentlichen Lücken bereits in der Mittelstufenmathematik vorhanden sind, weil Politik und Didaktik wesentliche Teile von Geometrie und Algebra abgeschafft haben, um Platz zu machen für Stochastik und Gymnasien und Universitäten für 60 % eines Jahrgangs zu öffnen.

Dann hat sich eine Gruppe aus Lehrern und Hochschullehrern hingesetzt (die cosh-Gruppe) und einen Mindestanforderungskatalog von Inhalten und Fähigkeiten aufgestellt, welche man von Studenten der MINT-Fächer erwarten können sollte. Damit ist Herr Meyerhöfer aber auch nicht zufrieden. Die Hochschullehrer haben nämlich gemeint, dass es Dinge gibt, die für den Studienerfolg wichtiger sind als Vorkenntnisse in Stochastik. Das kann ja nun gar nicht sein, weil, so Meyerhöfer, für Studenten (oder, wie des Deutschen Unkundige gerne  schreiben, Studierende) der Sozialwissenschaften eben diese Vorkenntnisse doch beim Studium relevant seien. Schade, dass der Autor anscheinend keine Ahnung hat, um welche Vorkenntnisse es sich dabei handelt. Im diesjährigen Abitur in BW wurde etwa gefragt, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei zweimaligem Würfeln verschiedene Zahlen, oder eine 1 und eine 2 erscheinen würden. Wenn davon der Erfolg im Medizinstudium abhängt, dann gute Nacht.

Dass man auf der Schule allgemeinbildende Mathematik und auf der Hochschule fachbezogene Mathematik erlernen soll, ist ja nun eine didaktische Erfindung (Wagenschein, Freudenthal und vor allem Heymann). Jedenfalls, wenn man wie Heymann davon ausgeht, dass diese beiden Mengen disjunkt sind. Warum soll es nicht allgemeinbildend sein, wenn man als Abiturient in der  Lage ist, eine lineare Ungleichung zu lösen? Weil man das auch im  Mathematikstudium braucht? So kommt es mir jedenfalls vor. 

Wenn Herr Meyerhöfer meint, dass man Studenten, wie wir sie an die Hochschulen schicken, in drei Semesterwochen beibringen kann, was die Mathematik will, welche Fragen sie stellt, warum sie das macht, und auch noch die Ideengeschichte des Fachs thematisiert, dann frage ich mich, warum man das dann in 12 Jahren  Schule nicht machen kann? Vermutlich, weil alles, was in diese Richtung geht, in den letzten 20 Jahren mit der Kompetenzorientierung aus dem Unterricht hinausgeworfen wurde. Man sehe sich mal die Schulbücher von Barth & Co aus Bayern Ende der 1990er an.

Die Vorstellung, man müsse nur das Niveau weit genug senken, um alle Probleme der Bildungseinrichtung Universität zu lösen, ist ja nicht nur grottenfalsch, sie ist auch bereits widerlegt, weil man an Schulen beobachten kann, wohin die Niveausenkung geführt hat.. Wenn man jedem, der das kleine Einmaleins beherrscht, einen Ingenieurtitel in die Hand drückt, dann haben wir ausreichend Ingenieure, nur dass das keine sind. Und die Mittel, mit denen man die Niveausenkung fordert, sind auch schon aus der Diskussion um die Schulmathematik bekannt: man verunglimpft den Inhalt von  Vorlesungen einfach als Stofffülle und Hülsenwissen.

     Ein Diskurs, der sich darin verliert, dass andere sich ändern müssen, ist bequem.

Vermutlich deswegen findet sich im ganzen Artikel nicht ein iota zur Rolle der heutigen Didaktik bei der Abschaffung des Mathematikunterrichts. Das  müssen dann halt andere machen, etwa Burkhard Polster und Marty Ross in ihrem neuen Buch A dingo ate my math book:

   By contrast, the Australian school curriculum is dominated by math ed clowns, who have 
   little genuine sense of mathematics or understanding what  mathematics education might 
   offer and what it is really for. For whatever reason, Australian mathematicians have played 
   little role in curriculum debates and have made little public criticism. So, there's no war as 
   such, just a confederacy of dunces in charge, with very few people, such as ourselves, 
   sniping from the sideline.

  We wrote many columns and op-eds on curriculum issues, and we can say with certainty
  that our writing made not one iota of difference. Except that  we really annoyed all the 
  right people. With that, we can be genuinely happy.

So sieht es nicht nur in Australien aus: Clowns der Erziehungswissenschaften und die verantwortlichen Schwachköpfe.

Am Ende des Artikels dann die unverhohlene Drohung, dass die Universitätsmathematik, wenn sie sich weiterhin weigern sollte, die Studenten dort abzuholen, wo sie stehen, abgebaut werden wird und (im Zuge einer "Professionalisierung der Hochschullehrer/innenschaft" - das muss man sich mal geben) auf das Niveau heruntergefahren wird, das von Studenten noch erwartet werden kann, die noch etwas allgemeinbildende Mathematik wie das klein Einmaleins und den Satz des Pythagoras beherrschen oder zumindest mal davon gehört haben: Hier legt die Didaktik, nachdem sie (nicht allein, aber doch als Mittäter) den Mathematikunterricht ruiniert hat, die Axt an das Fachstudium der Mathematik. Die Forderung Meyerhöfers ist, dass das Niveau der Vorlesungen in Mathematik die heutigen Didaktiker nicht überfordern darf. Zweitens, und das ist, wie Meyerhöfer schreibt, an der Uni Paderborn bereits durchgesetzt, müssen Absolventen, die Grundschullehrer studiert haben, promovieren dürfen (das dürfen sie natürlich), und zwar mit dem Schmalspurstudium in Mathematik, das sie hinter sich haben. Solche Dr.rer.nat.-Titel (eine Dissertation aus Paderborn habe ich im Netz gefunden; wer sich die Lektüre antun mag: hier steht sie.) könnte man dann aber vermutlich gleich mit dem Abitur verteilen, was den einzigen Nachteil hat, dass in diesem Fall die math ed clowns keine Rolle spielen. Und das geht gar nicht.