Schulbücher zur Differential- und Integralrechnung gibt es seit mehr als 100 Jahren. Da gibt es genügend Bücher, aus denen Autoren Dinge, die sie nicht richtig verstanden haben, abschreiben könnten. Und wenn man das Original dann in das Literaturverzeichnis aufnimmt, ist das Ganze noch nicht einmal ein Plagiat.
Man kann natürlich auch versuchen, sich an das zu erinnern, was man vor einiger Zeit in den Vorlesungen gehört hat (das ist eine Kompetenz, die Mathe.delta den Basisfachlern an einigen Stellen abverlangt: "Versuchen Sie sich zu erinnern, wie man das Volumen einer Kugel bestimmt"). Wie sich herausgestellt hat, ist das eine ganz gefährliche Methode.
Mathe.delta 11/12 führt das Integral anhand einer Zeit-Geschwindigkeits-Funktion
v(t) = - x
2 + 1600 x [sic!]
eines Flugzeugs ein. Im Diagramm ist die t- bzw. x-Achse mit h bezeichnet, wohl um anzudeuten, dass die Zeit t (auf der linken Seite der Gleichung) bzw. x (rechts) in Stunden gemessen wird.
Um die Fläche unter dem Graphen zu bestimmen, wird das Intervall in n gleich lange Segmente aufgeteilt und die Untersumme berechnet, zuerst für n=7, dann für n = 20, und dann folgen tabellarisch die Ergebnisse für n = 7, 25(!), 145, 385, 809, 1437 und 2999 (das kann man nicht erfinden). Dann kommt etwas "Geschichte der Mathematik":
Um schneller auf den tatsächlichen Flächeninhalt schließen zu können,
entwickelte Bernhard Riemann eine Methode, mit der er sich nicht nur
von unten an den gesuchten Wert annähert, sondern auch von oben.
Riemanns Leistung war es also, zu den Untersummen noch Obersummen zu erfinden. Auch das Infimum und das Supremum hat er eingeführt, als kleinsten und größten Funktionswert. Tatsächlich hat Riemann weder Infimum, noch Supremum gekannt (und hätte er die Begriffe gekannt, hätte er nicht wie die Autoren Maximum und Supremum verwechselt), und die Unter- und Obersummen stammen von Darboux. Macht aber nichts.
Fangen wir mal auf S. 159 an. Die erste Aufgabe unter dem Titel "Nachgefragt" lautet:
Skizzieren Sie die Herleitung des Hauptsatzes der Differential- und
Integralrechnung.
Eine reife Leistung für Basisfachler wie für die Autoren. Ich habe deren Herleitung ein paar Mal lesen müssen, um nachvollziehen zu können, was sie da machen.
In Unterkapitel 4.1. haben wir gesehen, dass wir den Bestand B aus einer
gegebenen Änderungsrate A(t) rekonstruieren können, indem wir den
orientierten Flächeninhalt zwischen Graph und x-Achse bestimmen.
Der Bestand heißt B, die Änderungsrate A(t), und die waagrechte Achse die x-Achse. Das wird, vermute ich, keinen Schüler verwirren, der im Buch schon so weit gekommen ist. Wenn man allerdings nachschaut, wie die Autoren in Unterkapitel 4.1 gezeigt haben, dass Stammfunktion und Flächeninhalt was miteinander zu tun haben, dann stellt man fest, dass sie das für lineare Funktionen getan haben. Es ist in meinen Augen legitim, den Hauptsatz der Integralrechnung nur für Geraden zu zeigen und dann zu sagen, das sei für "alle" Funktionen so. Es ist unverschämt, den Hauptsatz für Geraden zu zeigen und dann zu sagen, man hätte das für allgemeine Funktionen getan, jedenfalls wenn man weiß, dass man das so gemacht hat. Im Falle der Delta-Autoren bin ich mir nicht sicher.
Jetzt jedenfalls sind die Autoren mit der Herleitung des Hauptsatzes fertig:
Daraus folgt, dass das Integral einer Funktion f(x) durch ihre Stammfunktion
F(x) beschrieben werden kann.
Und anschließend erklären sie, was das bedeutet: dass nämlich das Integral von f über das Intervall [a; b] gleich F(b) - F(a) ist. Damit könnte man den Hauptsatz formulieren, aber das folgt erst eine Seite später, weil noch etwas wichtiges fehlt:
Für diese Annahme muss noch Folgendes beachtet werden: in Unterkapitel
4.2 haben wir gesehen, dass es zu einer Funktion f unendlich viele
Stammfunktionen F gibt, die sich durch einen konstanten Summanden
unterscheiden. Unsere Vermutung legt nahe, dass es unwichtig ist, welche
Stammfunktion zur Berechnung des Integrals verwendet wird.
Die Folgerung, welche die Autoren gezogen haben, wird also erst zur Annahme und dann zur Vermutung, und dann erhellt, dass der wesentliche Schritt, der noch fehlt, die Tatsache ist, dass F(b) - F(a) nicht von der Wahl der Stammfunktion F abhängt. Das ist eine Trivialität, denn mit G(x) = F(x) + c ist G(b) - G(a) = F(b) + c - (F(a) + c) = F(b) - F(a). Die Autoren dagegen glauben, dass diese Unabhängigkeit die wesentliche Aussage des Hauptsatzes ist, und so versuchen sie nun zu beweisen, dass dem so ist, indem sie die üblichen Abschätzungen bringen und zeigen, dass F(b+h) - F(b) für kleine h ungefähr gleich f(b) ist.
Zumindest wollten sie das tun; allerdings bekommen Sie nicht einmal das gebacken, denn der "Beweis" beginnt so:
Nehmen wir also an, F(x) sei eine beliebige Stammfunktion von f(x).
Dann brauchen Sie eine halbe Seite, um zu "zeigen", dass F'(b) = f(b) ist. Allerdings folgt das aus der Definition der Stammfunktion. Ich nehme hiermit die Behauptung zurück, die Autoren wären in der Lage, irgend einen Beweis aus einem anderen Schulbuch korrekt abzuschreiben. Um sicherzugehen, dass die Schüler auch wirklich verstanden haben, worum es beim Hauptsatz geht, wird das am Ende des Beweises noch einmal hervorgehoben: nach der Folgerung F'(b) = f(b) erklären sie:
Diese Folgerung gilt für alle Stammfunktionen von f, denn wir haben
zu Beginn eine beliebige Stammfunktion F gewählt und diese Auswahl
an keiner Stelle des Beweises konkretisiert.
Und damit ist der Hauptsatz bewiesen.
Und natürlich wird auf S. 161 nachgefragt:
Heiko möchte eine Bestandsaufgabe mit dem HDI berechnen und kommt
zu dem Schluss: "der HDI gilt für jede beliebige Stammfunktion.
Also muss ich mir gar keine Gedanken über das richtige c machen,
wenn ich eine Bestandsfunktion suche."
Hat Heiko recht? Argumentieren Sie.
Ich ahne durchaus, was den Autoren als Antwort vorschwebt. Und ich weiß sicher, dass Heiko nicht der einzige Schüler ist, den die Autoren nach Kräften so verwirrt haben, dass er nichts, aber auch wirklich gar nichts verstanden haben kann. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das Geschwurbel der Autoren halbwegs "korrekt" wiedergegeben habe. Aber zum Glück muss ich nicht das Basisfach "Mathematik" belegen.