Mittwoch, 2. Dezember 2020

Voll die dumme Aufgabe

Springer hat eine neue Buchreihe, nämlich "Studien zur theoretischen und empirischen Forschung in der Mathematikdidaktik"  (das ist jetzt keine Nachricht - die Anzahl der Buchreihen hat ähnlich zugenommen wie die Anzahl der Studiengänge mit einem englischen Namen), in welcher Greefrath, Schukajlow und Siller die Doktorarbeiten ihrer Doktoranden veröffentlichen. Jeder Doktorand darf eine Studie auswerten, welche die Doktorväter seit Jahren in diversen Publikationen durchgenudelt haben, und bekommt dann den Titel und die Buchveröffentlichung. Win-Win-Win für alle Beteiligten, aber ich fange an darüber nachzudenken, was einen Verlag, der alles publiziert, qualitativ von den vielen kleinen Verlagen unterscheidet, die auch alles publizieren. 

In einem dieser Bücher habe ich eine Modellierungsaufgabe gefunden, die ebenfalls seit vielen Jahren veröffentlicht und wieder aufgewärmt wird; zum ersten Mal aufgetaucht ist sie Katja Maaß und Johannes Gurlitt 2010:

It is the start of the summer holidays and there are many traffic jams. Chris has been stuck in a 20-km traffic jam for 6 hours. It is hot and she is longing for a drink. How long will the Red Cross need to provide everyone with water?

Kann man fragen. Und die Aufgabe ist so gut, dass sie 4 Jahre später von denselben Autoren noch einmal aufgewärmt wird:


Das Wasser kommt jetzt vom Roten Kreuz - das macht die Sache leichter. Klock und Wess (zwei der oben genannten Doktoranden) haben das übersetzt:

Zu Beginn der Sommerferien kommt es oft zu Staus. Christina steckt für 6 Stunden in einem 20 km langen Stau fest. Es ist sehr warm und sie hat großen Durst. Es kursiert das Gerücht, dass ein kleiner Lastwagen die Leute mit Wasser versorgen soll, aber sie hat bisher noch nichts erhalten. Wie lange wird der Lastwagen benötigen, um alle Leute mit Wasser zu versorgen? 

Zumindest haben sie es versucht. Während Chris 6 Stunden im Stau gestanden hat, steht Christina für 6 Stunden im Stau. Wie man sehen kann, wurde die Aufgabe durch diesen kleinen Trick weiter geöffnet, weil jetzt nicht mehr klar ist, ob die 6 Stunden eben angefangen haben oder schon vorbei sind.

Solche Aufgaben sind sehr lehrreich. Ich verwende sie gern und oft, um herauszufinden, wie Didaktiker die Welt sehen. Die vorliegende Aufgabe ist, obwohl sie von einer Frau stammt, etwas frauenfeindlich. Da wird suggeriert, dass Christina mit dem Auto in die Ferien fährt, wenn alle fahren, und dann in einen Stau kommt, den man bei Ferienbeginn erwartet, um dann festzustellen, dass sie kein Wasser mitgenommen hat. Jetzt ist es heiß, sie hat Durst, und guter Rat ist teuer. Weiter ist gar nicht klar, was Christina in der Aufgabe verloren hat. Wenn Christina die durstige Christina wäre, dann würde sie sich fragen, wie lange der Lastwagen braucht, bis er bei ihr ist. Und das hängt dann schwer davon ab, ob die 6 Stunden erst anfangen (dann ist sie am Stauende und kommt schnell dran) oder schon vorbei sind (dann ist sie am Stauanfang und darf nicht losfahren, weil sich sonst der Stau samt Aufgabe auflöst). Christinas einzige Aufgabe ist es, die 20 km und die 6 Stunden in die Aufgabe zu bringen. 

Weiter lernen wir, wie sich Didaktiker einen Stau vorstellen. Offenbar liegt der Aufgabe  die Vorstellung zugrunde, dass Christina in einem 20 km langen Stau steckt, der sich für 6 Stunden nicht vom Fleck bewegt, bei dem hinten kein Auto hinzukommt und vorne keines wegfährt. Das ist kein Stau, das ist eine Vollsperrung der Autobahn.

Wir wollen uns nicht fragen, wie der Lastwagen durch einen solchen Stau fährt - vermutlich ist der Standstreifen frei. Allerdings reichen die Angaben natürlich nicht aus, um die Zeit abzuschätzen, die das Rote Kreuz braucht. Sind normale Menschen im Stau, muss man alle 50 m ein paar Sixpacks Wasser ablegen; die Leute können sich dann selbst bedienen. Sind viele Didaktiker unter den Stauenden (nicht die Enden des Staus, sondern die männlichen, weiblichen und transen Personen, die im Stau stecken), muss das Rote Kreuz anhalten und ihnen die Bedienungsanleitung für die Wasserflaschen vorlesen - das kostet natürlich Zeit, vor allem wenn Christina ihr Wasser aus Gründen der Gleichberechtigung nicht von einem alten weißen Mann entgegennehmen will, sondern lieber wartet, bis eine junge Frau mit farbiger Haut daherkommt.

Schüler halten von solchen Aufgaben weit weniger als ich:


Offenbar merken die Kaiser unter den Didaktikern selbst dann nicht, dass sie keine Kleider anhaben, wenn man es ihnen sagt.

Ebenfalls dem gleichen Buch (Raphael Wess, Professionelle Kompetenz zum Lehren mathematischen Modellierens) entstammt die Heißluftballonaufgabe, die Herget (ein Meister im Erfinden bescheuerter Aufgaben, etwa zum Wasserstand in Badewannen oder Zeit-Weg-Diagramme beim Angeln) seit 20 Jahren in vielen Variationen (gleicher Text, verschiedene Bilder) veröffentlicht. Dabei kann man die Frage, wie viel Kubikmeter heiße Luft in diesen Ballon passen, schnell beantworten: So viel wie in einen halben Didaktiker.