Dienstag, 25. Juli 2023

Abitur Marokko

Ich hab mich jetzt etwas über das marokkanische Abitur schlau gemacht. Marokko hat etwa halb so viele Einwohner wie Deutschland und etwa halb so viele Abiturienten; weil die Bevölkerungspyramide dort ganz anders aussehen dürfte als hier, darf man daraus nicht schließen, dass die Abiturientenquote wie hierzulande etwa 40 % beträgt; die wirkliche Zahl dürfte deutlich darunter liegen. Außerdem wählt man in den letzten beiden Jahren eine Fachrichtung aus: entweder Literatur oder Naturwissenschaften oder Mathematik. Über den Daumen gepeilt dürften also weniger als 10 % eines Jahrgangs das Mathe-Abitur dort schreiben. 

Ansonsten ist die Durchfallquote im Abitur etwa ein Drittel - wer sich nicht anstrengt, ist weg. Man vergleiche das mit unserem glorreichen Bildungssystem, wo man bis in die K1 hochgehievt wird und man  dann, wenn klar ist, dass man das bisschen Abi nicht schafft, die Fachhochschulreife ausgehändigt bekommt, ohne auch nur einmal in seinem Leben eine Prüfung absolviert zu haben.

Und noch eins: Das marokkanische Abitur wird in Deutschland als Realschulabschluss anerkannt. Immerhin. 

Freitag, 21. Juli 2023

Der Schwingung

Helga Jungwirth forscht seit über 30 Jahren zu Gender und Mathematik, ist Autorin diverser (!) Bücher und Expertin auf ihrem Gebiet. Also eine Frau, von der mal als alter weißer Lehrer was lernen kann. Etwa über genderproblematische Aufgaben wie die folgende (aus diesem Heft auf Seite 24):

Gegeben ist eine Graphik, in der der zeitliche Verlauf der Stromstärke \(I(t)\) mit \(I(t) = I_0 \cdot \sin(w \cdot t) \) dargestellt ist (\(I\) in Ampere, \(t\) in Sekunden). Aufgabenstellung: Lesen Sie aus der Graphik den Scheitelwert \(I_0\)  der Stromstärke und den Wert der Kreisfrequenz \(w\) ab.

Dass Forschung in Sachen Gender und Mathematik wichtig ist, erkennt man daran, dass den meisten Lesern (und Leserinnen beiderlei Geschlechts und Hermaphroditen) vielleicht gar nicht klar ist, was daran gendertechnisch problematisch sein könnte.  Darum bekommen wir das auch erklärt:

Genderproblematisch bei dieser Aufgabe ist der Kontext, dem sie entstammt. Der Kontext Schwingungen weist im Gebiet Physik eine besonders starke männliche Konnotation auf. Denjenigen, die sich viel mit Elektrotechnik beschäftigen, sind Diagramme wie das gegebene vertrauter, was die Lösung der Aufgabe erleichtert. Außerdem betonen die Bezeichnungen Scheitelwert \(I_0\)  der Stromstärke und der Wert der Kreisfrequenz \(w\) in der Aufgabenstellung sowie die Nennung der Maßeinheiten noch den physikalischen Hintergrund. Dieses Szenario hat eine ganz direkte Verbindung zu der Aufgabenkultur des Mathematikunterrichts sowie zur Leistungsfeststellung.

So ganz überzeugt bin ich davon nicht. Bei einer Sinusfunktion den Scheitelwert abzulesen sollte funktionieren, ob es nun die Stromstärke oder die Geschwindigkeit eines süßen Einhorns ist. Auch die Kreisfrequenz ist kein Problem, wenn man den Text vergisst (sollte man heutzutage ohnehin können) und sich auf die auswendig gelernte Formel \(p = \frac{2\pi}w\) für die Periodenlänge verlässt. Ich habe bei der ganzen Sache auch eher das Gefühl, als würde Frau Jungwirth die ganze Physik für männlich konnotiert halten; jedenfalls sehe ich auf Anhieb nicht, inwiefern Mechanik, Quantentheorie oder Relativitätstheorie weniger männlich konnotiert sein sollen als Schwingungen.

Andererseits bin ich ja auch so etwas wie ein Fachmann für gendersensiblen Mathematikunterricht. Zumindest weiß ich noch, dass ich schon meine allererste Abiturklasse (Abi 2010) gefragt habe, warum um alles in der Welt gerade Frauen so ein großes Problem mit der Bestimmung der Periode einer Sinusfunktion haben. Seit heute weiß ich es: Schwingungen sind männlich.


Samstag, 15. Juli 2023

Marokko III

 Der Vollständigkeit halber die marokkanische Aufgabe zu komplexen Zahlen.

\(m\) sei eine komplexe Zahl \(\ne 2\) und \(\ne -i\). Wir betrachten die Gleichung

\[ z^2 - (m-i)z - im = 0 \]

in der Unbekannten \(z\). 

    1. Zeige, dass die Diskriminante der Gleichung \((m+i)^2\) ist.
    2. Bestimme die beiden Lösungen \(z_1\) und \(z_2\) dieser Gleichung.
    3. Schreibe \(z_1+z_2\) für \(m = e^{i \pi /8} \) in Exponentenschreibweise.
    4. Seien \(A = 2\), \(B = -i\) und \(M = m\) drei Punkte in der komplexen Ebene. Sei \(M'\) der Punkt, den man durch Spiegeln von \(M\) an der imaginären Achse erhält. Bestimme \(M'\) als Funktion von \(m\).
    5. Bestimme den Punkt \(N\), für den \(ANM'B\) ein Parallelogramm ist.
    6. Zeige, dass die Geraden \(AM\) und \(BM'\) genau dann orthogonal sind, wenn \[\text{Re}\ (2-i)m = \text{Re}\ m^2 \] gilt.
1. Offenbar ist die Diskriminante gleich \((m-i)^2 + 4im = (m+i)^2\). 
2. Die Lösungen erhält man am einfachsten mit Vieta:
    \[ z^2 - (m-i)z - im = (z + i)(z - m) = 0 \] 
   Also ist \(z_1 = -i\) und \(z_2 = m\). Die Berechnung der Diskriminante erlaubt auch die Anwendung     der abc-Formel.

3. Mit \(m = e^{\pi i/8} \)  ist \(z_1 + z_2 = -i + e^{\pi i/8} =  e^{2 \pi i/16} -  e^{8 \pi i/16} = e^{2 \pi i/16} (1 - e^{6 \pi i/16})\) errechnet sich der Betrag dieser Zahl mit \(t = \frac{2\pi}{16} \) zu \(|m-i|^2 = |1 - \cos(3t) - i \sin (3t)|^2 = (1 - \cos(3t))^2 + \sin(3t)^2 = 2 - 2 \cos(3t) \).  

Diese Rechnungen haben mir nicht gefallen wollen, weil die meisten Lösungen doch kürzer und eleganter sind. In der Tat geht es besser. Sei \(\zeta_n = e^{2\pi i /n} \) eine normierte \(n\)-te Einheitswurzel. Dann ist
\[ \zeta_{16} + i = \zeta_{16} + \zeta_{16}^4  = \zeta_{32}^2 + \zeta_{32}^8  =   \zeta_{32}^5  (\zeta_{32}^3+ \zeta_{32}^{-3}).\]
Der Ausdruck in der Klammer ist reell, und weil die Einheitswurzel vorne Betrag \( 1 \) hat, ist dies die gewünschte Darstellung.

4. Mit \(M = a+bi\) ist \(M' = -a+bi = - \overline{m}\).

5. Das Viereck \(ANM'B\) bildet genau dann ein Parallelogramm, wenn \(B-A = M'-N\) ist. Es muss also \(N = M' - B + A = -\overline{m} + 2 + i \) sein.

6. Die Geraden \(AM\) und \(BM'\) sind genau dann orthogonal, wenn es eine reelle Zahl \(r\) gibt derart, dass \((m-2)i = r(\overline{m}+i)\) gilt. Dies ist gleichbedeutend damit, dass \( r \) unter komplexer Konjugation invariant ist:
\[ \frac{mi-2i}{\overline{m}+i} = \frac{-\overline{m}i + 2i}{m-i} \]
Wegschaffen der Nenner und Division durch \(i \) zeigt, dass dies äquivalent ist zu
\[2m + 2\overline{m} + i\overline{m} - im = m^2 + \overline{m}^2 \]
und damit wegen \( \text{Re}\ z = z + \overline{z} \) zur Behauptung.
Es würde mich nicht wundern, wenn das etwas intelligenter ginge.

Wie in den Kommentaren angedeutet geht das in der Tat eleganter, wenn man erst nachrechnet, dass das Skalarprodukt für Vektoren in der Gaußschen Zahlenebene, welche den komplexen Zahlen \(z\) und \(w\) entsprechen, gleich Re\((z\overline{w}) \) ist.

Montag, 3. Juli 2023

An der Mathematik hängt alles

 Wenn sich drei Mathematikprofessoren in der FAZ zu Wort melden, darf man annehmen, dass die Vorschläge, die sie machen, wohldurchdacht sind. Der Titel des Beitrags, "An der Mathematik hängt alles", lässt einen vermuten, dass da nicht wirklich viel Neues kommt, denn dass man für ein MINT-Studium Mathematik braucht, wissen auch Leute außerhalb des Elfenbeinturms. Und immerhin wird das Grundübel der Bildungsreformen der letzten 20 Jahre direkt angesprochen:

Die angewachsene Abiturientenquote, die in den letzten 50 Jahren von 15 Prozent auf 40 Prozent der Schülerschaft gestiegen ist, hat zu einer geringeren Selektion geführt.

Dennoch stecken hier schon einige Fehler drin. Die Abiturientenquote ist nicht angewachsen, sie wurde erhöht. In diesem Zusammenhang sollte man den PISA-Schleicher teeren und federn; stattdessen gilt er in der Lügenpresse als Bildungsexperte. Zweitens ist es nicht die geringere Selektion, die einen anspruchsvollen Unterricht erschwert, sondern die Tatsache, dass bei den 50 % Abiturienten eben auch Schüler dabei sind, die vor 50 Jahren so was von überhaupt gar nicht das Gymnasium besucht hätten. 

Der dritte Fehler ist der schlimmste: Anstatt das Übel an der Wurzel zu packen, schwadronieren sie erst etwas herum und schlagen dann allen Ernstes vor, die Karikaturen von IQB-Aufgaben als zukunftsträchtig zu preisen und den unsäglichen Aufgabenpool zu loben, der gerade dabei ist, auch die letzten Reste von Mathematik aus der Abiturprüfung zu entfernen - von dem schier unglaublichen Scheißdreck namens Bewerten in den Naturwissenschaften fange ich hier gar nicht erst an.

Der ganz große Hammer kommt zum Schluss: 

  • Vor- und Orientierungskurse an den Unis sollen fest im Studium integriert werden, einschließlich Noten und Kreditpunkten.
  • Digitale Werkzeuge können im ersten Studienjahr eingesetzt werden, um Defizite in Grundfertigkeiten wie Bruchrechnen oder Termumformung zu beheben.
  • Um dies im Studium einzubinden, könnte es erforderlich sein, einige fortgeschrittene Lehrveranstaltungen zu streichen.

Im Ernst? Vorkurse zum Wiederholen des Schulstoffs werden auf das Studium angerechnet, und weiterführende Vorlesungen gestrichen? Soll das gegen das sinkende Niveau helfen? Bruchrechnen statt Galoistheorie? Man mag es gar nicht glauben. Und digitale Werkzeuge, um Defizite in Grundfertigkeiten zu beheben? Was erlauben Struuunz? Wenn digitale Werkzeuge Grundfertigkeiten in Bruchrechnen beheben könnten, würde ich diese in meinen Klassen verpflichtend einführen. Aber die einfache Wahrheit ist: Taschenrechner beheben keine Defizite, sie verfestigen sie. 

Immerhin: Wenn jetzt Bruchrechnen und Termumformung an der Uni gelehrt werden, können wir uns auf dem Gymnasium ja etwas zurücknehmen und stattdessen die Kartoffelaufgabe üben.


P.S. Den Beitrag von Herrn Kühnel auf Condorcet hatte ich übersehen.