Montag, 30. Oktober 2023

Große Forschung einfach erklärt: Häufigkeitsnetze

Karin Binder ist Professorin für Mathematikdidaktik  and der LMU München. Damit ist sie Mitglied der mathematischen Fakultät einer doch recht angesehenen Universität im Land der Dichterinnen und Denkerinnen. Im Zentralblatt finden sich von ihrer Feder genau 0 Artikel. 

Dennoch hat sie natürlich Sachen publiziert, und zwar vor allem eine: Das Häufigkeitsnetz. Bevor wir uns diesem zuwenden, schauen wir uns einige andere Ergebnisse ihrer Forschungen an. In

erklärt sie zusammen mit Patrick Wiesner, Prof. Dr. Stefan Krauss, Nicole Steib und Celina Leusch, wie man sechs verschiedene Darstellungsformen von 25 % ineinander umrechnen kann. Diese sechs Darstellungsarten

  • 25 %; 0,25; 1/4; einer von vier; jeder Vierte; Verhältnis 1:3, 

haben Prof. Dr. Binder und  Prof. Dr. Krauss schon 2020 in einem fast 40-seitigen Artikel 

  • Natürliche Häufigkeiten als numerische Darstellungsart von Anteilen und Unsicherheit Forschungsdesiderate und einige Antworten

untersucht, und jetzt werden sie ineinander umgerechnet. Wenn man das mit den andern ganzzahligen Prozentzahlen von 0 bis 100 auch macht, hat man schon 100 Publikationen zusammen. Schwieriger wird es, wenn man versucht, Brüche wie 1/7 in Prozent umzuwandeln; vermutlich werden die Studierenden, die sich dafür interessieren, dazu an eine ausländische Universität gehen müssen.


Damit ist das auch geklärt. 

Nun zum eigentlichen Thema: Vierfeldertafel und Häufigkeitsnetz. Serge Lang, einer der ganz großen alten weißen Männer in der Mathematik des 20. Jahrhunderts, hat sein Buch über elliptische Kurven so begonnen:

It is possible to write endlessly on elliptic curves. (This is not a threat.) 

Über Häufigkeitsnetze und Vierfeldertafeln kann man auch endlos schreiben, aber das ist eine Drohung:
  • Binder, Krauss,  Wiesner,  A new visualization for probabilistic situations containing two binary events: the frequency net. Frontiers in Psychology.  2023
  • Binder, Krauss, Steib,  Bedingte Wahrscheinlichkeiten und Schnittwahrscheinlichkeiten GLEICHZEITIG visualisieren: Das Häufigkeitsnetz  2022
  • Binder, Steib, Krauss,   Von Baumdiagrammen über Doppelbäume zu Häufigkeitsnetzen – kognitive Überlastung oder  didaktische Unterstützung?  2022
  • Binder, Steib, Krauss,   Das Häufigkeitsnetz - Alle Wahrscheinlichkeiten auf einen Blick erfassen 2021
  • Wiesner, Binder, Krauss,  Das Häufigkeitsnetz – Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten geschickt verNETZt.  2020
  • Binder, Weber, Krauss,   Visualisierungen als Begründungshilfen in der Stochastik, 2019
  • Binder, Krauss, Wassner,  Der Häufigkeitsdoppelbaum - Anteilswerte und bedingte Wahrscheinlichkeiten vorteilhaft visualisieren, 2019, 
  • Bruckmaier, Binder,  Krauss, Kufner,  An Eye-Tracking Study of Statistical Reasoning With Tree Diagrams and 2 × 2 Tables,  2019
  • Binder, Krauss, Wassner,  Der Häufigkeitsdoppelbaum als didaktisch hilfreiches Werkzeug von der Unterstufe bis zum Abitur,  2018
  • Binder, Förderung Bayesianischen Denkens. 2018 Dissertation Regensburg (Dr. phil. nat.)
  • Binder, Marienhagen, Bayes’sches Denken – Schritt für Schritt – Mit Häufigkeiten und Baumdiagrammen Einsichten in komplexe Probleme ermöglichen, 2017
  • Binder, Bruckmaier, Krauss,  Marienhagen, Was bedeuten medizinische Testergebnisse wirklich. Baumdiagramme zur Visualisierung Bayesianischer Aufgaben. 2016
  • Binder,  Krauss, Bruckmaier, Marienhagen, Visualization of Complex Bayesian Tasks, 2016
  • Binder,  Krauss, Bruckmaier,  Visualisierung komplexer Bayesianischer Aufgaben, 2016
  • Binder,  Krauss, Bruckmaier,  Effects of visualizing statistical information – An empirical study on tree diagrams and 2 x 2 tables,  2015
Ich habe mich dabei nicht um Vollständigkeit bemüht. 

Ihre Dissertation war kumulativ, d.h. sie hat drei Artikel, die sie zusammen mit Krauss, Bruckmaier und Marienhagen geschrieben hat, als Dissertation eingereicht. Erstaunlich, was heutzutage alles geht. Und drei Jahre später war sie Professorin an der LMU. 

Was ist nun ein Häufigkeitsnetz? Es dient, wie ein Baumdiagramm oder ein "Doppelbaum", der Visualisierung bedingter Wahrscheinlichkeiten. Schulisch liegt hier kein Problem vor: mit einem Baumdiagramm hat eigentlich niemand großartige Probleme. Aber man kann ja eines daraus machen, und das ist Prof. Binder gelungen:



Wenn man also wissen will, mit welcher Wahrscheinlichkeit Krebs vorliegt, wenn das Testergebnis positiv ist, rechnet man alle denkbaren bedingten Wahrscheinlichkeiten aus und sucht sich dann die richtige raus. Es versteht sich von selbst, dass sich revolutionäre Ideen wie diese  nicht von alleine durchsetzen, also muss man schon etwas Werbung dafür machen. Das erklärt die vielen Publikationen zu diesem Thema.

In ihrem Artikel
  • Im Vordergrund steht das Problem – oder: Warum ein Häufigkeitsnetz?
haben Norbert Henze und Reimund Vehling unmissverständlich klargemacht, dass das Häufigkeitsnetz schulisch Unsinn ist; die Schüler hätte ich gerne, die so ein Netz verstehen und korrekt berechnen können. Allerdings haben sie wohl das Kleingedruckte übersehen: Schüler müssen das Häufigkeitsnetz gar nicht berechnen, es wird ihnen mitgeliefert. Jedenfalls hat Prof. Binder das mit ihren Studenten so gemacht: die einen mussten die Wahrscheinlichkeiten ausrechnen, die anderen bekamen das vollständig ausgefüllte Häufigkeitsnetz mitgeliefert. 


Die große Überraschung war dann, dass die Studenten mit dem Häufigkeitsnetz viel öfter die richtige Antwort fanden als die Selbstrechner. Das ist ganz großes Kino. Offenbar war es Binder & Co ein wenig peinlich, dass Henze und Vehling das übersehen hatten.  Also haben sie in ihrem 30-seitigen Artikel über didaktische Unterstützung die Sache klargestellt:

In der vorliegenden Studie wurden vollständig ausgefüllte Visualisierungen gezeigt,  sodass weiterhin ungeklärt bleibt, ob nicht bei der eigenständigen Erstellung der  jeweiligen Visualisierungen die kognitive Belastung höher als die didaktische Unterstützung ist.

Das kann man nicht oft genug sagen, wenn die 30 Seiten voll werden sollen:

In Bezug auf das Häufigkeitsnetz fehlen diesbezüglich aber bislang Erkenntnisse,
inwiefern Schülerinnen und Schüler entsprechende Diagramme selbstständig anfertigen
können.

Seit 8 Jahren forscht sie also daran, dass das bayesianische Denken gefördert wird, wenn man die Ergebnisse gleich mitliefert. Und es ist nicht so, dass sie das alleine geschafft hätte:

Die vorliegende Forschungsarbeit ist Teil des übergeordneten Projekts „Bayesian Reasoning“, ein kooperatives Forschungsprojekt der Universitäten Freiburg, Kassel und Regensburg sowie der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Ludwig-Maximilians-Universität München zur Untersuchung der Unterstützung des Bayesianischen Denkens: http://www.bayesianreasoning.de/bayes.html.

Da könnte man jetzt noch was Schlaues dazu sagen, wenn einem was einfiele. 




Montag, 23. Oktober 2023

Lügenbeutel oder nur doof?

 Diese Frage stellt man sich oft, wenn man Nachrichten aus Wokistan liest. So haben sich schon vor einiger Zeit die Bayreuther "Literaturwissenschaftlerinnen" Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard  an der Etymologie des rassistischen Begriffs "Mohr" versucht. Anstatt bei Wikipedia nachzuschauen, haben sie die etymologische Herkunft des Wortes frei erfunden, damit auch wirklich jeder Mensch beiderlei oder dreielei Geschlechts einsieht, wie rassistisch das Wort ist. Wikipedia meint, im Einklang mit lateinischen Wörterbüchern wie pons, dass das Wort vom lateinischen maurus abstamme und Bewohner Mauretaniens (allgemeiner Nordafrikas) bezeichnet. Mauretanien tut den Autorinnen aber nicht den Gefallen, rassistisch zu sein, ebensowenig wie Niger oder Nigeria; also leitet man das Wort auch vom griechischen "moros" her, was dümmlich oder idiotisch bedeutet. Man nennt das wohl "Lügen für einen guten Zweck". Also dafür, dass man Leuten, die Mohrenkopfwecken sagen, Rassismus vorwerfen kann. Das heiligt allemal die Mittel.

Ein weiterer woker Lügner vor dem Herrn ist Prof. Timothy Kim von der ehemals angesehenen Yale University, der sich in einem Aufsatz für die Washington Post dem Thema Rassismus in der Mathematik hingibt.  Darin beschwert er sich, dass der euklidische Algorithmus nach Euklid benannt ist, während der chinesische Restsatz nicht nach Sun Tse benannt ist. Mathematik ist halt rassistisch. Dass Euklid seine Aussagen bewiesen hat und Sun Tse eine Regel aufgestellt hat, die viel später (ohne dass sie von den chinesischen Vorarbeiten wussten) Bezout, Euler und Gauss bewiesen haben, tut nichts zur Sache. Die Faktenlage ist die: Wiley hat 1852 in Europa bekannt gemacht, dass sich dieser Satz bei Sun Tse findet; diese Tatsache wurde relativ schnell bekannt, und in der Besprechung eines Artikels im Jahrbuch für die Fortschritte der Mathematik aus dem Jahre 1881 heißt es:

Man muss also Herrn Matthiessen und seinem Freunde, dem bekannten mathematischen Sinologen A. Wylie in Shanghai, für diese Ehrenrettung des Sun-tsè sehr dankbar sein; hoffentlich bestätigt sich auch die von Wylie ausgesprochene Hoffnung, demnächst noch weitere Materialien zum besseren Verständnis altchinesischer Zahlenwissenschaft aufzufinden.

 1929 hat Dickson den Satz dann "chinesischer Restsatz" genannt. Damit kann man, wenn man diesen Leuten Rassismus vorwerfen will, nicht viel anfangen. Bei Prof.  Kim sieht das Lügen für den guten Zweck dann so aus:

In 1929, a White mathematician at the University of Chicago named L.E. Dickson popularized the CRT in the English-speaking world and simultaneously stripped away Sun Tzu’s name.

Dickson war also Weiß. Schande. Zweitens hat er den Satz chinesischer Restsatz und nicht Satz von Sun-Tsu genannt; ich vermute, weil Dickson ein Weißer Mathematiker war, und als solcher der rassistischen Philosophie anhängt, dass man einen Satz nach demjenigen benennt, der ihn nach bestem Wissen und Gewissen zuerst bewiesen hat. Da ist Prof. Kim aber anderer Ansicht:

Why did Dickson remove Sun Tzu’s name from the theorem? We can’t know what was in his heart, but we know that Dickson made the choice amid a surge of anti-Asian violence in the United States stretching back to the late-19th century. For example, in Rock Springs, Wyo., in 1885, a White mob torched the local Chinatown and killed 28 Chinese immigrants.

So machen das Weiße Rassisten wie Dickson. Sie streichen den Namen eines chinesischen Mathematikers 1929 aus einem Satz, weil es 40 Jahre vorher in einem mehr als 1000 Meilen entfernten Bundesstaat ein Massaker an Chinesen gegeben hat. Belege braucht es keine; schließlich war Dickson Weiß, das muss reichen.


Jamshedji Tata

Jamshedji Tata (1839-1904) gilt laut Wikipedia als Vater der indischen Industrialisierung. Das folgende Zitat habe ich in der exzellenten Aufgabensammlung "Challenge and thrill of pre-college mathematics" gefunden:

Was eine Nation oder eine Gesellschaft voranbringt ist nicht so sehr das Aufpäppeln seiner schwächsten und hilflosesten Mitglieder, sondern das Hochheben der besten und talentiertesten.

Wir haben in Deutschland (wie in anderen Ländern Europas auch) einen  anderen Weg gewählt und versuchen verzweifelt, solchen Schülern realitätsnah die Integralrechnung beizubringen, die ein halbes Jahr nach dem Abi nichts mehr davon wissen und den Rest ihres Lebens herumlaufen werden und erzählen, dass sie das in ihrem ganzen Leben nicht mehr gebraucht haben.

Diese Art von Forschungsförderung in Deutschland schon ab dem Kindergarten trägt inzwischen Früchte. So erschien diesen Monat der Artikel "Fair coins tend to land on the same side they started: Evidence from 350,757 flips", in dem nachgewiesen wurde, dass eine faire Münze eher auf der Seite landet, die zuerst oben gelegen hat. Dazu haben ca  50 Wissenschaftler von niederländischen und deutschen Universitäten (vor allem aus den Bereichen Psychologie und Psychiatrie) sowie einige Schüler und Doktoranden mehr als 350.000 mal Münzen verschiedener Währungen geworfen und festgestellt, dass sie mit 51 % Wahrscheinlichkeit auf derselben Seite landet.

Von solchen Forschungsergebnissen kann man in Indien nur träumen. Im August dieses Jahres ist die indische Raumsonde Chandrayaan-3 sanft auf dem Mond gelandet.

Samstag, 21. Oktober 2023

Witzipedia

 Manche Pointen sieht man nicht kommen.

Wikipedia erklärt uns die Wissenschaft Mathematikdidaktik:

Mathematikdidaktik ist die Fachdidaktik für das Fach Mathematik und beschäftigt sich als Wissenschaft mit dem Lehren und Lernen von Mathematik  für alle Altersstufen.

Das kann man glauben oder auch nicht. Mir kommt es vor, als beschäftige sich die Mathematikdidaktik mit dem Erstellen von Tests und der Fehlinterpretation der gemessenen Resultate. In die Lehre eingegriffen hat die Didaktik mit dem forcierten Anwendungsbezug. Echte Anwendungen, etwa in der Physik, wurden eliminiert und dafür erfundene Anwendungen (beispielsweise die Berechnung der Schneehöhe aus deren Änderungsrate) eingeführt. Das eigentliche Rechnen (mit Ableitungen und Integralen) wurde ersetzt durch Ablesen der Steigung aus dem Schaubild, dem berüchtigten Kästchenzählen und den gefürchteten  Interpretationen im Sachzusammenhang, die mit Mathematik nur peripher etwas zu tun haben und begabten Schülern jede Lust an der Mathematik vertreiben. Und wenn tatsächlich jemand Mathematik studiert, weil sie gerne Schneehöhen berechnen möchte, dann wird sie im ersten Semester mit Dingen konfrontiert, die sie im schulischen "Mathematikunterricht" nie gehört hat. Die Frage, was jemand mit der Berechnung von Schneehöhen anfangen soll, der kein MINT-Fach studiert oder eine Ausbildung macht, harrt ebenfalls noch einer Antwort seitens der modernen Didaktik.

Und ganz zum Schluss des Wikipedia-Artikels der Treppenwitz, über den man lachen könnte, wenn es nicht so traurig wäre:

Im Rahmen der didaktischen Auseinandersetzungen, wie Mathematikunterricht an den Schulen und Hochschulen besser vermittelt werden kann, stellt sich in der Bundesrepublik (im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich) die Frage, wieso immer weniger Personen den Beruf des Mathematikers trotz guter Berufsaussichten ergreifen wollen und trotz des Anwendungsbezugs anscheinend ein gesellschaftlich sogar anerkanntes Desinteresse an der Mathematik vorherrscht.

"Trotz des Anwendungsbezugs" ein Desinteresse an der Mathematik? Man muss schon Didaktiker sein, um einen solchen Satz schreiben zu können.


Dienstag, 10. Oktober 2023

Fachkräftemangel

Seit Beginn des Schuljahres benutze ich neben Fahrrad und meinen Beinen hin und wieder die öffentlichen Verkehrsmittel, also Bus und Bahn, und lasse mein Auto stehen, auch wenn mich das Zeit kostet. Was die Bahn sich im letzten Monat alles geleistet hat, stellt die Katastrophe beim 9-Euro-Ticket in den Schatten. Dass das Landvolk mit seinen 49 Euro die Versorgung durch öffentliche Verkehrsmittel in den Städten und Ballungszentren bezahlt, ärgert mich nicht wenig; bei uns fährt alle 2 Stunden ein Zug, wenn er denn fährt.

Schon meine erste Reise nach Heidelberg mit dem Deutschlandticket war nach 10 km zu Ende. Die Verspätung meines Anschlusszugs in Crailsheim wurde alle 10 Minuten geändert, und letztendlich haben wir 2 Minuten vor dem Einsteigen erfahren, dass der Zug, der mit 35 min Verspätung angekommen war, nicht bis nach Heilbronn, sondern nur nach Öhringen fahre. Das wollte ich mir dann doch nicht antun.

Die Züge morgens um 8:00 fallen mit schöner Regelmäßigkeit wegen unvorhergesehener Erkrankung 10 min vor der Abfahrt aus. Auch die Heimfahrt um 14:00 ist mir wegen "Reparaturen" schon ausgefallen. Die Fahrt nach Stuttgart mit Klasse 9 fiel ins Wasser, weil der 8:00-Zug nicht fuhr.

Die ganz großartigen Leistungen erfährt man aber erst, wenn man sich ein bisschen umhört. Der Bahnhof Goldshöfe ist Schnittpunkt der Bahnlinien zwischen Aalen-Bopfingen und Aalen-Ellwangen; außer einem alten Bahnhofsgebäude gibt es da nichts. Keine Informationen, keine Toilette, einfach gar nichts. Wie man hört, hat ein Zug nach Aalen beim Halt in Goldshöfe den Fahrgästen erklärt, dass sie jetzt aussteigen müssen; dann ist er weitergefahren, wohin auch immer. Informationen gab es keine; entweder hat man ein Handy und lässt sich abholen,  oder man hat keines und schlägt sich 3 km bis zur nächsten Ortschaft durch, wo man jemanden um Hilfe bitten kann. 

Die andere Großleistung war das Fällen eines Baums entlang der Bahnlinien letzte Woche. Der Regionalzug fährt alle 2 Stunden. Also wartet man mit dem Baumfällen am besten, bis um 17:55 der Zug aus Ellwangen kommt. Dann sichert man den Baum nicht und sägt ihn so ab, dass er in den fahrenden Zug fällt. Den Fahrgästen erklärt man, dass sie den Zug nicht verlassen und die 800 m bis zum Bahnhof Jagstzell zu Fuß zurücklegen dürfen, sondern hält sie 3 h im Abteil, bis man die Feuerwehr und einen Ersatzbus organisiert hat. Die nächsten 2 Tage ist dann gar keine Bahn mehr gefahren.

Gut - zuerst hatten sie kein Glück, und dann kam noch Pech dazu. Aber hier auf dem Land ist die Bahn ein Witz. Und ich sehe mit Staunen, was bei der Bahn inzwischen als Fachkraft gilt. Insbesondere was das Fällen von Bäumen angeht.

Freitag, 6. Oktober 2023

Lesen, Rechnen, Schreiben, Lesch

 Unlängst durfte Herr Lesch im ZDF in einer Doku  dem geneigten Publikum erklären, was es mit der KI und der Zukunft und eigentlich mit allem so auf sich hat. Ich mag den Lesch nicht und hab mir das nicht angetan, aber in einer Werbepause bin ich dann über seine Präsentation der Kompetenzen gestoßen, die man künftig braucht, und derjenigen, die künftig nicht mehr relevant sind. Diese Kompetenzen (dort heißen sie skills) veröffentlicht das World Economic Forum (wieder so eine okkulte Organisation, die die Welt verbessern möchte) jedes Jahr, und es gibt Gewinner und Verlierer. Die hat Lesch in seiner Doku ab 27:30 vorgestellt. Ganz oben natürlich analytisches und kreatives Denken, KI und big data. Abgeschlagen auf den hinteren Plätzen und deutlich abgefallen ist die Kompetenz "Lesen, Schreiben und Mathematik". Die wird also künftig keine große Rolle mehr spielen. Da ist Deutschland, das muss man neidlos anerkennen, schon auf einem guten Weg. 

Dass ein studierter Physiker diesen Blödsinn, ohne ihn zu hinterfragen, als das neue Evangelium verkauft, lässt tief blicken und erklärt meine Abneigung gegen diesen Hansel. Wie, Herr Lesch, soll jemand analytisch und kreativ denken können, wenn es mit Lesen, Rechnen und Schreiben nicht weit her ist? Wir denken in Sätzen, und wer keine Sätze mehr lesen kann, die länger als 8 Wörter sind, dem möchte ich beim kreativen und analytischen Denken viel Glück wünschen. 

Aber wir leben halt in einer Zeit, in der eine Professorin, die die Grundlagen ihres Fachs nicht versteht, den Medienpreis der DMV für ihre tollen Videos bekommt. Oder, um es mit so wenig Wörtern zu sagen, dass man das auch in 10 Jahren noch lesen kann: Schein statt sein. 

Tupeldubbel

Mit einem Schreiben vom 13. September hat das KM BW seinen Untertanen kundgetan, dass die Anhörung des neuen Bildungsplans Gymnasium Mathematik am 18. September beginnt; Lehrer haben dann 6 Wochen Zeit, sich (unter Angabe der Kompetenznummer) zu einzelnen Punkten zu äußern.

Machen wir es kurz: Das Ding ist für die Tonne. Aber überfliegen sollte man es ja doch, damit man weiß, was in den nächsten Jahren auf einen zukommt. Und da war ich dann doch etwas überrascht, dass es in der Oberstufe Dinge gibt, die ich bisher übersehen hatte: In Klasse 11/12 gibt es unter der "Leitidee Zahl - Variable - Operation" Folgendes zu Lesen:

Komplexere Ableitungsregeln sowie grundlegende Integrationsregeln werden angewendet, das Operieren mit Tupeln wird auf Produkte erweitert und geometrisch interpretiert.

Da war ich kurz perplex, denn von Tupeln war in der Analysis bisher nie die Rede. Durchforsten des Dokuments zeigt, dass Tupel in Klasse 9 auftauchen:

Sie beantworten Fragestellungen im Zusammenhang mit exponentiellen Wachstumsvorgängen, auch unter Verwendung elektronischer Hilfsmittel. Sie lernen Tupel und die zugehörigen Operationen kennen. In der Analysis verwenden sie grundlegende Regeln zum Ableiten von Funktionstermen.

Ich habe bisher nie Tupel und ihre Operationen unterrichtet. Wahrscheinlich schneiden meine Schüler deswegen so schlecht im Abi ab. Das Rätsel der Tupel wird dann auf S. 32 gelüftet: Dort geht es darum,  "mit Vektoren in der Tupeldarstellung" zu arbeiten:

Tupel addieren, mit Skalaren multiplizieren sowie Tupel in einfachen Fällen als Linearkombination anderer Tupel darstellen und die Operationen geometrisch deuten.

Tupel sind also vermutlich so etwas ähnliches wie Vektoren: Man kann sie addieren, skalar multiplizieren, und in einfachen Fällen als Linearkombinationen anderer Tupel darstellen. Der Mathematiker würde sagen: Tupel sind Elemente eines Tupelraums. Allerdings ist es nicht so, dass Vektoren Tupel wären oder Tupel Vektoren, sonst würde sich ja niemand im RP die Mühe machen, einen neuen Begriff einzuführen. Aber immerhin kann man Vektoren als Tupel darstellen und dann interpretieren:

Vektoren in Tupeldarstellung entsprechend ihrer Verwendung geometrisch als Punkt oder Verschiebung interpretieren

Vor 15 Jahren hätten mir die Zweitkorrektoren noch erklärt, dass man Punkte weder addieren, noch subtrahieren kann, Vektoren dagegen schon; heute sind Vektoren auch Punkte: die Tupeldarstellung macht's möglich. Und dann lernt man eben in Klasse 11, wie man das Operieren mit Tupeln auf Produkte erweitert. Gemeint ist, dass man Tupel multiplizieren kann. Das Produkt zweier Tupel ist dann entweder ein 1-Tupel, etwa beim Skalarprodukt, oder ein 3-Tupel beim Kreuzprodukt. Damit kann man im Prinzip auch die Länge eines Punktes oder den Winkel zwischen zwei Punkten bestimmen, wenn man Punkte wieder  als Tupel interpretiert. 

Was glaubt man im Kultusministerium dadurch zu gewinnen, dass man statt Skalarprodukt und Kreuzprodukt von Vektoren jetzt vom Erweitern des Operierens mit Tupeln auf Produkte spricht? Ich vermute, da möchte jemand mit seinem Halbwissen angeben. Und ich werde meine Vermutung zurücknehmen, wenn man in 5 Jahren in BW das Operieren mit Tupeln auf die Division und das Wurzelziehen erweitert.