Montag, 15. Januar 2024

Mathe könnte Spaß machen - Betonung auf: könnte

So heißt der Titel eines Artikels in der lokalen Presse, den man, mit anderem Titel, aber demselben Text, hier findet. Der dpa-Text beginnt mit einem Loblied auf Daniel Jung, seines Zeichens youtuber, seit er sein Studium von Sport und Mathematik geschmissen hat. Und wie alle Leute, die von Mathematik und Unterricht keine Ahnung haben, hat er gute Ratschläge für diejenigen, die sich seit vielen Jahrzehnten die guten Ratschläge von Leuten anhören müssen, die von Mathematik und Unterricht keine Ahnung haben. Jungs Idee: 

Der Unterricht muss dringend weg vom rezeptartigen Vortrag von Formeln, ohne dass die Jugendlichen wissen, wofür sie die brauchen.

Man weiß nicht, ob man da lachen oder weinen soll. Daniel Jung, der seine Brötchen damit verdient, in Hunderten von Videos Formeln rezeptartig vorzutragen, ohne dass die Jugendlichen wissen, wofür sie die brauchen: Dieser Daniel Jung schlägt vor, dass wir davon weg müssen.

Ich glaube auch nicht, dass wir von Rezepten weg müssen. Beim Erlernen der Mathematik kommt man um Rezepte nicht herum. Wie etwa soll man einem Schüler beibringen, dass \[\sqrt{2} + \frac1{\sqrt{2}} = \sqrt{2} + \frac{\sqrt{2}}{2} = \frac32 \cdot \sqrt{2}\] ist ? Das entsprechende Gesetz kann man für Brüche, deren Zähler und Nenner kleine natürliche Zahlen sind, mit kleinen Rechtecken wunderbar realisieren: Man zeigt, dass \(\frac12 = \frac36\) und  \(\frac13 = \frac26\) sind und addiert die Sechstel. Dann muss man dieses Rezept (Nenner gleichnamig machen und die Zähler addieren) so lange üben, bis man es verinnerlicht hat, und dann kann man es ohne große Probleme auf Brüche mit Quadratwurzeln übertragen. Ob man von Rezepten wegkommt und das Verständnis vermehrt, wenn man solche Dinge beweist, indem man etwa die Intervallschachtelung wieder einführt, die die Didaktik mangels Anwendungsbezug aus dem Lehrplan geworfen hat, weiß ich nicht. Dass wir heute in der Oberstufe fast nur noch Rezepte unterrichten verdanken wir aber schon der modernen Didaktik, die ja nicht nur die Intervallschachtelung, sondern Ungleichungen und Definitionen und Beweise sorgfältig und Schritt für Schritt eliminiert hat. Tatsächlich wäre ich schon froh, wenn die Lehrer in ihrer Ausbildung die Konstruktion der reellen Zahlen (Landau!) so ausführlich durchkauen würden, dass sie zumindest im Nachhinein die vielen Lücken erkennen, die man im heutigen Schulunterricht lassen muss. 

Der zweite Fachmann mit guten Ratschlägen für Mathematikunterricht hat ebenfalls keine Ahnung von Unterricht und Mathematik, sondern ist Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz. Florian Fabricius geht die Trennung in Einzelfächern auf den Keks; er glaubt, Kurvendiskussionen sollten 

anhand konkreter wirtschaftlicher Entwicklungen erklärt werden. Wenn man merke, dass alles zusammenhängt und sich ein Gesamtbild ergibt, mache Lernen Spaß.

Das kann man gerne glauben. Meine Schülerinnen haben große Schwierigkeiten zu sehen, wie sich ein Gesamtbild ergibt, weil sie den ganzen Stoff, den man 8 Wochen eingeübt hat, nach 10 Wochen wieder vergessen haben. Und ich wüsste nicht, warum ich an der Schule mit einem Studium von Betriebswirtschaft anfangen sollte; das ginge deutlich mehr Schülern auf den Keks als binomische Formeln. 

Aber Fabricius weiß noch mehr:

45 Minuten Frontalunterricht sind veraltet.

Direkt aus dem Glaubensbekenntnis der modernen Didaktik. Sozusagen ein Axiom, das so lange gilt, bis die Didaktik ein neues erfindet. Nach Fabricius jedenfalls sollen sich Schülerinnen und Schüler

selbst engagieren und projektbezogen mathematische Probleme lösen.

Mit welchen Techniken sie diese Probleme lösen sollen und wer ihnen wann diese beigebracht hat, erklärt und der Herr Generalsekretär nicht.

Auch der Vorsitzende der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, Prof. Reinhard Oldenburg, schlägt in diese Kerbe: 

Wichtig sei, sich von abstrakten, weltfremden Fragen zu entfernen und Aufgaben am realen Leben zu orientieren. 

Meine Güte - wir machen seit 15 Jahren nichts anderes als abstrakte Themen aus dem Lehrplan zu entfernen und "realitätsnahe" Aufgaben durchzunudeln. Das mathematische Niveau ist in diesen Jahren ins Bodenlose gesunken, und die Lösung dieses Problems besteht darin, noch mehr davon zu machen? Das muss man sich erst mal trauen. Sehr gefallen hat mir dagegen der Satz

Therme mit x und y könne man anhand von Bildverarbeitungsprogrammen erläutern.

Das lass ich mal so stehen. 

Weil ich oben auf  das Glaubensbekenntnis der heutigen Bildungsreligion angespielt habe, sei es hier in voller Länge zitiert, und zwar aus Konrad Paul Liessmanns Buch "Bildung als Provokation":

Ich glaube daran, dass jedes Kind gleich, aber einzigartig ist, voll von Begabungen und Talenten, die entdeckt und gefördert werden können; ich glaube daran, dass jedes Kind kreativ und innovativ ist und nur durch ein schlechtes Schulsystem daran gehindert wird, selbst alles zu entdecken, was es zu entdecken gibt; ich glaube, dass jedes Kind am besten selbst weiß, was und wie es lernen will; ich glaube an die Segnungen der Digitalisierung, die es jedem erlaubt, jederzeit alles zu lernen und alles zu wissen. Ich glaube deshalb, dass die Belastung des jugendlichen Gedächtnisses mit Wissen unnötig, ästhetische Kanons ein Übel, Inhalte verwerflich und Frontalunterricht des Teufels ist; ich glaube an den Lehrer als Coach, als Begleiter, als Berater, der sozial kompetent im Hintergrund autonomer Lernprozesse lauert und dem nur eines verboten ist: zu lehren. Ich glaube an Teams, an Projekte, an Kommunikation. Ich glaube an die heilige Dreifaltigkeit von Kompetenzorientierung, Individualisierung und Standardisierung. Ich glaube an die inklusive Schule und an die inklusive Gesellschaft; ich glaube an die Matura, das Abitur für alle.

Arg viel mehr wissen die Fachmänner für mathematische Bildung anscheinend auch nicht. Eine Fachfrau muss auch dabei sein: Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie meint, dass das Rechnen beim Malerbetrieb nicht mehr so wichtig sei, weil es viele digitale Hilfen gibt. 

Fabricius sieht die Erklärvideos von Daniel Jung als Unterstützung. Er 

fände es gut, wenn Lehrer solche Videos und den Umgang damit erläutern.

Das kann ich gerne machen und ist in 5 Sekunden passiert. Was Jung in seinen Videos macht, braucht niemand. Was wir bräuchten, aber nicht einmal im Ansatz haben, sind Schüler, die Liessmanns Buch lesen können und verstehen, wie man ihre ganze Generation mit unserem neuen Bildungskanon verraten und verkauft hat.

2 Kommentare:

  1. Zu diesem Beitrag sind ein paar Dinge zu sagen:
    Erstens: Die Videos von Daniel Jung sind an mathematischer und didaktischer Unsinnigkeit kaum zu überbieten. Dass die Medien ihm die Möglichkeit gegeben haben, für seinen Murks zu werben, ist ein echtes Problem, dass Politiker das gut finden, ein noch größeres.
    Zweitens: Die beiden mir zugeschriebenen Aussagen beruhen auf einem Telefoninterview durch die dpa und wurden in verschiedenen Medien wiedergegeben, zB https://www.sueddeutsche.de/bildung/bildung-woran-der-mathe-unterricht-krankt-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-231208-99-223822 . Ich denke nicht, dass ich dabei „Terme“ als „Therme“ ausgesprochen habe, buchstabiert habe ich aber nicht, zugegeben. Inhaltlich steht ich voll dahinter: Bildverarbeitung ist ein authentischer Kontext, der motiviert und die Relevanz von Mathematik überzeugend zeigt, da gibt es ausreichend Erfahrung. Wir bräuchten viel mehr Ideen dieser Art.
    Drittens: Den Satz „Wichtig sei, sich von abstrakten, weltfremden Fragen zu entfernen und Aufgaben am realen Leben zu orientieren.“ Habe ich so sicher nicht gesagt und es gab keine Rückmeldung nach dem Telefonat bevor der Text online ging. Was ich sagen wollte ist an dieser Stelle nicht gut rübergekommen. Weiter unten im Text steht aber zB „Dass auch Themen gelehrt werden, die auf den ersten Blick nicht viel mit dem Alltag zu tun haben, hält Oldenburg für richtig.“ Das passt schon eher zu dem, was ich gesagt habe.
    Viertens: Wenn es Herrn Lemmermeyer gelingt, mit dem Rationalmachen des Nenners seine Schüler zu begeistern, Glückwunsch, mir scheint das eher schwer, denn den wahren Wert sieht man eigentlich erst, wenn man die Struktursicht entwickelt hat und erkennt, dass eine quadratische Körpererweiterung Grad 2 hat. In der achten Klasse kann man Nenner rational machen, extrem wichtig ist es mE da nicht, und die meisten SuS werden die Relevanz nicht erkennen.
    Fünftens: Das Wort „Rezepte“ bezeichnet offensichtlich verschiedene Begriffe. Was Herr Lemmermeyer darunter versteht ist vermutlich das, was man als Didaktiker als „Verfahren“ bezeichnen würde. Zu einem Verfahren gehört aber nicht nur das prozedurale Wissen über die Durchführung, sondern auch konzeptuelles Wissen zu Voraussetzungen und Eigenschaften des Ergebnisses – und idealerweise auch das Verständnis, warum das Verfahren funktioniert. Bei „Rezept“ schwingt , didaktisch gesehen, immer ein „unverstanden“ mit. Also: Verfahren sind wichtig. Unverstandene Rezepte sind aber gefährlich: Sie erziehen zum Untertanen, der einfach macht, was man ihm sagt.

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  2. 1. Im Artikel haben Sie sich mit Kritik an Jungs Videos sehr zurückgehalten.
    2. Dass Sie "Therme" schreiben könnten habe ich sicherlich nicht implizieren wollen. Aber wenn schon ein dpa-Artikel erklärt, wie man Mathematik richtig unterrichtet und dann nicht einmal den Begriff Term richtig buchstabiert, dann ist das ein Armutszeugnis. Ebenso wie die Tatsache, dass man als Experten einen Youtuber, einen Schülerpolitiker, einen Didaktiker und eine Wirtschaftswissenschaftlerin aus der Legasthenie-Ecke fragt. Kommt es Ihnen nicht auch so vor, als würde da ein Berufszweig fehlen?
    4. Ziel des Mathematikunterrichts ist es nicht, die Schüler zu bespaßen. Die Freude an der Mathematik kommt von alleine, wenn man sie beherrscht - das ist beim Lernen von Musikinstrumenten auch so.
    5. Ich hoffe nicht, Sie wollen zwischen den Zeilen andeuten, ich wollte oder würde meine Schüler zu guten Untertanen erziehen.

    Ansonsten würde ich jedem raten, bei Journalisten darauf zu bestehen, dass man den Text vor der Veröffentlichung einsehen kann.

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