Ich möchte an dieser Stelle einige Bemerkungen zum Buch
Büchter, H.-W. Henn,
Elementare Analysis. Von der Anschauung zur Theorie, Spektrum 2010
machen, nicht weil es ein besonders wichtiges oder besonders schreckliches Buch wäre, sondern weil es aussieht wie Dutzende andere zeitgenössische Traktate, in denen der immergleiche Schmuh von praktisch der gesamten heutigen Generation der Didaktiker breitgetreten wird.
Alles ist Modell
Man wird bei der Energie, mit dem dieser Personenkreis alles in ein Schema presst (Modellierung ist nicht das einzige Modewort in diesem Zusammenhang; auch Grunderfahrungen, Leitideen und Kompetenzen sind Begriffe, denen man alles - und ich meine wirklich alles - unterordnen kann), unweigerlich an
Monty Python erinnert (noch ältere Leser werden sich an das panta rhei von Heraklit erinnern). So heißt es auf S. 7:
Dabei sind Funktionen selbst universelle mathematische Modelle . . .
Heutzutage ist, wie gesagt, alles ein mathematisches Modell, ebenso wie vor 40 Jahren alles eine Menge war. Timo Leuders, einer der vielen Päpste der modernen Didaktik, schreibt etwa in
Gruppen als Modelle - Horizontale und vertikale Mathematisierungsprozesse (Springer 2015)
auf S. 218
In diesem Sinne lassen sich die natürlichen (und später die ganzen und rationalen Zahlen)
und ihre rechnerischen Verknüpfungen als Modelle für Situationen und Handlungen der
Realität auffassen.
Zahlen sind also auch Modelle. Und Gruppen natürlich auch:
Aus einer Modellierungsperspektive betrachtet sind Gruppen aber auch Modelle, die
eine Vielzahl von (Real-) Situationen beschreiben.
Mengen dagegen scheinen keine Modelle zu sein. Das mag daran liegen, dass Mengen heute im Schulunterricht gar nicht mehr auftauchen, was wiederum seinen Grund darin hat, dass die prä-modellierende Generation der Didaktiker es mit den Mengen ein ganz klein wenig übertrieben hat. Aber mit Zahlen, Funktionen und Gruppen deckt man ja schon einen beträchtlichen Teil der Mathematik ab, und sicherlich sind Differentialgleichungen und Hypothesentests ebenso wie alle andern mathematischen Begriffe, welche den Didaktikern geläufig sind, ebenfalls Modelle. Oder, wie man bei Leuders lesen kann:
In der Grundschuldidaktik werden oft die konkreten Objekte, welche mathematische
Operationen veranschaulichen sollen, als Modelle bezeichnet: Das Vierhunderterfeld
wird beispielsweise als ein Modell für die Multiplikation von Zahlen im Zwanzigerraum
aufgefasst.
Die Suche nach einem Modell für die Multiplikation von Zahlen im Zehnerraum überlassen wir dem Leser als Übungsaufgabe.
Grundvorstellungen
Mit Grundvorstellungen sind die Grundvorstellungen gemeint, welche die Schüler, von denen heutige Didaktiker keine mehr kennen, von Grundbegriffen der Analysis haben sollten oder eben nicht haben. Zuerst wird aber auf S 7-8 ein Missverständnis ausgeräumt:
Dies ist uns wichtig, weil die ``Funktionsuntersuchung'' mit Mitteln der Analysis in der
Schule häufig unreflektiert auch als ``Kurvendiskussion'' bezeichnet wird.
Was heißt hier unreflektiert? Es hat Zeiten gegeben, da waren Kreis und Ellipse durchaus noch mathematische Objekte (also Modelle), die man auf der Schule durchgenommen hat. Aber daran mögen sich die wenigsten noch erinnern, denn dass man Inhalte abgeschafft hat, ist je nach dem Standpunkt, den ein Didaktiker gerade einnimmt, entweder eine falsche Behauptung oder gewollt gewesen.
Auf S. 12 kommt nach etwas Eigenwerbung für den
Mathekoffer das ``Schnurproblem'', bei dem Höhen gewisser Dreiecke gemessen werden. Drei Seiten später folgt die Erklärung in einer zweizeiligen Rechnung mit Pythagoras. Natürlich kann man, wenn man Zeit hat, eine Doppelstunde
lang darauf verwenden, die Höhen gleichschenkliger Dreiecke zu messen. Aber das gesamte Buch krankt daran, dass die Autoren nicht zu Potte kommen und bei jeder Gelegenheit meinen, sie müssten jeden einzelnen Begriff der Mathematik erst ein Dutzendmal in der Realität wiederfinden, bevor sie ihn mathematisch zu definieren versuchen. Langeweile pur.
So heißt es auf S. 29
In den Wirtschaftswissenschaften werden häufig . . . ``Konfektionierungsprozesse''
[betrachtet], bei denen n Produkte in m unterschiedlichen Zusammenstellungen verpackt
werden. Im Folgenden wird das stark vereinfachte Beispiel der Verpackung von einer
Sorte Lakritz und einer Sorte Weingummi in vier unterschiedliche Packungsarten betrachtet:
- ``Lakritztüten'' mit jeweils 100 Lakritzen,
- ``Weingummitüten'' mit jeweils 80 Weingummis,
- ``Mixtüten-Lakritz'' mit 75 Lakritzen und 20 Weingummis und
- ``Mixtüten-Weingummi'' mit 60 Weingummis und 25 Lakritzen.
Das stellt die Süßwarenhersteller, man ahnt es bereits, vor mathematische Probleme. Aber zum Glück hat die Mathematik ein Handwerkszeug (also ein Modell) bereitgestellt, nämlich die sogenannten ``Übergangsmatrizen'':
Mithilfe der Matrizenrechnung lässt sich dies wie folgt durch eine Funktion
beschreiben:

Das wird Haribo freuen, kann der Betrieb nun, da das Problem mathematisch sauber modelliert ist, seine ursprüngliche Aufgabe mit Hilfe der Mathematik lösen. Allerdings ist der Ausflug ins Reich der Süßigkeiten genau an dieser Stelle vorbei, gerade so, als hätte es gar kein Problem gegeben, das es zu lösen galt. Aber es ist gut, mal darüber geredet zu haben . . .
Auf S. 31 kommen die neuerdings vielbeschworenen Grundvorstellungen ins Spiel, und zwar die Grundvorstellungen von Variablen. Sicherlich keine schlechte Sache, wenn man Analysis machen möchte:
Stellen Sie sich vor, Sie beobachten, wie der 9-jährige Malte seinem Vater empört berichtet,
die Evelyn aus seiner Klasse bekomme dreimal so viel Taschengeld wie er. Wenn Sie sich
ausschließlich auf diese Beobachtung verlassen müssen, wissen Sie nicht, wie viel
Taschengeld Malte bekommt oder wie viel Taschengeld Evelyn bekommt. Dennoch wissen
Sie mehr als nichts, da Sie eine Aussage über die Beziehung zwischen den beiden Beträgen
machen können. Sie könnten z. B. notieren
Evelyn = 3 x Malte,
wobei der jeweilige Name als Variable für die Taschengeldhöhe des zugehörigen Kindes
steht. Wenn Sie von einem der beiden Kinder die Taschengeldhöhe kennen, können Sie
direkt auch die andere ermitteln - vorausgesetzt Malte hat kein zu instrumentelles
Verhältnis zur Wahrheit . . . .
Auch nach dem dritten Lesen bleibt die Geschichte vollkommen sinnfrei. Weder weiß man, was eigentlich los ist, noch, wozu diese Exkursion dienen soll.
Später, auf S. 33, kommt dann heraus, dass das Beispiel erklären sollte, dass manche Variablen (wie hier Malte) keine Variablen sind, sondern nur für eine bestimmte Zahl stehen:
Der Einzelzahlaspekt tritt bei allen obigen Beispielen zur Gegenstandsvorstellung in
Erscheinung, eine Variable steht hier für jeweils eine feste Zahl. Bei unserem
Einstiegsbeispiel ``Taschengeld'' steht der Name des Kindes für den jeweiligen
(feststehenden) Betrag.
Aus diesem Grunde hat man Variablen wohl Variablen genannt. Vermutlich handelt es sich dabei um Modellvariablen, bei denen man das Präfix ``Modell'' weggelassen hat, weil Variablen ja ohnehin Modelle sind.
Dieses Bemühen, sich der Realität anzubiedern, ist so widerlich, dass die Lustlosigkeit, mit welcher innermathematische Dinge wie die Quadratverdopplung auf S. 33 behandelt werden, Bände spricht. Dabei ist diese einfache mathematische Tatsache der Anfang für die Entdeckung der Irrationalen, der Anstoß für das Delische Problem - aber was sage ich da: das sind ja - bäh - innermathematische Probleme. Das klingt bei Didaktikers schon so, als müsste man die mit der Beißzange anfassen.
``Charity begins at home'', sagen die Engländer, und die Analysis auch. Auf S. 37 heißt es
Birte soll ihrem Vater in den Schulferien 9 Tage helfen, den Garten neu zu gestalten. Als
Entschädigung für entgangene Ferienfreuden bietet er ihr ein zusätzliches Taschengeld an.
Dabei darf sie zwischen den folgenden ``Entgeltvarianten'' wählen:
- Sie erhält einmalig 333 Euro.
- Sie erhält jeden Tag 35 Euro.
- Sie erhält am ersten Tag 5 Euro, am zweiten Tag 10 Euro, am dritten Tag 15 Euro usw.
- Sie erhält am ersten Tag 1 Cent, am zweiten Tag 2 Cent, am dritten Tag 4 Cent usw.
Solche Aufgaben erlauben es den Autoren darüberhinaus unter Beweis zu stellen, dass sie mit GTR, CAS und Tabellenkalkulationsprogrammen umgehen können. Andere wiederum könnten mit diesen aus der Lebenswelt der Schüler entnommenen Aufgabe ganze Felder düngen . . .
Auf Seite 43 werden lineare Funktionen y = kx proportionale Funktionen genannt. Proportional wozu, fragt sich da der Lateiner, denn eine Proportion ist ein Verhältnis, und dazu gehören zwei. Wo es proportionale Funktionen gibt, existieren natürlich auch antiproportionale:
Eine Funktion , die sich mithilfe einer geeigneten reellen Konstante k schreiben
lässt als f(x) = k/x, heißt antiproportionale Funktion.
Selbstverständlich gibt es, bevor man die künftigen Lehrer mit so einer Definition erschlägt, erst ein Beispiel aus der Realität, in diesem Fall den
antiproportionalen Zusammenhang zwischen
``Durchschnittsgeschwindigkeit und Fahrtdauer''. Weil Durchschnittsgeschwindigkeit und Fahrtdauer aber positiv sind, wird dieser Sachverhalt nicht von einer antiproportionalen Funktion beschrieben, denn solche haben Definitionsbereich
ℝ \{0} → ℝ. In der richtigen Mathematik behilft man sich an dieser Stelle mit einer flexiblen Definition, wählt also als Definitionsbereich einer Funktion je nach Bedarf ein Intervall oder eine offene Teilmenge der reellen Zahlen. Schade nur, dass Mengen keine Modelle sind, denn dann könnten die Autoren dies ebenfalls tun.
Auch lineare Funktionen sind bedeutsam, wie der Leser auf S. 45 lernt:
Innermathematisch ist die ``Mathematik der linearen Funktionen'' von Bedeutung, da jede
beliebige Gerade in der Ebene nach Wahl eines geeigneten Koordinatensystems durch
Gleichungen der Form y = a x + b beschrieben kann.
Innermathematisch. Man kann lineare Funktionen also auch in der Mathematik benutzen und nicht nur zum Veranschaullichen des Handytarifs. Echt? Krass! Und, das sei nebenbei auch bemerkt, nach Wahl eines geeigneten Koordinatensystems kann die Gerade sogar in der Form y = 0 geschrieben werden. Unverständlich bleibt auch die Aufgabe auf S. 48, den Schnittpunkt der beiden Funktionsgraphen von f(x) = x
2 und g(x) = √x ``möglichst exakt'' zu bestimmen. Ist damit gemeint, dass man x
1 = 0 und x
2 = 1 auf 10 Nachkommastellen genau angibt, oder meinten die Autoren, man solle die Schnittpunkte (bei mir kommen zwei raus) ``wenn möglich'' exakt angeben, weil die algebraischen Fertigkeiten der Schüler heutzutage für die dazu notwendigen Rechnungen nicht mehr ausreichen, da Algebra heute praktisch nicht mehr unterrichtet wird?
Ab S. 51 wird zwei Seiten lang Urgroßvaters Geld mit 6 % Jahreszinsen verzinst und nachgesehen, was heute davon da ist:
Damit uns in diesem langen Zeitraum nicht Währungsreformen Scherereien bereiten, soll er
die Geldanlage in den USA getätigt haben
Da gab es natürlich auch keinerlei Probleme mit Weltwirtschaftskrise und den beiden Weltkriegen, und auch Inflation ist in den USA ein unbekanntes Phänomen:
und ca. $ 200000 sind doch auch nicht zu verachten.
Eben.
Die Analysis taucht dann langsam auf S. 80 auf, und zwar als Problem:
Dies ist einer der größten Problembereiche des Mathematikunterrichts in der
Sekundarstufe II. Häufig wird der Kalkül als Selbstzweck entwickelt, trainiert und an
komplizierten Funktionen rein innermathematisch angewendet (``Kurvendiskussion'')
- damit werden die historische Entwicklung der Analysis und auch ihre Bedeutung in
den Anwendungsdisziplinen konterkariert.
Ich weiß nicht so recht, welche Anwendungen Archimedes durch den Kopf geschwirrt sind, als er die Fläche eines Parabelsegments bestimmt hat. Vermutlich wollte er den Temperaturverlauf in einer Mikrowelle aus deren Änderungsrate rekonstruieren.
Das letzte Mal, als die Analysis in der Schule innermathematisch angewendet wurde, muss in den 1990ern gewesen sein. Seither wird die historische Entwicklung der Analysis und auch ihre Bedeutung in den Anwendungsdisziplinen konterkariert durch die hanebüchenen Einkleidungen der sogenannten realitätsnahen Anwendungsaufgaben, die sich die Didaktiker haben einfallen lassen, weil sie von wirklichen Anwendungen allem Anschein nach wenig verstehen. In der Tat wird heutzutage der Anwendungsbezug als Selbstzweck entwickelt und an einfachsten Funktionen (Grad 3 ist in Ordnung, alles andere zu schwer) rein außermathematisch (eigentlich außerweltlich - in diesem Leben tauchen derartige Anwendungen nicht auf) bis zum Erbrechen trainiert - was damit konterkariert wird, ist schwer zu sagen; eine Bedeutung für Mathematik oder Anwendungsdisziplinen haben diese Aufgaben ohnehin nicht.
Nachdem auf S. 80 also die Analysis erstmals in Erscheinung getreten ist, wird auf Seite 105 erklärt, wozu das Buch (also vermutlich der Rest davon) gut sein soll:
Das Ziel dieses Buchs ist die Entwicklung einer nützlichen [ . . . ] Theorie der Differenzial-
und Integralrechnung.
Anscheinend gibt es auch eine nicht nützliche Differential- und Integralrechnung; das muss die sein, in der keine Lakritze und Weingummis auftauchen.
Geschichte der Mathematik
Es gibt, in der Geschichte der Mathematik wie anderswo auch, reichlich Gelegenheit, Fehler zu machen. Tatsächlich lassen die Autoren fast kein Fettnäpfchen aus, vor allem, weil sie die Rolle der Geschichte der Mathematik für den Schulunterricht missverstehen. Man kann einerseits mit Hilfe der heutigen Mathematik die antike verstehen wollen, und andererseits aufzeigen, dass die antike Mathematik teilweise einen ganz anderen Blickwinkel hatte als die heutige. Überflüssig wird der historische Bezug allerdings, wenn man die Geschichte nicht ernst nimmt und die antike Mathematik, aus was für Gründen auch immer, falsch darstellt. Das ist in etwa so, als ließe man Goethe über den
Bahnhof in Frankfurt schreiben.
Auf S. 105 heißt es
Obwohl schon die Pythagoräer im 5. vorchristlichen Jahrhundert die Existenz nicht-rationaler Punkte auf dem Zahlenstrahl entdeckt und damit die ``erste Grundlagenkrise'' der
Mathematik ausgelöst hatten, . . .
Nun - einen Zahlenstrahl gab es damals natürlich noch nicht, und es gab auch keine irrationalen Zahlen: Die Griechen sprachen von inkommensurablen Größen. Die berühmte ``erste Grundlagenkrise'' der Mathematik ist ebenfalls ein Märchen und mag einen wahren Kern haben; aber Hinweise auf eine solche Krise gibt es nicht.
Wikipedia (dort haben die Autoren offenbar nicht nachgesehen) ist da deutlicher: ``In Zusammenhang mit der Legende vom Geheimnisverrat wurde in älterer Forschungsliteratur die Hypothese vertreten, die Entdeckung der Inkommensurabilität habe die Pythagoreer schockiert und habe eine Grundlagenkrise der Mathematik bzw. der Philosophie der Mathematik ausgelöst. Die Annahme einer Grundlagenkrise wird jedoch ebenso wie der angebliche Geheimnisverrat von der neueren Forschung abgelehnt. Die Entdeckung der Inkommensurabilität wurde als Errungenschaft und nicht als Problem oder Krise betrachtet.''
Aus der philosophischen Lehre des Pythagoras ergab sich zwingend, dass zwei beliebige
Strecken a und b immer kommensurabel sein müssen, . . .
Das ist mir neu. In den philosophischen Lehren des Pythagoras, soweit man sie zu kennen glaubt, taucht die Kommensurabilität nicht auf. Vermutlich spielen die Autoren auf den Leitspruch ``Alles ist Zahl'' an, aber die Frage bleibt, was dieser bedeutet hat und was daraus folgt.
Alle Beweise, die auf der Grundlage kommensurabler Strecken geführt worden waren, brachen
auf einmal zusammen (vgl. Meyer (2005))
Tatsache ist, dass man sich fürchterlich anstrengen muss, um Beweise zu finden, die auf der Grundlage kommensurabler Strecken geführt werden können. Das klassische Problem der Verwandlung eines Rechtecks in ein flächengleiches Quadrat etwa
kann man gar nicht auf der Grundlage kommensurabler Strecken führen, weil ein Rechteck mit den Seiten 1 und 2 zum Quadrat mit der Kantenlänge √2 flächengleich ist.
Und natürlich kann man Meyer (2005) ebenso zitieren wie Müller (2008) oder Hinz und Kunz (2004); aber in Sachen griechische Mathematik wären Zitate zumindest der Sekundärliteratur vielleicht die bessere Wahl; es gibt immer noch einige Bücher über die Geschichte der Mathematik auf Deutsch, die man zitieren könnte, jedenfalls wenn sich die Medienkompetenz der Autoren auch auf das Medium Buch erstrecken würde. Auch die Bemerkung auf S. 110 lässt einen die Augen reiben:
Unklar ist, ob Euklid tatsächlich eine historische Person ist und die ``Elemente'' (vollständig) selbst verfasst hat. Es gibt Vermutungen, dass er der Kopf einer Gruppe von Mathematikern war, die gemeinsam und auch über seinen Tod hinaus die ``Elemente'' geschrieben haben, oder dass er möglicherweise nie gelebt hat und ``Euklid'' nur das Pseudonym einer Mathematikergruppe war.
Was wir über die Mathematik im antiken Griechenland wissen, ist in der Tat dürftig. Dass Euklid die Elemente vollständig selbst verfasst haben soll, wird m.W. von niemandem behauptet. Dass es Vermutungen gäbe, wonach Euklid so etwas wie Bourbaki gewesen sein soll, scheint dem Zeitgeist geschuldet: Itard hatte 30 Jahre nach Bourbakis Gründung erstmals geschrieben, dass mit dieser Annahme manche, aber nicht alle Datierungsprobleme verschwinden würden. Ich würde das keine Vermutung nennen, schon gar nicht im Plural, und selbst wenn es eine wäre, hat sie nach Itard wohl kein ernstzunehmener Historiker übernommen. Bevor man also derartig wüste Spekulationen im Zusammenhang mit Euklid äußert, sollte man den Lesern erst einmal das, was man zu wissen glaubt, mitteilen. Aber Medienkompetenz am Beispiel des Mediums Buch ist, wie gesagt, nicht die Stärke der Autoren.
Daher erstaunt es nicht, dass es geradeso weitergeht:
In seiner Größenlehre subsumierte Eudoxos u. a. die Konzepte Länge und Zeit, die jeweils
ein Kontinuum darstellten und nach Hippasos' Entdeckung auch nichtrationale Maßzahlen
umfassten.
In den 13 Büchern Euklids (das 5. wird Eudoxos zugeschrieben) sucht man den Begriff einer Maßzahl vergeblich. Die Griechen betrachteten nicht die Längen von Strecken, sondern die Verhältnisse zweier Strecken. Es ist mir auch ein Rätsel, wie man im Zusammenhang mit Eudoxos auf das Konzept Zeit kommen kann - Euklid hat seine Elemente als rein innermathematisch, wie das heute zu heißen scheint, betrachtet; er wäre eher tot vom Stuhl gefallen als dort Anwendungen auf
die ``Realität'' zu bringen (die gab es wohl und gehörten zum Bereich der Logistik; diese wurde aber in den Elementen nicht behandelt). Aber es kommt noch besser:
In einer Weiterentwicklung dieses Ansatzes hat Archimedes (287 -- 212 v. Chr.) bei der
``Parabelquadratur'' die Fläche unter einer Parabel durch ``Ausschöpfen mit Dreiecken''
exakt bestimmt.
Die Fläche unter einer Parabel? Im kartesischen Koordinatensystem, nehme ich an, benannt nach dem großen griechischen Philosophen Renos Deskartos.
Aufbauend auf den Arbeiten vieler Vorläufer wurde im 17. Jahrhundert durch Isaac Newton
(1643 -- 1727) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 -- 1716) unabhängig voneinander die
Differenzial- und Integralrechnung entwickelt und gleich mit großem Erfolg angewandt.
Ein bekanntes Beispiel ist Newtons Theorie der Planetenbewegung.
Das einzige Problem an der Geschichte ist, dass Newton die Theorie der Planetenbewegung nicht mit Hilfe seiner Differential- und Integralrechnung beschrieben hat, sondern mit geometrischen Hilfsmitteln, die auf Euklid und Apollonios zurückgehen. Die berühmte (offenbar nicht in den Kreisen, in denen die Autoren verkehren) ``letzte Vorlesung Feynmans'' befasst sich mit der Newtonschen Herleitung.
Euklid von Alexandria (ca. 325 -- 265 v. Chr.) hat in den 13 Bänden seiner ``Elemente''
das mathematische Wissen seiner Zeit gesammelt.
Hat er nicht. Er hat die Grundlagen für die Mathematik seiner Zeit gelegt, eben die Elemente. Wenn die Elemente das gesamte Wissen der Zeit gewesen wären, warum hätte Euklid dann Bücher über die Teilung von Figuren oder über Kegelschnitte schreiben sollen?
In den ``Elementen'' findet sich der folgende Nachweis der Existenz irrationaler Zahlen, den Sie vielleicht aus der Schule kennen. Euklid zeigt, dass √2
eine nicht-rationale Zahl ist:
Auch hier ist wieder zu erwähnen, dass in den Elementen Zahlen als die ganzzahligen Vielfachen der 1 definiert sind. In den Elementen tauchen also keine irrationalen Zahlen auf, und der vorgestellte Beweis, dass Diagonale und Seite eines Quadrats inkommensurabel sind, steht nicht in den Elementen, sondern war eine Hinzufügung im Mittelalter, die seit einem Jahrhundert wieder weggelassen wird.
Springen wir weiter zu Heron von Alexandria, dessen Methode zur Approximation von Quadratwurzeln auf S. 163 so kommentiert wird:
Heron selbst kannte noch nicht die im Folgenden entwickelte Iteration mit Dezimalzahlen
sondern drückte, wie es bei den alten Griechen üblich war, das Problem in geometrischer
Form aus: Es war die Aufgabe, ein gegebenes Rechteck in ein flächengleiches Quadrat
umzuwandeln.
Sinn und Zweck des Heronverfahrens ist die Gewinnung einer numerischen Approximation. Geometrisch kann man Wurzeln exakt ziehen, und eine numerische Approximation ohne Zahlen ist relativ sinnfrei. Wie hat Heron also seine Zahlen geschrieben? Wäre auf Seiten der Autoren
Medienkompetenz vorhanden, hätten sie das herausfinden können, und dieses Mal hätte es sogar genügt, dem Hinweis auf Wikipedia zu folgen, um zumindest herauszufinden, dass Heron eine Approximation der Quadratwurzel aus 720 berechnet hat.
Ein letztes Mal kommt die Geschichte auf S. 205 ins Spiel:
Historische Bemerkung: In der menschenverachtenden Nazizeit hat das damalige Regime bekanntlich versucht, seine Ideologie alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen zu lassen und sie so überall zu verankern. Im Bereiche der Wissenschaften gab es z. B. nicht nur eine ``Deutsche Physik'' sondern auch eine ``Deutsche Mathematik'' (sogar eine Zeitschrift dieses Titels existierte damals), die sich u. a. dadurch auszeichnete, dass ``jüdische'' mathematische Begriffe ``eingedeutscht'' werden sollten. Wenn die Thematik nicht so ernst und tragisch wäre, gäbe der Versuch, die Bezeichnung ``Differenzialquotient'' durch ``Null-durch-Null-Verschwinder'' zu ersetzen, schon fast Anlass zum Schmunzeln.
Es gibt viele Arten, sich den Ereignissen während der Nazizeit zu nähern, und auch die Mathematik bietet dafür reichlich Anlass. Dass die deutsche Mathematik damals versucht haben soll, ``jüdische'' mathematische Begriffe ``einzudeutschen'', ist mir neu. Nebenbei bemerkt hat es das Wort Differenzialrechnung im Dritten Reich noch gar nicht gegeben, weil es damals noch korrekt Differentialrechnung geschrieben wurde. Der Begriff des Differentials wurde von Leibniz eingeführt - soll der letzte Satz Humor sein oder wollen die Autoren sagen, der Begriff sei von den Nazis als jüdisch empfunden worden? Eine Suche im Netz nach Null-durch-Null-Verschwinder liefert jedenfalls nur einen Treffer, und zwar das vorliegende Buch.
Endlich: Analysis!!
Nach diesem Ausflug in die Geschichte der Mathematik kommen die Autoren jetzt langsam zum eigentlichen Thema ihres Buchs. Auf S. 116 wird die Intervallschachtelung erklärt, die man, so lernt der Leser auf S. 123, in der Schule zwar braucht, aber:
Bereits in der Sekundarstufe I werden Intervallschachtelungen implizit an vielen Stellen
benötigt. Deshalb müssen sie nicht im Unterricht thematisiert werden, sie bilden aber
ein notwendiges Hintergrundwissen für die Lehrkräfte.
So sieht der heutige Mathematikunterricht aus: gewisse Begriffe werden zwar ständig benötigt (Intervallschachtelung, Grenzwerte, Kombinatorik und Binomialkoeffizienten), müssen aber im Unterricht nicht thematisiert werden, denn sonst könnte sich ja Verständnis breitmachen. Stattdessen werden die wesentlichen Begriffe als "black boxes" verwendet, d.h. mit diesen unverstandenen Begriffen wird dann gezeigt, wie man die Mathematik anwendet (genauer: wie man sie anwenden würde, hätte man verstanden, worum es geht).
Die Intervallschachtelung nun, dieses wichtige Objekt, fast möchte man sagen Modell, muss den Schülern nahegebracht werden; eine Möglichkeit ist folgende:
. . . Ein passendes Bild hiervon ist die Vorstellung der Intervallschachtelung als ``nicht
endende Klorolle'', auf der unendlich viele Intervalle stehen, die aber nur ein Objekt
darstellt, nämlich die Zahl x.
Und dann drücken wir das Knöpfchen.
Auf S. 128 lernt der Leser die Gefahren der Bruchrechnung kennen:
Zusammen ergibt sich die Definition der Potenz mit einem rationalen Exponenten r. Diesen
stellt man als Bruch r = p/q mit ganzzahligem p und natürlichem q dar und definiert ar [als
die q-te Wurzel aus] ap. Was darf man für a einsetzen? Einerseits sollen die Potenzgesetze
gelten, andererseits ist die Darstellung von r als Bruch nicht eindeutig. Orientieren wir uns an
einem Beispiel:
-2 = (-8)1/3 =(-8)2/6 = ((-8)2)1/6 = 641/6 = 2.
Jedes Gleichheitszeichen ist korrekt gesetzt, aber das Ergebnis ist unsinnig, was an den
unterschiedlichen Bruchdarstellungen des Exponenten liegt.
Wenn jedes Gleichheitszeichen korrekt gesetzt wäre, würde wohl nicht -2 = 2 rauskommen. Dass so etwas trotz korrekt gesetzter Gleichheitszeichen passieren kann, muss dann wohl an den unterschiedlichen Bruchdarstellungen des Exponenten liegen.
Tatsächlich hat die falsche Aussage (-8)1/3 =(-8)2/6 nichts mit Bruchrechnung zu tun, sondern mit der Definition der Bedeutung gebrochener Hochzahlen, nämlich damit, dass Quadrieren und Wurzelziehen nur auf den nichtnegativen Zahlen Umkehrfunktionen voneinander sind.
Nun taucht der Begriff Umkehrfunktion im Buch sehr oft auf, angefangen bei Wurzelfunktionen über den Logarithmus, ja sogar die Umkehrfunktionen der trigonometrischen Funktionen werden betrachtet. Dies bedeutet aber nicht, um die Autoren zu zitieren, dass dieser Begriff im Buch thematisiert werden muss. Die Definition der Umkehrfunktion wird auf Seite 59 im
"Funktionenbaukasten" so behandelt:
4. Umkehrung: f -1, f -1(f(x)) = x, wobei f -1 Umkehrfunktion heißt (sofern existent).
Das sind Situationen, bei denen ich von meinen Schülern "einen ganzen Satz, bitte!" verlange. Wer weiß, was eine Umkehrfunktion ist, kann ahnen, was die Autoren meinen. Ein Hinweis auf die Gefahren dieser Notation, etwa im Zusammenhang mit sin
-1(x) = 1/sin (x), sucht man vergeblich.
Der eigentliche Kern des Buches, die Darstellung der elementaren Analysis, ist passabel, unterscheidet sich aber kaum von den Hunderten anderer solcher Darstellungen.