Donnerstag, 7. September 2023

Herr Schneider erklärt die Welt.

 Nein, nicht Helge. Der Mathematiklehrer Schneider. Und nicht die ganze Welt, sondern nur die Zahlbereiche \(\mathbb N\), \(\mathbb Z\), \(\mathbb Q\) und \(\mathbb R\). 


Oder, wie es zwei Zeilen später heißt, die Zahlenbereiche:

Wer Oskar Perron kennt, erinnert sich an einen Brief, in dem er erklärt, warum der Begriff Zahlbereiche eigentlich ein Unsinn ist. Weil es so schön ist und weil ich als Lehrer ja einen gewissen Bildungsauftrag hatte, sei er hier zitiert:

Wissen Sie wohl, was ein Zahltag ist? Natürlich ist das der stets freudig begrüßte Tag, an dem gezahlt wird, im allgemeinen der Lohn für geleistete Arbeit. In diesem zusammengesetzten Wort hat nämlich die Silbe „Zahl“ gar nichts mit dem Begriff „Zahl“ zu tun, sondern es handelt sich um das Verbum aus (be) zahlen. Genauso ist es bei allen anderen Wörtern, die ebenso zusammengesetzt sind: Zahlkellner, Zahlkarte, Zahlmittel etc. Überall geht es ums bezahlen, also ums Geld, um das leidige, etwas anrüchige Geld, von dem man mit vorgehaltener Hand oder mit Augenzwinkern spricht.

Wer nun zum erstenmal das Wort Zahlkörper hört, denkt: Das wird halt auch so irgendein Körper sein, bei dem irgendwas bezahlt wird, das ist mir wurscht, interessiert mich nicht. Das Wort Zahltheorie werden sie wohl noch nicht gehört haben, ich auch nicht. Das müsste eine Theorie des Bezahlens sein, in der also etwa untersucht wird, wie man bezahlt, wenn man kein Geld hat. Die schöne Zahlentheorie, von der Sie sicher schon gehört haben, wäre also zur Pumpologie herabgewürdigt.

Das Wort Zahlkörper hat Hilbert eingeführt, der aufs Genaueste definiert hat, welchen Begriff er damit meint. Nur nach der Suche nach einem Namen ist ihm, wohl aus Versehen, ein Malheur passiert und so kam das verkorkste Wort auf die Welt, das man, wohl aus Ehrfurcht vor Hilbert, nie abgeschafft hat.

Oskar Perron war ein solider Mathematiker, der aber dem Zeitgeist, vor allem in der abstrakten Algebra, etwas hinterhergehinkt ist. Und wenn wir schon einen Brief zitieren, sei hier ein zweiter, geschrieben im Jahre 1940 an den Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität München, ebenfalls zitiert:

Magnifizenz!

An der vom Herrn Reichsdozentenbundsführer Ministerialdirektor Professor Dr. Walter Schultze veranstalteten Feier der Dozentenbundsakademieen kann ich mich nicht beteiligen.

Grund:

Da ich weder Mitglied einer Dozentenbundsakademie noch überhaupt des Dozentenbundes bin, kann meine Beteiligung wohl nur in der Rolle eines wissenschaftlichen Ehrengastes gedacht sein. Nun bin ich aber Mitglied verschiedener deutscher wissenschaftlicher Akademieen, und gegenüber diesen Körperschaften und ihren Mitgliedern hat der Reichsdozentenbundsführer in der Festrede bei Gründung der Dozentenbundsakademie Kiel seiner Verachtung dadurch Ausdruck gegeben, dass er erklärte, die deutschen Akademieen hätten seit Leibniz wissenschaftlich nichts geleistet und seien heute nur als Gesellschaften von verkalkten wissenschaftlichen Veteranen anzusehen

Zweierlei ist denkbar. Entweder der Reichsdozentenbundsführer hat mit dieser geringen Einschätzung recht oder er hat nicht recht. Im ersten Fall kann es dem Reichsdozentenbundsführer gewiss keine Freude machen, unter seinen Ehrengästen so minderwertige wissenschaftliche Persönlichkeiten zu sehen; ich möchte ihm diesen Anblick, was meine Person anbelangt, jedenfalls ersparen. Im zweiten Fall kann es aber mir nicht zugemutet werden, Ehrengast bei einem Mann zu sein, der die Akademieen und ihre Mitglieder zu Unrecht derart verunglimpft hat, und vermutlich wehrlos zuzuhören, wenn die Ehrengäste abermals in der gleichen Weise verächtlich gemacht werden.

Heil Hitler !

O. Perron

Das haben sich seinerzeit nicht viele getraut.

Zurück zu Herrn Schneider. Der traut sich auch was. Denn er kann die Zahlbereiche anschaulich erklären. An einem Modell. Genauer: Am

Ohne Scheiß. Herrn Schneiders Spinat-Spiegelei-Modell funktioniert so:




Zum einen ist das bitter, dass man Gymnasiasten in NRW anhand eines Spinat-Spiegelei-Modells erklären muss, dass jede natürliche Zahl eine ganze Zahl ist. Zum andern hätte ich nicht wenig Lust, das in meinem Unterricht mal zu versuchen, wenn ich dabei die Gesichter meiner Schülerinnen filmen darf.

Die didaktischen Neuerungen sind noch nicht ganz vorbei. Oder hat jemand gemerkt, dass dies eine Aufgabe ist?

Sogar eine Aufgabe mit Lösung. Und zwar mit der hier:


In der Lösung ist das Spinat-Spiegelei-Modell zum Bratpfannenmodell mutiert, die Zahlbereiche sind wieder Zahlenbereiche, und die Zahl 3 liegt, wie es sich gehört, im Eigelb, während \(\sqrt{6}\) zwar auf dem Teller (also der Bratpfanne) liegt, aber nicht im Eigelb, im Eiweiß oder im Spinat.

So werden also schwierige mathematische Überlegungen durch den Transport in die Lebenswelt von Schülern und Schülerinnen auf ein Niveau heruntergebrochen, mit dem heutige Gymnasiasten etwas anfangen können.

Mein Leidensgenosse AR, der mir dieses Schuljahr eine Woche voraus ist, weist darauf hin, dass unter den Bearbeitern dieses Schulbuchs eine gewisse Kerstin Schäfer ist. Diese hat einen erstaunlichen Bildungsgang hinter sich:

Magisterstudium der Geschichte, der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit und der Denkmalpflege an der Otto-Friedrich Universität Bamberg; Zusatzqualifikation als Kulturmanagerin; zur Zeit Promotionsvorhaben am Lehrstuhl für Denkmalpflege in Bamberg über die Bauwerke der Eisenbahn in Oberfranken.

Ich hatte bisher immer gedacht, heutige Schulbuchautoren hätten in ihrem Mathematikstudium kaum aufgepasst und von dem, was sie mitbekommen haben, das wenigste verstanden. So kann man sich irren. Jetzt werden die Bücher schon von Frauen (die zweite ist Mathematiklehrerin Ulrike Willms) bearbeitet, deren mathematische Qualifikation über ein Abitur nicht hinausgeht.

Schade, dass wir in BW keine so tollen Schulbücher haben. In gewisser Weise ist das ganze ja Kunst. Expressionismus, wenn ich so tun wollte, als wüsste ich, was das ist. Daher die ganze Seite noch einmal als Gesamtkunstwerk:


Auch das muss noch gesagt werden: Wenn man \(\mathbb Q\) um alle Zahlen erweitert, die nicht als Bruch darstellbar sind (also um alle Zahlen, die nicht zu \(\mathbb Q\) gehören), dann erhält man so einiges, aber ganz sicher nicht die reellen Zahlen. Wer sich noch an die Schulbücher von vor 40 Jahren erinnern kann, sollte ahnen, dass die Konstruktion der reellen Zahlen (Intervallschachtelung) ganz so einfach wie heute in NRW nicht funktioniert. 


Mittwoch, 23. August 2023

Abi Senegal 2010


Die folgenden Aufgaben stammen aus dem Mathematikabitur 2010 (S) in Senegal.
Erlaubt ist ein nicht graphikfähiger Taschenrechner; die Aufgaben müssen in 4 h erledigt sein. 

Das Abitur besteht aus den drei Teilen Geometrie, Zahlentheorie und Analysis (Lösungen folgen). Um das Niveau  von Senegals Mathematikabitur auf das deutsche zu heben, sollten wir in einem ersten Schritt im Rahmen der Entwicklungshilfe 10000 deutsche Mathematikdidaktiker dorthin schicken. Gerne auch mehr.

Geometrie

Seien \(A\) und \(B\) zwei Punkte in der Ebene mit Abstand \(\overline{AB} = 8\).
  1. Untersuche und konstruiere die Menge \({\mathcal E}\) aller  Punkte \(M\) der Ebene mit \(\overline{MA} = 4 \overline{MB}\).  
  2. Untersuche und konstruiere die Menge \({\mathcal F}\) aller  Punkte \(M\) der Ebene mit  \(\angle (\overrightarrow{MA}, \overrightarrow{MB}) \equiv \frac{\pi}4 \bmod 2\pi\).
  3.  Sei \(C\) das Bild von \(B\) unter der Drehung um das Zentrum \(A\) mit einem Winkel von \(\frac{3\pi}4\), und \(D\) das Bild von \(B\) unter der Streckung mit Zentrum \(A\) und Streckfaktor \(\frac34\). Sei \(s\) die  Drehstreckung, welche \(A\) auf \(B\) und \(C\) auf \(D\) abbildet.
  • Bestimme den Streckfaktor von \(s\).
  •  Sei \(I\) das Streckzentrum von \(s\). Drücke \(\overline{IB}\) in Abhängigkeit von \(\overline{IA}\) aus und bestimme den Winkel zwischen den Vektoren \(\overrightarrow{IA}\) und \(\overrightarrow{IB}\). Leite daraus die Lage von \(I\) her.
  •  Zeige, dass \(I\) auf dem Umkreis des Dreiecks \(ACD\) liegt.
Zahlentheorie

  Wir erinnern an den kleinen Fermatschen Satz: Ist \(p\) eine Primzahl und \(a\) eine zu \(p\) teilerfremde natürliche Zahl, dann ist  \(a^{p-1} \equiv 1 \bmod p\).
  1.  Zeige, dass \(193\) eine Primzahl ist
  2.  Sei \(a < 193\) eine natürliche Zahl; zeige, dass \(a^{192} \equiv 1 \bmod 193\) gilt.    
  3. Wir betrachten die Gleichung \begin{equation}  \tag{E} 83x - 192y = 1, \end{equation} wo \(x\) und \(y\) teilerfremd sind. 
Zeige, dass das Paar \((155,\ 67)\) eine Lösung von (E) ist.

 Löse die Gleichung (E).   

4. Sei \(A\) die Menge aller natürlichen Zahlen \(\le 192\), und betrachte die beiden Funktionen \(f\) und \(g\), die wie folgt  definiert sind:

  • jeder ganzen Zahl aus \(A\) ordnet \(f\) den Rest bei der euklidischen Division von \(a^{83}\) durch \(193\) zu;
  • jeder ganzen Zahl aus \(A\) ordnet \(g\) den Rest bei der euklidischen Division von \(a^{155}\) durch \(193\) zu.
(a) Zeige, dass \(g(f(a)) \equiv a^{83 \cdot 155} \bmod 193\) ist.
          (b) Folgere daraus, dass \(g(f(a)) = a\) für alle \(a \in A\) gilt.
(c) Bestimme \(f \circ g\).  


Analysis

Teil A

Sei \(a \ne 0\) eine reelle Zahl, und \(u\) und \(v\) reellwertige zweimal differenzierbare Funktionen auf \({\mathbb R}\) mit  \[u' = v \quad \text{und} \quad v' = au. \]

  1. Zeige, dass \(u\) und \(v\) der Differentialgleichung \( y'' - ay = 0 \) genügen.
  2. Löse diese Differentialgleichung in Abhängigkeit von \(a\).
  3. Sei \(a = 1\). Bestimme \(u\) und \(v\) mit den Nebenbedingungen \(u(0) = 3\) und \(v(0) = 0\).

Teil B

Sei \(G\) die Menge aller Punkte \(M\) der Ebene, für deren Koordinaten 

\[ \left\{ \begin{array}{rcl}  x(t) & = & \frac32 (e^t + e^{-t}), \\    y(t) & = & \frac32 (e^t - e^{-t}) \end{array} \right. \] gilt für alle \(t \ge 0\).

In dieser Aufgabe soll der Inhalt der Fläche berechnet werden, welche durch \(G\) und die Geraden \(x = 3\) und \(x = 5\) begrenzt wird.

  1.   (a) Zeige, dass \(G\) ein Teil des Kegelschnitts ist, dessen Gleichung  \[ x^2 - y^2 = 9 \] ist.

(b) Bestimme die Art des Kegelschnitts sowie seine charakteristischen geometrischen Eigenschaften. Konstruiere G.     

2. Seien \(f\) und \(g\) Funktionen mit

\[ \begin{aligned}  f(x) & = x - \sqrt{x^2-9} \quad \text{für} \quad x \in {\mathbb R}, \\   g(x) & = \frac x2 + \frac9{2x}    \quad \text{für} \quad x \in {\mathbb R} \setminus \{0\}. \end{aligned}\]

(a) Bestimme die Variation von \(f\). 

(b) Zeige, dass die Einschränkung \(\phi\) von \(f\) auf das Intervall  \(I = [3, + \infty [ \) eine Bijektion von \(I\) auf ein zu bestimmendes Intervall \(J\) ist.

(c) Zeige, dass für jedes \(x \in J\) die Gleichung \(\phi^{-1}(x) = g(x)\)  gilt. 

(d) Zeichne das Schaubild \(C\) von \(\phi\). Erläutere, wie man daraus das Schaubild von \(\phi^{-1}\) erhält, und zeichne dieses.     

  3. Sei \(\beta \in ]0; 3[\)  und \(\alpha = g(\beta)\).

  (a) Berechne \(\int\limits_\beta^3 g(x)\, dx\) und folgere daraus \[ \int_3^\alpha f(x)\, dx =   \frac{\beta^2}4 - \frac94 - \frac92 \ln\Big(\frac{\beta}3\Big). \]  Hinweis: Man kann beide Integrale als Flächen interpretieren.

(b) Bestimme damit den Inhalt der Fläche, welche von \(G\) und den Geraden \(y = 0\), \(x = 3\) und \(x = 5\) begrenzt wird.     

Teil C

 Wir betrachten die Folge \((u_n)_{n \in {\mathbb N}}\) mit  \( u_0 = 0, \quad u_{n+1} = g(u_n) \quad \text{für} \quad n \in {\mathbb N}. \) Ziel der Aufgabe ist die Bestimmung des Grenzwerts der Folge \((u_n)\) auf drei Arten.

  1. (a)  Bestimme das Monotonieverhalten von \(g\) und zeige, dass \(u_n > 0\) für alle \(n \in {\mathbb N}\) und  \[ \frac{g(u_n) - g(u_{n-1})}{u_n - u_{n-1}} > 0 \]    für alle natürlichen Zahlen \(n \ge 1\) gilt.

 b) Bestimme das Vorzeichen von \(u_1 - u_0\) und zeige dann, dass \((u_n)\) monoton ist.

 c) Folgere daraus, dass \((u_n)\) konvergiert und bestimme den Grenzwert der Folge.

2.(a) Zeige durch Anwendung des Mittelwertsatzes auf \(g\) in einem  geeigneten Intervall, dass für alle \(n \in {\mathbb N}\)      \[ \frac{g(u_n)-3}{u_n-3} < \frac12 \]   gilt. Folgere daraus für \(n \ge 1\), dass   \( u_n - 3 < \frac1{2^{n-1}} \)  gilt.      

Zeige, dass \((u_n)\) konvergiert, und bestimme den Grenzwert dieser  Folge.

(b) Bestimme ein \(n \in {\mathbb N}\) mit \(u_n - 3 < 10^{-3}\).

3.  Für alle \(n \in {\mathbb N}\) sei    \( v_n = \frac{u_n - 3}{u_n + 3}. \) 

(a)  Zeige, dass \((\ln v_n)\) eine geometrische Folge ist; gib deren erstes Glied und das konstante Verhältnis an.

(b) Drücke \(u_n\) als Funktion von \(v_n\) aus und berechne den Grenzwert von \((u_n)\).



 

Mittwoch, 16. August 2023

Abi Russland 1999

Hier Abituraufgaben aus einem russischen Abitur von 1999. Bis auf zwei Ableitungen ist das solide Mittelstufenmathematik, die wir - PISA-Schleicher sei's gedankt - nach 2000 abgeschafft haben.

  • Löse die Gleichung  \[ \Big(\frac14\Big)^x + 2^{3-x} = 9. \]
  
Wenn man die Gleichung in der Form
  \[ 2^{-2x} + 8 \cdot 2^{-x} - 9 = 0 \]
schreibt, kann man sie zerlegen:
  \[ (2^{-x}+9)(2^{-x} - 1) = 0. \]
Weil \( 2^{-x}+9 = 0\) keine Lösung besitzt, ist \( x_1 = 0\) die einzige reelle Lösung.
  • Löse die Gleichung  \[ \sin^2 x - \cos^2 x = (\cos x - \sin x)^2. \]

 Ausmultiplizieren liefert
  \[ \sin^2 x - \cos^2 x = \cos^2 x - 2 \sin x \cos x + \sin^2 x, \]
  also 
  \[ 2\cos x(\cos x - \sin x) = 0. \]
Aus \( \cos x = 0\)  ergibt sich (bis auf Vielfache von \( 2\pi\) )   \( x_1 = \frac{\pi}2\), \( x_2 = \frac{3\pi}2\).   Die Gleichung \( \sin x = \cos x\)  (oder \( \tan x = 1\) ) hat die beiden Lösungen \( x_3 = \frac{\pi}4\)  und \( x_4 = \frac{5\pi}4\) .

  • Bestimme die Stelle, an welcher die Ableitung der Funktion \( f(x) = \sqrt{3x-5}\)  gleich 0,15 ist.

 Es ist die Gleichung  
  \[ f'(x) = \frac{3}{2 \sqrt{3x-5}} = 0,15 \]
 zu lösen. Schreibt man dies in der Form
  \[ \frac1{\sqrt{3x-5}} = \frac1{10}, \]
 so sieht man, dass \( 3x-5 = 100\) , also \( x_1 = 35\)  sein muss.
  •  Löse die Ungleichung  \[ \log_3(x+7) < \log_3(5-x) + \log_3(3-x). \]
Die linke Seite ist für \(x > -7\), die rechte für \(x < 3\) definiert.  Zusammenfassen ergibt
  \[  \log_3(x+7) < \log_3[(5-x)(3-x)], \]
  und dies ist äquivalent zu
  \[ x+7 < x^2 - 8x + 15, \quad \text{also zu} \quad x^2 - 9x + 8 > 0. \]
Schreibt man dies in der Form \( (x-1)(x-8) > 0\), so sieht man, dass entweder \( x < 1\) oder \( x > 8\) sein muss. Die Lösungsmenge ist also
  \[ ]-7, 1[ . \]

  •  Zeige, dass \( F(x) = \ln x + 2 \sqrt{3x-1} - 1999\) eine Stammfunktion von   \[ f(x) = \frac{3x-1 + 3x\sqrt{3x-1}}{x(3x-1)} \]  auf dem Intervall \( ]\frac13; \infty[\) ist. 
Ableiten ergibt
  \[ F'(x) = \frac1x + \frac3{\sqrt{3x-1}}  = \frac1x + \frac{3\sqrt{3x-1}}{3x-1}  = \frac{3x-1}{x(3x-1)} +  \frac{3x\sqrt{3x-1}}{x(3x-1)}   = f(x). \]
  
  • Für welche Werte von \( a\) hat die Gleichung  \[ x^3 - 3x^2 - 24x + a = 0 \]  genau zwei verschiedene Lösungen?

Dies ist genau dann der Fall, wenn einer der beiden Extrempunkte der kubischen Funktion auf der linken Seite  auf der  \( x\)-Achse liegt. Aus \( f'(x) = 3x^2 - 6x - 24 = 0\) folgt  \( x^2 - 2x - 8 = (x+2)(x-4) = 0\), also \( x_1 = -2\) und \( x_2 = 4\).  Wegen \( f(-2) = 28\) und \( f(4) = -80\) muss also \( a = -28\) oder  \( a = 80\) sein.

Montag, 14. August 2023

Und wir düsen düsen düsen

 Die Schulmathematik und Flugzeuge, die auf geraden Bahnen mit konstanter Geschwindigkeit vor sich hinfliegen und in der Regel mit Geschwindigkeiten auf der Landebahn aufsetzen, die zum Totalschaden führen würde, haben eine lange Geschichte. So in etwa 20 Jahre, seit man eben die Lebenswelt unserer Schüler in den Mittelpunkt des Mathematikunterrichts gesetzt hat. Mein Leidensgenosse A.R. hat mir wieder einmal einen Auszug aus Elemente der Mathematik 10 (NRW, in BW machen wir Trigonometrie in der 9, wir haben schließlich G8 und Sommerferien im Herbst - weil wir das können) geschickt. Der Plan ist perfide: Man bringt so viel Unsinn über Flugzeuge in die Texte unserer Schulbücher, dass, wenn in 20 Jahren  ChatGPT 5.0 den Airbus 550 konstruiert, das Ding einfach nicht fliegen kann, weil die KI sich seine Weisheiten aus allen möglichen Quellen saugt. Nimm das, Greta Thunberg! Andere wiederum behaupten, Schulbuchautoren wären zu doof, sich einen solchen Plan auszudenken. Man wird sehen. 

Die Einführung in die Trigonometrie läuft, das ist heute heilige Pflicht, über ein realitätsnahes Problem:


Mathematik ist immer und überall, auch beim Segelfliegen. Die Gleitzahl, das ist immerhin fast richtig, ist das Verhältnis von Höhenverlust und zurückgelegter Entfernung. Ganz richtig wäre es gewesen, wenn man das Verhältnis von zurückgelegter Entfernung und Höhenverlust genommen hätte - nobody's perfect. Die zurückgelegte Entfernung wird in der beigefügten Skizze zur "Länge der überwundenen Entfernung"; offenbar haben die Autoren den Ratschlag beherzigt, nicht zu oft das gleiche Wort für die gleiche Größe zu benutzen, weil das sonst langweilt. Die Länge einer Entfernung hat mich etwas stutzen lassen; es klingt ein wenig wie die Länge der Breite eines Rechtecks. Aber die Autoren (und Autorinnen beiderlei Geschlechts) werden sich schon was dabei gedacht haben.

Überhaupt: Das Segelflugzeug in der Skizze sieht nicht aus wie die Segelflugzeuge, die ich  bisher so gesehen habe. Vermutlich ist es ein Segelflugzeug aus der Welt der Schüler. Das Flugzeug steht parallel zur Flugbahn; ich vermute, so einen Unfug bekommt man schnell ausgetrieben, wenn man den Pilotenschein macht. 

Selbstverständlich wird nicht einfach gefragt, welche Höhe das Segelflugzeug verliert, wenn es 10 m weit fliegt (also - so viel Genauigkeit muss sein -  die Länge der überwundenen Entfernung von 10 m). Das hätte mit der Lebenswelt nichts zu tun, Stattdessen fragt sich Schüler Lukas (Pronomen unbekannt), welche Höhe das Segelflugzeug verliert, wenn es 10 m weit fliegt. Und weil Lukas allein nicht genderkonform wäre, fragt sich Emily (Pronomen ebenfalls unbekannt) auch was. Das ist jetzt spannend, gell?

Am Ende darf man wie Lukas und Emily Skizzen anfertigen, obwohl schon eine im Buch steht und obwohl Emily gar keine gemacht hat (Lukas malt, Emily überlegt; die Gendergerechtigkeit in heutigen Mathematikbüchern ist noch nicht ganz erreicht). Oder die Skizze von Emily ist diejenige im Buch - aber wäre das nicht sexistisch, wenn man so tut, als könne Emily ein Segelflugzeug nicht von einem Jet unterscheiden?

Samstag, 12. August 2023

Brandstifter und die Brandstifter

 Man mag von Bernd Höckes Ansichten zu Inklusion und Gendermainstreaming halten, was man will; das ist aber hier nicht mein Thema, Mein Thema ist, wie die Presse mit diesen Äußerungen umgeht. Da ist der Spiegel, der sich in 20 Jahren vom Gewissen der Nation zu einem Schmierenblatt sondergleichen heruntergewirtschaftet hat. Der klärt uns über Gendermainstreaming auf:

Dabei meint das lediglich die Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen – also auch von Mädchen und Jungen. Gleichberechtigung ist im Grundgesetz verankert.

Das hätte dem Redaktör schon auffallen können, dass zwar die Gleichberechtigung im Grundgesetz verankert ist, aber nicht die Gleichstellung. Wortklauberei? Ich denke nicht.

Noch schlimmer als der Spiegel ist Münchens Ex-OB Ude.  In der SZ wird er so zitiert:

"Das sind Leute, die mit Euthanasie mehr am Hut haben als mit Inklusion."

Der Nazivergleich schon im ersten Satz. Respekt.

Wenn die Inklusion behinderter Menschen in den Schulen als angebliches "Ideologieprojekt" abgeschafft werden solle, bereite das einen "Rückfall in die Barbarei" vor.

 Deutschland hat die entsprechende UNO-Konvention 2009 unterschrieben. Und davor waren wir in der Barbarei? Ernsthaft? Aus meinem Jahrgang haben sehr viele Sonderpädagogik studiert, mit dem Ziel, behinderten Menschen an eigens dafür eingerichteten Schulen mit eigens dafür ausgebildetem Personal in kleinen Gruppen die Förderung zukommen zu lassen, die sie benötigen und verkraften. Was, bitteschön, soll daran barbarisch sein? Barbarisch ist es, wenn Eltern lernbehinderte Kinder auf Schulen schicken, in denen sie jeden Tag erleben müssen, dass die anderen Schüler Dinge können, die sie selbst nicht können. Und die personell gar nicht dafür eingerichtet sind, mit diesen Kindern anständig zu arbeiten. 

Auch die Vorsitzende des Behindertenverbandes schlägt in dieselbe Kerbe:

Sie erinnerte vor rund hundert Zuhörerinnen und Zuhörern an die "tief verwurzelte Behindertenfeindlichkeit" in der deutschen Geschichte, gipfelnd im Massenmord der Nationalsozialisten an mehr als 200 000 kranken und behinderten Menschen.

Auch sie verwechselt den Rückfall in die Barbarei vor 2009 mit dem Rückfall in die Barbarei nach 1933. Und weiter:

Koller nannte zahlreiche Beispiele von Diskriminierung, Ausgrenzung, Bevormundung und Unterdrückung. Behinderte Menschen könnten an Veranstaltungen nicht teilnehmen, hätten keinen Zugang zu vielen Restaurants oder Arztpraxen, könnten Verkehrsmittel nicht selbstbestimmt nutzen, fänden keine Behindertentoiletten.

Beim Zugang zu Arztpraxen haben gesetzlich Versicherte, nebenbei bemerkt, bisweilen auch Schwierigkeiten.  Butter bei die Fische: Wäre es nicht wichtiger, sich um diese praktischen Probleme von Behinderten zu kümmern als um die leidige Inklusion? Die funktioniert nämlich, wenn man den Kommentaren von Lehrern im Netz Glauben schenkt, alles andere als gut.

Ich habe im SZ-Artikel nicht ein einziges Argument gefunden, das sich mit den Thesen von Höcke auseinandersetzen würde. Stattdessen wird mit Stimmungsmache auf allerunterstem Stammtischniveau gearbeitet. Und ich fürchte, dass die AfD das besser kann als der Spiegel, die SZ oder der Ude. 


Dienstag, 8. August 2023

No more heroes

 Podcasts sind nicht so meins - Lesen funktioniert bei mir um ein Vielfaches schneller, weil ich Dinge, die nicht wichtig sind, überfliegen kann; das geht bei podcasts nicht. Aber jedem das Seine.

Die ARD jedenfalls hat eine podcast-Serie über "Sheroes". Man ahnt es schon: weibliche Helden. Oder Heldinnen. Und ein podcast handelt vom "Mathe-Genie, das kaum jemand kennt". Nämlich von Emmy Noether. Kaum jemand ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Kaum jemand in der ARD trifft die Sache schon eher. Deshalb haben sie sich eine Expertin geholt. Allerdings nicht von außen; schließlich zahlen wir ja auch deswegen Rundfunkbeiträge, damit sich die Öffentlich-Rechtlichen eigene Expertinnen leisten können. In diesem Falle Johanne Burkhardt.

Zurück zu Emmy Noether. Der Begleittext zum podcast auf dieser Seite lautet wie folgt:

Ihre Theorien waren revolutionär und wahnsinnig komplex. Ohne Emmy Noether hätte Albert Einstein seine Relativitätstheorie nicht beweisen können. Nach heutigen Maßstäben wäre sie mindestens Co-Autorin gewesen. 

Ich habe keine Ahnung, ob die Autorin dieser Zeilen Frau Burkhardt gefragt hat, ob sie dem zustimmen kann. Aber einen größeren Blödsinn über Emmy Noether kann man nur schwerlich schreiben. Zum einen hat sie keine "Theorien" aufgestellt. Sie hat mathematische Sätze bewiesen und, und das dürfte ihre Hauptleistung gewesen sein, eine Art zu denken gepflegt, die ihren Zeitgenossen in der Tat Schwierigkeiten bereitete; allerdings war dies, wie fast alles in der Mathematik, keine Revolution, sondern eine natürliche Entwicklung. Emmy Noether hat vielleicht als erste verstanden, was Richard Dedekind wirklich gemeint hat. 

Als Einstein 1916 die Hauptgleichungen seiner allgemeinen Relativitätstheorie veröffentlichte, hatte Emmy Noether mathematisch noch kaum etwas geleistet. Promoviert hatte sie in Invariantentheorie, auf ihre Ergebnisse in dieser Richtung ist sie später nie mehr zurück gekommen - andere Mathematiker, soweit ich weiß, auch nicht. Einstein hat seine ART natürlich auch nicht bewiesen; schließlich geht es dabei um Physik und nicht um Mathematik. Den Satz über die Co-Autorin kann ich nicht kommentieren, ohne ausfallend zu werden.

Auch auf dieser Seite weiß der Begleittext zum podcast wieder mehr als ich:

Ohne sie wäre Einstein aufgeschmissen gewesen, weil seine Arbeit erst durch Emmy Noether bewiesen werden konnte.

Ach.

Emmy Noethers Ausflug in die Physik hat 1918 die Noetherschen Sätze hervorgebracht, wonach Symmetrien der Raumzeit Erhaltungsgrößen erzeugen: die Homogenität der Zeit etwa liefert den Energieerhaltungssatz. Ein großartiges Ergebnis, das auch auf Einstein Eindruck machte. Seine Relativitätstheorie war damals aber schon fertig. 

Die Behauptung, dass Emmy Noether in den Geschichtsbüchern fehle, ist ein Witz. Es gibt inzwischen wohl ein gutes Dutzend Biographien, die meisten gut bis sehr sehr gut, oder ganze Bücher über ihre Noetherschen Sätze. Ich weiß auch nicht, ob es überhaupt ein Buch über die Geschichte der Algebra gibt, in welchem Noethers Name nicht steht. Aber die Idee hinter dieser Serie ist ja die, dass die Geschichtsschreibung die Rolle der Frauen absichtlich nicht erwähnt. Und ich wüsste jetzt nicht, dass Mathematiker von Euklid bis Hilbert in Standardwerken der Geschichte außerhalb der Wissenschaften großartig Erwähnung finden würden.
 
Deshalb fragt die nervige podcast-Tussi Milena zu Beginn ja auch, 

   "Oder an wen denkt ihr, wenn ihr an große Mathe-Dschenies denkt?"

Warum diese Leute Wörter wie Genie oder Journalist nicht mehr richtig aussprechen können, weiß ich nicht. Sei's drum. Jedenfalls denken die podcast-Hörer, wenn man Lena glaubt, bei Mathe-Dschenie vor allem an Einstein. Der war aber keins, weil er in Mathe eine 4 hatte, wie die Einblendung eines doofen Lieds mit der entsprechenden Textzeile beweist (der Titelsong der Serie Schloss Einstein). Suchmaschinen braucht man nicht, wenn man alles selber weiß, sonst würde man vielleicht auf einer Seite landen, die beispielsweise Einsteins Matura-Zeugnis zeigt.  

Die Expertin Johanne hat ein "Feature" zu Emmy Noether gemacht (die ARD bewirbt es mit den Worten "Sie hat für SWR2 Wissen ein Feature über Emmy Noether gemacht, dass hier in der ARD Audiothek anhören könnt", in welcher Emmy Noether gar die "unsichtbare Mitautorin der allgemeinen Relativitätstheorie" genannt wird. Die Leichtigkeit, mit welcher frau sich hier über die Regeln der deutschen Grammatik hinwegsetzt, ist nicht das einzig Erstaunliche an diesem Satz.

Im Begleittext zur ersten Folge der podcast-Reihe findet man übrigens noch etwas, was die wenigsten Männer wissen:

Der erste Autor der Menschheit? Eine Frau

Und zwar En-hedu-anna.  Die gilt zwar nicht als der erste Autor der Menschheit, sondern, wie man bei Wikipedia hätte nachlesen können, als "erste namentlich bekannte Autorin" der Menschheitsgeschichte. Das scheint mir etwas anderes zu sein. Aber ich bin halt keine Frau. 






Dienstag, 25. Juli 2023

Abitur Marokko

Ich hab mich jetzt etwas über das marokkanische Abitur schlau gemacht. Marokko hat etwa halb so viele Einwohner wie Deutschland und etwa halb so viele Abiturienten; weil die Bevölkerungspyramide dort ganz anders aussehen dürfte als hier, darf man daraus nicht schließen, dass die Abiturientenquote wie hierzulande etwa 40 % beträgt; die wirkliche Zahl dürfte deutlich darunter liegen. Außerdem wählt man in den letzten beiden Jahren eine Fachrichtung aus: entweder Literatur oder Naturwissenschaften oder Mathematik. Über den Daumen gepeilt dürften also weniger als 10 % eines Jahrgangs das Mathe-Abitur dort schreiben. 

Ansonsten ist die Durchfallquote im Abitur etwa ein Drittel - wer sich nicht anstrengt, ist weg. Man vergleiche das mit unserem glorreichen Bildungssystem, wo man bis in die K1 hochgehievt wird und man  dann, wenn klar ist, dass man das bisschen Abi nicht schafft, die Fachhochschulreife ausgehändigt bekommt, ohne auch nur einmal in seinem Leben eine Prüfung absolviert zu haben.

Und noch eins: Das marokkanische Abitur wird in Deutschland als Realschulabschluss anerkannt. Immerhin. 

Freitag, 21. Juli 2023

Der Schwingung

Helga Jungwirth forscht seit über 30 Jahren zu Gender und Mathematik, ist Autorin diverser (!) Bücher und Expertin auf ihrem Gebiet. Also eine Frau, von der mal als alter weißer Lehrer was lernen kann. Etwa über genderproblematische Aufgaben wie die folgende (aus diesem Heft auf Seite 24):

Gegeben ist eine Graphik, in der der zeitliche Verlauf der Stromstärke \(I(t)\) mit \(I(t) = I_0 \cdot \sin(w \cdot t) \) dargestellt ist (\(I\) in Ampere, \(t\) in Sekunden). Aufgabenstellung: Lesen Sie aus der Graphik den Scheitelwert \(I_0\)  der Stromstärke und den Wert der Kreisfrequenz \(w\) ab.

Dass Forschung in Sachen Gender und Mathematik wichtig ist, erkennt man daran, dass den meisten Lesern (und Leserinnen beiderlei Geschlechts und Hermaphroditen) vielleicht gar nicht klar ist, was daran gendertechnisch problematisch sein könnte.  Darum bekommen wir das auch erklärt:

Genderproblematisch bei dieser Aufgabe ist der Kontext, dem sie entstammt. Der Kontext Schwingungen weist im Gebiet Physik eine besonders starke männliche Konnotation auf. Denjenigen, die sich viel mit Elektrotechnik beschäftigen, sind Diagramme wie das gegebene vertrauter, was die Lösung der Aufgabe erleichtert. Außerdem betonen die Bezeichnungen Scheitelwert \(I_0\)  der Stromstärke und der Wert der Kreisfrequenz \(w\) in der Aufgabenstellung sowie die Nennung der Maßeinheiten noch den physikalischen Hintergrund. Dieses Szenario hat eine ganz direkte Verbindung zu der Aufgabenkultur des Mathematikunterrichts sowie zur Leistungsfeststellung.

So ganz überzeugt bin ich davon nicht. Bei einer Sinusfunktion den Scheitelwert abzulesen sollte funktionieren, ob es nun die Stromstärke oder die Geschwindigkeit eines süßen Einhorns ist. Auch die Kreisfrequenz ist kein Problem, wenn man den Text vergisst (sollte man heutzutage ohnehin können) und sich auf die auswendig gelernte Formel \(p = \frac{2\pi}w\) für die Periodenlänge verlässt. Ich habe bei der ganzen Sache auch eher das Gefühl, als würde Frau Jungwirth die ganze Physik für männlich konnotiert halten; jedenfalls sehe ich auf Anhieb nicht, inwiefern Mechanik, Quantentheorie oder Relativitätstheorie weniger männlich konnotiert sein sollen als Schwingungen.

Andererseits bin ich ja auch so etwas wie ein Fachmann für gendersensiblen Mathematikunterricht. Zumindest weiß ich noch, dass ich schon meine allererste Abiturklasse (Abi 2010) gefragt habe, warum um alles in der Welt gerade Frauen so ein großes Problem mit der Bestimmung der Periode einer Sinusfunktion haben. Seit heute weiß ich es: Schwingungen sind männlich.


Samstag, 15. Juli 2023

Marokko III

 Der Vollständigkeit halber die marokkanische Aufgabe zu komplexen Zahlen.

\(m\) sei eine komplexe Zahl \(\ne 2\) und \(\ne -i\). Wir betrachten die Gleichung

\[ z^2 - (m-i)z - im = 0 \]

in der Unbekannten \(z\). 

    1. Zeige, dass die Diskriminante der Gleichung \((m+i)^2\) ist.
    2. Bestimme die beiden Lösungen \(z_1\) und \(z_2\) dieser Gleichung.
    3. Schreibe \(z_1+z_2\) für \(m = e^{i \pi /8} \) in Exponentenschreibweise.
    4. Seien \(A = 2\), \(B = -i\) und \(M = m\) drei Punkte in der komplexen Ebene. Sei \(M'\) der Punkt, den man durch Spiegeln von \(M\) an der imaginären Achse erhält. Bestimme \(M'\) als Funktion von \(m\).
    5. Bestimme den Punkt \(N\), für den \(ANM'B\) ein Parallelogramm ist.
    6. Zeige, dass die Geraden \(AM\) und \(BM'\) genau dann orthogonal sind, wenn \[\text{Re}\ (2-i)m = \text{Re}\ m^2 \] gilt.
1. Offenbar ist die Diskriminante gleich \((m-i)^2 + 4im = (m+i)^2\). 
2. Die Lösungen erhält man am einfachsten mit Vieta:
    \[ z^2 - (m-i)z - im = (z + i)(z - m) = 0 \] 
   Also ist \(z_1 = -i\) und \(z_2 = m\). Die Berechnung der Diskriminante erlaubt auch die Anwendung     der abc-Formel.

3. Mit \(m = e^{\pi i/8} \)  ist \(z_1 + z_2 = -i + e^{\pi i/8} =  e^{2 \pi i/16} -  e^{8 \pi i/16} = e^{2 \pi i/16} (1 - e^{6 \pi i/16})\) errechnet sich der Betrag dieser Zahl mit \(t = \frac{2\pi}{16} \) zu \(|m-i|^2 = |1 - \cos(3t) - i \sin (3t)|^2 = (1 - \cos(3t))^2 + \sin(3t)^2 = 2 - 2 \cos(3t) \).  

Diese Rechnungen haben mir nicht gefallen wollen, weil die meisten Lösungen doch kürzer und eleganter sind. In der Tat geht es besser. Sei \(\zeta_n = e^{2\pi i /n} \) eine normierte \(n\)-te Einheitswurzel. Dann ist
\[ \zeta_{16} + i = \zeta_{16} + \zeta_{16}^4  = \zeta_{32}^2 + \zeta_{32}^8  =   \zeta_{32}^5  (\zeta_{32}^3+ \zeta_{32}^{-3}).\]
Der Ausdruck in der Klammer ist reell, und weil die Einheitswurzel vorne Betrag \( 1 \) hat, ist dies die gewünschte Darstellung.

4. Mit \(M = a+bi\) ist \(M' = -a+bi = - \overline{m}\).

5. Das Viereck \(ANM'B\) bildet genau dann ein Parallelogramm, wenn \(B-A = M'-N\) ist. Es muss also \(N = M' - B + A = -\overline{m} + 2 + i \) sein.

6. Die Geraden \(AM\) und \(BM'\) sind genau dann orthogonal, wenn es eine reelle Zahl \(r\) gibt derart, dass \((m-2)i = r(\overline{m}+i)\) gilt. Dies ist gleichbedeutend damit, dass \( r \) unter komplexer Konjugation invariant ist:
\[ \frac{mi-2i}{\overline{m}+i} = \frac{-\overline{m}i + 2i}{m-i} \]
Wegschaffen der Nenner und Division durch \(i \) zeigt, dass dies äquivalent ist zu
\[2m + 2\overline{m} + i\overline{m} - im = m^2 + \overline{m}^2 \]
und damit wegen \( \text{Re}\ z = z + \overline{z} \) zur Behauptung.
Es würde mich nicht wundern, wenn das etwas intelligenter ginge.

Wie in den Kommentaren angedeutet geht das in der Tat eleganter, wenn man erst nachrechnet, dass das Skalarprodukt für Vektoren in der Gaußschen Zahlenebene, welche den komplexen Zahlen \(z\) und \(w\) entsprechen, gleich Re\((z\overline{w}) \) ist.

Montag, 3. Juli 2023

An der Mathematik hängt alles

 Wenn sich drei Mathematikprofessoren in der FAZ zu Wort melden, darf man annehmen, dass die Vorschläge, die sie machen, wohldurchdacht sind. Der Titel des Beitrags, "An der Mathematik hängt alles", lässt einen vermuten, dass da nicht wirklich viel Neues kommt, denn dass man für ein MINT-Studium Mathematik braucht, wissen auch Leute außerhalb des Elfenbeinturms. Und immerhin wird das Grundübel der Bildungsreformen der letzten 20 Jahre direkt angesprochen:

Die angewachsene Abiturientenquote, die in den letzten 50 Jahren von 15 Prozent auf 40 Prozent der Schülerschaft gestiegen ist, hat zu einer geringeren Selektion geführt.

Dennoch stecken hier schon einige Fehler drin. Die Abiturientenquote ist nicht angewachsen, sie wurde erhöht. In diesem Zusammenhang sollte man den PISA-Schleicher teeren und federn; stattdessen gilt er in der Lügenpresse als Bildungsexperte. Zweitens ist es nicht die geringere Selektion, die einen anspruchsvollen Unterricht erschwert, sondern die Tatsache, dass bei den 50 % Abiturienten eben auch Schüler dabei sind, die vor 50 Jahren so was von überhaupt gar nicht das Gymnasium besucht hätten. 

Der dritte Fehler ist der schlimmste: Anstatt das Übel an der Wurzel zu packen, schwadronieren sie erst etwas herum und schlagen dann allen Ernstes vor, die Karikaturen von IQB-Aufgaben als zukunftsträchtig zu preisen und den unsäglichen Aufgabenpool zu loben, der gerade dabei ist, auch die letzten Reste von Mathematik aus der Abiturprüfung zu entfernen - von dem schier unglaublichen Scheißdreck namens Bewerten in den Naturwissenschaften fange ich hier gar nicht erst an.

Der ganz große Hammer kommt zum Schluss: 

  • Vor- und Orientierungskurse an den Unis sollen fest im Studium integriert werden, einschließlich Noten und Kreditpunkten.
  • Digitale Werkzeuge können im ersten Studienjahr eingesetzt werden, um Defizite in Grundfertigkeiten wie Bruchrechnen oder Termumformung zu beheben.
  • Um dies im Studium einzubinden, könnte es erforderlich sein, einige fortgeschrittene Lehrveranstaltungen zu streichen.

Im Ernst? Vorkurse zum Wiederholen des Schulstoffs werden auf das Studium angerechnet, und weiterführende Vorlesungen gestrichen? Soll das gegen das sinkende Niveau helfen? Bruchrechnen statt Galoistheorie? Man mag es gar nicht glauben. Und digitale Werkzeuge, um Defizite in Grundfertigkeiten zu beheben? Was erlauben Struuunz? Wenn digitale Werkzeuge Grundfertigkeiten in Bruchrechnen beheben könnten, würde ich diese in meinen Klassen verpflichtend einführen. Aber die einfache Wahrheit ist: Taschenrechner beheben keine Defizite, sie verfestigen sie. 

Immerhin: Wenn jetzt Bruchrechnen und Termumformung an der Uni gelehrt werden, können wir uns auf dem Gymnasium ja etwas zurücknehmen und stattdessen die Kartoffelaufgabe üben.


P.S. Den Beitrag von Herrn Kühnel auf Condorcet hatte ich übersehen.

Donnerstag, 22. Juni 2023

Marokko IV

 Die vierte Aufgabe aus dem Abitur in Marokko 2021 behandelt die Zahlentheorie:

Sei \(a \ge 2\) eine natürliche Zahl und \(A = 1 + a + a^2 + a^3 + a^4 + a^5 + a^6\). Sei \(p\) eine ungerade Primzahl, welche \(A\) teilt.

    • 1.a)  Zeige, dass \(a^7 \equiv 1 \bmod p\) ist, und folgere, dass \(a^{7n} \equiv 1 \bmod p\) für alle \(n \in \mathbb N\) ist.
    • b) Zeige, dass \(a\) und \(p\) teilerfremd sind, und folgere, dass für alle \(m \in \mathbb N\) gilt: \(a^{(p-1)m} \equiv 1 \bmod p\).
    • 2.a) Wir nehmen jetzt an, dass 7 kein Teiler von \(p-1\) ist. Zeige, dass \(a \equiv 1 \bmod p\) gilt.
    • b) Folgere, dass \(p = 7\) ist.
    • 3. Zeige: Ist \(p\) eine ungerade Primzahl, welche \(A\) teilt, dann ist \(p = 7\) oder \(p \equiv 1 \bmod 7\)
Fangen wir an. Um etwas über \(a^7\) herauszubekommen, multiplizieren wir \(A\) mit \(a\) und finden \(Aa = a + a^2 + a^3 + a^4 + a^5 + a^6 + a^7 = A + a^7-1\). Also ist \(a^7-1 = Aa - A\) durch \(p\) teilbar, weil \(A\) durch \(p\) teilbar ist. Wenn \(a\) und \(p\) nicht teilerfremd sind, dann ist \(p\) ein Teiler von \(a\), weil \(p\) prim ist. Dann folgt aber \(A = 1 + a + a^2 + \ldots + a^6 \equiv 1 \bmod p\) im Gegensatz dazu, dass \(p\) ein Teiler von \(A\) ist. Damit ist 1. erledigt.

Sei nun \(p-1\) nicht durch 7 teilbar. Nach dem kleinen Fermatschen Satz ist \(a^{p-1} \equiv 1 \bmod p\); außerdem ist \(a^7 \equiv 1 \bmod p\). Nach dem Satz von Bezout gibt es Zahlen \(r\) und \(s\) mit \(7r + (p-1)s = 1\). Dann ist aber \[a = a^1 = a^{ 7r + (p-1)s} = a^{7r} a^{(p-1)s} \equiv 1 \bmod p\]. Aus \(A = 1 + a + a^2 + \ldots + a^6 \equiv 1 + 1 + 1 + \ldots + 1 = 7 \bmod p\) und weil \(p\) ein Teiler von \(A\) ist, muss also \(p = 7\) sein.

Damit ist die Arbeit getan: Falls \(7\) kein Teiler von \(p-1\) ist, ist \(p = 7\); andernfalls ist \(7\) ein Teiler von \(p-1\). Wenn also \(A\) durch eine ungerade Primzahl \(p\) teilbar ist, dann ist entweder \(p = 7\) oder \(p \equiv 1 \bmod 7\).

Mehr Mathematik braucht man nicht, um das RSA-Verfahren zu verstehen - eine der Grundlagen für sichere online-Kommunikation und damit aus der Lebenswelt eines jeden, der online banking benutzt oder mit seinem Handy bezahlt. Aber wer möchte schon bestreiten, dass die Kompetenz des Kästchenzählens wichtiger ist. 

Samstag, 17. Juni 2023

Marokko II

Heute gibt es die zweite Aufgabe des 2021-Abiturs aus Marokko.

Wir betrachten eine auf \(\mathbb R\) definierte Funktion \(F\), die durch \[F(x) = \int_0^x e^{t-\frac{t^2}2}\, dt \] gegeben ist. 
    • 1.a)  Bestimme das Vorziechen von \(F(x)\) in Abhängigkeit von \(x\) .
    • b) Zeige, dass \(F\) auf \(\mathbb R\) differenzierbar ist und berechne die erste Ableitung \(F'(x)\).
    • 2.a) Zeige durch partielle Integration, dass gilt: \[\int_0^1 F(x)\, dx = \int_0^1 (1-x) e^{x - \frac{x^2}2}\, dx. \]
    • b) Berechne \(\int_0^1 F(x)\, dx .\)
    • 3. Wir betrachten die durch  \[ u_n = \frac{1}{n} \sum_{k=0}^{n-1} \Big( (n-k) \int_{\frac{k}{n}}^{\frac{k+1}{n}}  e^{x - \frac{x^2}2}\, dx \Big)  \] für alle \( n \in \mathbb N \) definierte Folge \( (u_n)_{n \ge 1} \). a) Zeige, dass für alle \(n \in \mathbb N\) gilt: \[  u_n = \frac1n  \sum_{k=0}^{n-1}  (n-k) F\Big( \frac{k+1}{n} \Big) - \frac1n  \sum_{k=0}^{n-1}  (n-k) F\Big( \frac{k}{n} \Big).  \]
    • b) Zeige, dass für alle \(n \in \mathbb N\) gilt: \[  u_n = \frac1n  \sum_{k=1}^{n}  F\Big( \frac{k}{n} \Big).  \]
    • c) Folgere daraus, dass die Folge \( (u_n)_{n \ge 1} \) konvergiert und bestimme deren Grenzwert. 
Natürlich wird auch hier nur mit Wasser gekocht, aber die Speisekarte geht dann doch etwas über ein veganes Tofuwürstchen hinaus.

a) Weil der Integrand positiv ist, ist auch das Integral für \(x > 0 \) positiv. Weiter ist \(F(0) = 0\) und \(F(x) < 0 \) für alle \(x < 0 \). 

b) Weil der Integrand stetig ist, ist \(F\) differenzierbar, und es gilt \(F'(x) =  e^{x - \frac{x^2}2}. \)

2a) Partielle Integration einer Integralfunktion - nicht schlecht! Wir finden \[ \int_0^1 1 \cdot F(x)\, dx = x F(x) \Big|_0^1 - \int_0^1 x F'(x)\, dx = F(1) - \int_0^1 x  e^{x - \frac{x^2}2}\, dx \\ = \int_0^1  e^{x - \frac{x^2}2}\, dx - \int_0^1 x  e^{x - \frac{x^2}2}\, dx = \int_0^1 (1-x)  e^{x - \frac{x^2}2}\, dx. \]

2b) Jetzt ist \[ \int_0^1 F(x)\, dx = \int_0^1  (1-x)  e^{x - \frac{x^2}2}\, dx = e^{x - \frac{x^2}2} \Big|_0^1  = \sqrt{e} - 1 .\]

3a) Die erste Identität folgt, wenn man das Integral durch die Stammfunktion \( F \) ausdrückt. b) zeigt sich von alleine, wenn man weiß, wie Indexverschiebung bei Summen funktioniert. Die Konvergenz in c) liegt daran, dass die Summe eine Riemannsumme ist, die gegen das entsprechende Integral konvergiert; insbesondere ist \[ \lim_{n \to \infty} u_n = \int_0^1   F(x)\, dx = \sqrt{e} - 1 .\]

Mittwoch, 14. Juni 2023

Abituraufgaben aus Marokko

Viele nordafrikanischen Länder haben ihr Bildungssystem von Frankreich übernommen; wie bei den Franzosen gibt es dort verschiedene Spielarten des Abiturs, von S wie scientifique bis L wie Literatur.  Heute stelle ich hier die Einstiegsaufgabe von 2021 vor.

I. Wir betrachten die auf dem Intervall \(I = ] -\infty, 1[\) definierte Funktion \( f \)  mit \( f(x) = \ln(1-x) \). Sei C das Schaubild von \(f\) in einem kartesischen Koordinatensystem.

    • (0,25) 1.a) Zeige, dass \( f \) stetig auf I ist .
    • (0.25) b) Zeige, dass die Funktion \( f \)  auf I streng monoton fallend ist.
    • (0,75) c) Berechne \(  \lim\limits_{x \to 1^-} f(x)\), \(  \lim\limits_{x \to - \infty} f(x)\),  \(  \lim\limits_{x \to 1^-} \frac{f(x)}{x}\).
    • (0,5)   d)  Interpretiere diese Resultate am Schaubild C.
    • (0,25) e) Zeichne die Monotonietafel. 
Bei 1.a) wird man, weil es dafür nur 0,25 P gibt, vermutlich nur schreiben müssen, dass \( f \) die aus
\(u(x) = \ln x \) und  \( v(x) = 1-x \) verkettete Funktion ist, und \(u\) und \(v\) stetig sind.
Bei b) wird man sich auf \(f'(x) = \frac1{x-1}\) berufen und feststellen, dass \( f'(x) < 0 \) auf I gilt.
Die Grenzwerte sind \(\lim\limits_{x \to 1^-} f(x) = -\infty \), \(\lim\limits_{x \to - \infty} f(x) = +\infty \)  und \(\lim\limits_{x \to 1^-} \frac{f(x)}{x} = 0\), weil \( x \) schneller wächst als der Logarithmus. Die ersten beiden Ergebnisse liefern die senkrechte Asymptote \( x = 1 \), das Wachsen über alle Grenzen für \(x \to - \infty \), wobei \(f \) viel langsamer wächst als linear. Die Monotonietafel ist hier banal, weil \(f \) auf ganz I streng monoton fällt.
    • (0,25) 2. a) Zeige, dass das Schaubild C konkav ist.
    •  (0,25)    b)  Skizziere C in einem kartesischen Koordinatensystem.
    • (0,25)  3. a) Zeige, dass \(f \) eine Bijektion von I auf \( \mathbb R\) ist.  Sei jetzt \( f^{-1} \) die Umkehrfunktion von \( f \).
    • (0,25)      b) Bestimme \( f^{-1}(x) \) für \(x \in \mathbb R\). 
    • (0,25)      c) Zeige, dass \(f^{-1}(-1) = 1-e^{-1} \) ist.
Konkav ist das, was der deutsche Kindergarten am Gymnasium eine Rechtskurve nennt. Hier folgt 2.a)  aus \( f''(x) = - \frac1{(x-1)^2} < 0 \). Um zu zeigen, dass \(f \) bijektiv ist, muss man nachweisen, dass es injektiv und surjektiv ist. Injektivität folgt aus der strengen Monotonie, Surjektivität aus den Berechnungen der Grenzwerte von \(f\) für \(x \to - \infty\) und \(x \to 1\). Die Bestimmung der Umkehrfunktion ist einfach; man erhält \( f^{-1}(x) = 1 - e^x\) und damit \(f^{-1}(-1) = 1-e^{-1} \) .

Das war bisher nichts Weltbewegendes, aber doch wohltuend mathematisch. Kommen wir nun zu Teil II.

II. Für jedes reelle \( x \) und für jede natürliche Zahl \(n \ge 2 \) setzen wir

   \[ P_n(x) = x + \frac{x^2}2 + \ldots + \frac{x^n}n .\]

    • (0,5) 1. Zeige, dass für jede natürliche Zahl \(n \ge 2 \) ein reelles \( x \in ]0, 1[ \)  existiert mit \(P_n(x) = 1. \)
    • (0,5) 2. Bestimme die reelle Zahl \( \alpha = x_2\) und zeige, dass \(0 < \alpha < 1 \) gilt
    • (0,5) 3.a) Zeige:    für jede natürliche Zahl \(n \ge 2 \)  gilt \(P_{n+1}(x_n) > 1 \).
    • (0,5)    b) Folgere daraus, dass die dadurch definierte Folge \( (x_n)_{n \ge 2} \)  streng monoton fallend ist.
    • (0,25)  c) Zeige, dass \(x_n \in\ ]0, \alpha [ \) ist für jede natürliche Zahl \(n \ge 2 \) .
    • (0,25)  d) Zeige, dass die Folge \( (x_n)_{n \ge 2} \) konvergiert.
    • 4. Für jedes reelle \( x \in I\) und jede  natürliche Zahl \(n \ge 2 \)  setzen wir \[ f_n(x) = f(x) + P_n(x) \].   (0,5) a) Zeige, dass für alle \( x \in I\) und alle \(n \ge 2\) gilt: \(f_n'(x) = - \frac{x^n}{1-x} \).
    • (0,25) b) Zeige, dass  für alle \( x \in [0, \alpha] \) und alle \(n \ge 2\) gilt: \( |f_n'(x)| \le  \frac{\alpha^n}{1-\alpha} \).
    • (0,5) Folgere daraus, dass  für alle  \( x \in [0, \alpha] \) und alle \(n \ge 2\) gilt:  \( |f_n(x)| \le  \frac{\alpha^n}{1-\alpha} \).
    • (0,5) d) Zeige, dass für alle \(n \ge 2 \) gilt: \( |f(x_n)+1| \le  \frac{\alpha^n}{1-\alpha} \).
    • (0,5)  e) Bestimme damit den Wert von \( \lim \limits_{x \to + \infty} x_n\). 
Gehen wir's an. Für 1 genügt die Beobachtung \(P_n(0) = 0\) und \(P_n(1) > 1\). Lösen der quadratischen Gleichung \(1 = P_2(x) = x + \frac{x^2}2 \) liefert \( x_2 = \sqrt{3} - 1\), und die Behauptung folgt wegen \(1 < \sqrt{2} < 2\). Offenbar ist \(P_{n+1}(x_n) = P_n(x_n) + \frac{x_n^{n+1}}{n+1} = 1 + \frac{x_n^{n+1}}{n+1} > 1\). 

Jetzt ist \(P_{n+1}(x_n) > 1\) und  \(P_{n+1}(x_{n+1}) = 1\); weil \( P_n \) streng monoton wächst, folgt daraus \(x_{n+1} < x_n\), d.h. die Folge \(( x_n )\) ist monoton fallend. Wegen \(x_2 = \alpha \) ist daher \(x_n \le \alpha\); weil auch \(x_n > 0\) ist, folgt \( x_n \in ]0, \alpha ]\). Weil die Folge \((x_n) \) monoton fällt und beschränkt ist, konvergiert sie.

In 4. Ist \[ f_n'(x) = f'(x) + P_n'(x) = \frac1{x-1} + 1 + x + x^2 + \ldots + x^{n-1} \]. Der hintere Teil ist eine geometrische Reihe mit Summe \( \frac{x^n-1}{x-1} \), folglich ist \[ f_n'(x) = \frac1{x-1} + \frac{x^n-1}{x-1}  = \frac{x^n}{x-1} = -\frac{x^n}{1-x} \] wie verlangt.

Für b) rechnet man nach, dass \( |f_n'(x)| \) streng monoton steigt, indem man zeigt, dass \( |f_n''(x)| > 0 \) ist. Dann folgt die Behauptung wegen  \( |f_n'(0)| = 0 \) und \( |f_n'(\alpha)| =  \frac{\alpha^n}{1-\alpha} \). 

Für c) braucht man eine Idee. Ich habe mir folgendes einfallen lassen:\[ |f_n(x)| = \int_0^x |f_n(t)|\, dt \le \int_0^x \frac{\alpha^n}{1-\alpha}\, dt = \frac{\alpha^n}{1-\alpha} \cdot x < \frac{\alpha^n}{1-\alpha} \] wegen \(0 < x < 1\). Dabei habe ich benutzt, dass \(f(x) \le 0 \) für  \( x \in [0, \alpha] \)  und damit \(|f(x)| = -f(x) \) ist.

Setzen wir \(x = x_n\) in \(f_n\) ein, erhalten wir \(f_n(x_n) = f(x_n) + P_n(x_n) = f(x_n) + 1 \). Also folgt aus c), dass \(| f(x_n) + 1| =  |f_n(x_n)|  < \frac{\alpha^n}{1-\alpha} \) ist.

Aus d) folgt, dass \( \lim_{n \to \infty} |f(x_n) + 1| = 0 \) ist, also \( \lim_{n \to \infty} \ln(1-x_n) = -1 \). Daraus folgt  \( \lim_{n \to \infty}  1 - x_n = e^{-1} = \frac1e \), indem man die Exponentialfunktion auf den Grenzwert anwendet (Stetigkeit!) und damit \( \lim_{n \to \infty}  x_n  = 1 - \frac1e \). 

Das war die erste Aufgabe von vieren; die anderen (A2: Integralfunktion; A3: komplexe Zahlen; A4: Kongruenzrechnung und kleiner Fermatscher Satz) hole ich bei Gelegenheit nach.

Mittwoch, 7. Juni 2023

Dodis

 Weil mich unlängst jemand gefragt hat, ob in dem Buch "Algebra und Funktionen" von Prof. Dodi Bärbel Barzel, Dodi Matthias Glade (promoviert bei Prediger) und Dodi Marcel Klinger noch weitere lustige Sachen stünden (eine solche habe ich hier aufgezählt), will ich mich noch ein wenig mit diesem Buch befassen. 

Sobald die Autoren die Grundschulmathematik hinter sich lassen, wird es glitschig. Definitionsmenge und Wertebereich von Polynomen und Potenzfunktionen bilden da keine Ausnahme. Auf Seite 205 findet man folgendes schöne Bildchen:


Hier sind drei Fehler versteckt. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es wären die folgenden:

  1. Offenbar sind die Schaubilder vertauscht. 
  2. Die Wertemenge jeder reellwertigen Funktion ist eine Teilmenge der reellen Zahlen; die Autoren meinen natürlich, dass die Wertemenge eine echte Teilmenge ist.
  3. Den Wertebereich durch die Variable x auszudrücken ist vielleicht kein Fehler, aber ein Hinweis darauf, wo die Autoren der diesjährigen Abituraufgaben Mathematik "studiert" haben.
  4. Das Minimum der Funktion vierten Grades hat als x-Koordinate die reelle Nullstelle des Polynoms \(f'(x) = 12x^3 + 15x^2 + 1\). Wenn man Algebra kann, sieht man schnell, dass \(x = -1,3\) keine Nullstelle von \(f'\) sein kann. Rationale Nullstellen haben nämlich höchstens den Koeffizienten 12 von \(x^3\) als Nenner. Wer noch mehr Algebra kann, der sieht, dass das Polynom \(g(x) = x^3 \cdot f'(\frac1x) =  x^3 + 15x + 12\) Eisensteinsch für \( p = 3 \)  und daher irreduzibel ist, also keine rationale Nullstelle haben kann. Tatsächlich ist \(x \approx -1.299358 \ldots \), und insbesondere liegt \(y = 1,28\) nicht im Wertebereich.
Gut, das sind Fehler, aber es sind lässliche Fehler. Die drei großen Fehler, die hier versteckt sind, sind die drei Doktortitel der Autoren. Wer vergisst, ein Zitat mit Fußnote und Verweis korrekt zu kennzeichnen, verliert seinen Doktortitel. Wer ihn sich in den Erziehungswissenschaften erschlichen hat, darf ihn behalten. 

Der Fundamentalsatz der Algebra wird tatsächlich formuliert (Polynome vom Grad n haben höchstens n Nullstellen), und er wird später dahingehend verschärft, dass man jedes Polynom mit reellen Koeffizienten in lineare und (irreduzible) quadratische Faktoren zerlegen kann. Herzallerliebst ist allerdings, wie die Autoren die Faktoren zählen:


Das kubische Polynom  \(x^3 + x = x(x^2+1) \) hat also, wenn man Dodis zählen lässt, drei Faktoren. Ist wahrscheinlich höhere Algebra. Erstaunlich auch, dass in einem Buch über Algebra und Funktionen die komplexen Zahlen noch nicht einmal am Rande erwähnt werden. 

Dann geht es um Umkehrfunktionen von Polynomfunktionen. Da muss man natürlich aufpassen:

Man muss den Definitionsbereich der Nullfunktion schon sehr arg einschränken, wenn man sie injektiv machen will. Überhaupt verleitet der Verzicht auf jegliche Beweise etwas zum Schwafeln:

Da muss man schon gut im Raten sein, wenn man herausfinden will, was die Autoren da gemeint haben könnten.

Das nächste Kapitel dreht sich um Exponentialfunktionen \(f(x) = a^x \), und auch hier kann der Laie was lernen und der Fachmann wundert sich. Oder andersrum. Wiewohl in diesem Buch fast gar nichts bewiesen wird, machen die Autoren im Falle der Monotonie von Exponentialfunktionen eine Ausnahme. Man ahnt, dass das keine gute Idee ist:

Die Monotonie wird also für \(a > 1\) auf die Frage \(a^c > 1\) zurückgeführt, und dann wird rückbesonnen. Dass die Zahl \(\frac14\), die zwischen 0 und 1 liegt, beim Potenzieren mit der positiven Zahl \( \frac12 \) kleiner wird, hätte ich nicht gedacht. Aber wer zwei Faktoren als drei zählen kann, kann auch kleiner so definieren, dass die Aussage richtig bleibt. 

Eine Anwendung der Exponentialfunktion aus der Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen ist das Falten von Papier (nimm das, IPad!). 
Mein Gott - glauben die das wirklich? Jeder Depp hat bei 7- oder 8-maligem Falten an ein Blatt Papier und nicht an einen 5 km langen Papierstreifen gedacht. Was das Universum hier zu suchen hat, versteht auch niemand. Aber es ist schön, es mal erwähnt zu haben.

Ganz zum Schluss darf man in einem Test überprüfen, ob man jetzt genug Algebra gelernt hat, um in Didaktik promovieren zu können. Da darf es dann auch mal schwierig werden:
Gut, dass es auf der Homepage der Autorin Lösungen gibt. Die Funktion zu Situation 1 ist eine Funktion mit den Werten "wach" und "müde"; das ist die erste nicht reellwertige Funktion im Buch:


Und dazu fällt mir dann nichts mehr ein.














Sonntag, 4. Juni 2023

Landesbildungsserver BW: Binomische Formeln, Strahlensatz und Dodis

Wenn man sich wie die sächsische SPD-Bildungspolitikerin Sabine Friedel die Frage stellt, wozu man im Leben binomische Formeln braucht, dann kann man sich auf dem Landesbildungsserver BW schlau machen:

Die binomischen Formeln werden meist in Klasse 8 eingeführt. Sie sind Voraussetzung für die Bestiimmung von Hauptnennern bei Bruchgleichungen

 Da kann ja sogar ich was lernen. Ich habe schon viele Bruchgleichungen gelöst, aber die binomischen Formeln habe ich zur "Bestiimmung" des Hauptnenners ebensowenig gebraucht wie die sächsische SPD. 

Und wenn ich schon mal auf der Seite bin, hab ich gedacht, schauste mal nach, was sie zum Strahlensatz sagen. Der ist ja in BW höhere Mathematik und kann vor der Promotion praktisch gar nicht bewiesen werden. Und was soll ich sagen: die Strahlensätze werden "hergeleitet" und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Man findet weder, was behauptet ist, noch weiß man, was vorausgesetzt ist, aber irgendwie kommt eine Streckung vor und am Ende der Strahlensatz raus - so macht das der Lambacher Schweizer ja auch, nur noch schlechter. Geschrieben sind die großartigen "Animationen" von einem Dr. Andreas Meier. Ich wollte mich schon aus dem Fenster werfen, weil jetzt promovierte Mathematiker vom Strahlensatz überfordert sind, da habe ich gerade noch festgestellt, dass Herr Meier in Didaktik der Mathematik promoviert hat. Glück gehabt.

Um weiteres Unheil zu vermeiden schlage ich vor, Doktortitel in Didaktik künftig nicht mehr mit Dr,, sondern mit Didr. oder noch besser mit Dodi. abzukürzen.

Digital Second

In Greystones (Co. Wicklow, Irland) haben die Eltern beschlossen, ihren Kindern zu erzählen, dass es erst in den weiterführenden Schulen ein Smartphone gibt. God Save Ireland.

Dienstag, 23. Mai 2023

Mathe-Abitur 2023 BW

Nun ist die leidige Zweitkorrektur also auch erledigt. Wie es aussieht, werden inzwischen reihenweise fachlich falsche Aussagen als richtig bewertet - nicht nur in Mathematik: Kollegen aus den Naturwissenschaften erzählen mir durch die Bank dasselbe. Bei den Biologen kommt noch hinzu, dass die Aufgabenstellung fachliche Fehler enthält. Da sind wir in Mathe ja glücklicherweise noch weit davon entfernt . . . .

Und damit sind wir beim Thema: Mathe-Abitur 2023 in BW. Feststellen kann man, dass das Rechnen weiter zurückgedrängt wurde. Außer dem Ableiten einer Funktion dritten Grades und dem Integrieren von \( f(x) = \sqrt{x+2} \) gab es kaum Analysis (im innermathematischen Wahlteil musste man immerhin  eine Funktion von Typ \(x^2 \cdot e^{-2x}\) ableiten). Stattdessen musste man am laufenden Band irgendwelche undokumentierte Rechnungen interpretieren. Das kann man sicherlich einmal fragen - aber warum um Gottes Willen so oft?
  • PT 3: Mit dem Term \( \pi \int_0^2 (f(x))^2\ dx \) kann das Volumen eines Körpers  berechnet werden. Begründen Sie, dass dieses Volumen größer als  \( \pi \cdot 0,5^2 + \pi \cdot 1^2 \) ist.


Natürlich war die Idee dahinter, dass man das mit dem Volumen von Zylindern vergleicht; dazu muss man das Integral als Volumen eines Rotationskörpers auffassen. Allerdings ist das Volumen ein Distraktor; es hätte vollkommen genügt,  zeigen zu lassen, dass das Integral
  \( \int_0^2 (f(x))^2\ dx > 0,5^2 + 1^2 \)
ist; dazu hätte man nur die Kästchen unter dem Schaubild von \( (f(x))^2 \) zählen müssen.
  • PT 1, Aufgabe 6: Geben Sie im Sachzusammenhang ein Ereignis an, dessen Wahrscheinlichkeit mit dem Term \(2 \cdot \frac35 \cdot \frac25 \) berechnet werden kann.
Nichts Weltbewegendes, es gab auch nur 0,5 VP (zum letzten Mal - nach jahrelanger Beharrung auf halbzahlige Bepunktung, um die Lehrer bei der Noteneingabe in den Wahnsinn zu treiben, werden diese nächstes Jahr abgeschafft), aber warum fragt man nicht einfach, mit welcher Wahrscheinlichkeit man zwei verschiedenfarbige Kugeln zieht?
  •  WT Geo B2. In c) sollte man den Term \( 6 \cdot 6 - \frac12 \cdot 3 \cdot 3  -2 \cdot \frac12 \cdot 3 \cdot 6 \) erklären, anstatt die Fläche des Dreiecks auszurechnen.
  • WT Geo B2   In f) gab es eine weitere Rechnung im Zusammenhang mit einer Drehung zu interpretieren:  \(\left( \begin{smallmatrix} 6 \\ -3 \\ 0 \end{smallmatrix} \right)  \cdot \left[ \left( \begin{smallmatrix} 0 \\ 6 \\ 0 \end{smallmatrix} \right)  + t \cdot \left( \begin{smallmatrix} 6 \\ -3 \\ 0 \end{smallmatrix} \right)  - \left( \begin{smallmatrix} 3 \\ 0 \\ 0 \end{smallmatrix} \right)  \right] = 0  \iff t=0,8, \) d.h. \(S(4,8 | 3,6 |0) \).  \( \vec{OT} = \vec{OS} + |\vec{CS}| \cdot \left( \begin{smallmatrix} 0 \\ 0 \\ 1 \end{smallmatrix} \right)  \)
Zu rechnen gab es in Geometrie nicht wirklich viel: eine  Ebenengleichung, einen Winkel, eine Punktprobe, und einen Punkt bestimmen,  sodass ein Dreieck rechtwinlklig wird. Wir nähern uns asymptotisch dem kalkülfreien Mathe-Abitur.
  • WT A1.1 Wenn \(f_t(x) = (1-tx^2) \cdot e^{-2x} \) ist, so sollte man zeigen, dass der Schnittpunkt des Schaubilds mit der y-Achse von \( t \) unabhängig ist.
 Meine Güte - wenn ihr Punkte verschenken wollt, schreibt doch gleich,  dass man \( f_t(0) \) ausrechnen soll. So aber ist die Aufgabe peinlich.

WT Geo B2, d) hat den Vogel abgeschossen. Es ging um ein Prisma mit aufgesetzter Pyramide. Ich zitiere:
  • Die Ebene \(N_k\) enthält die \(x_3\)-Achse und den Punkt \(P_k(1-k | k | 0) \) mit \(k \in ]0; 1[ \). Welche Kanten des Körpers von \(N_k\) geschnitten werden, ist abhängig von \( k \). Durchläuft  \( k \) alle Werte zwischen 0 und 1, so gibt es Bereiche \( ] a; b [\), für die \(N_k\) für alle Werte von \( k \in  ] a; b [ \) jeweils die gleichen Kanten des Körpers schneidet. Bestimmen Sie den größten dieser Bereiche und geben Sie die zugehörigen Kanten an.
Alles klar? Nach der dritten Lesung vielleicht? Warum heißen Intervalle jetzt Bereiche? Wie wird die Größe dieser Bereiche gemessen - Lebesgue I presume? Nun ja: Unmöglich ist es nicht, auf die Frage zu kommen, welche die Aufgabensteller stellen wollten: Die Ebenen \(N_k\) schneiden für gewisse Werte von \( k \in ]0; 1[ \) dieselben Kanten des Körpers, und gesucht ist das Teilintervall maximaler Länge mit dieser Eigenschaft. Die von den Aufgabenstellern erträumte Lösung ist, dass die Ebenen für  \(0 < k < \frac13 \) und für \( \frac31 < k < 1 \) jeweils dieselben Kanten schneiden, und deswegen ist das zweite Intervall \( ]\frac13 ; 1 [ \) das längere - size matters. 
Size matters indeed: Das Intervall \( ]1 ; 2[ \) ist noch länger, und für alle \(k \) aus diesem Intervall schneidet \(N_k \) jeweils dieselben Kanten, nämlich gar keine, weil es wegen \(k \in ]0; 1[ \) gar keine Ebene gibt. Vielleicht wäre es gut gewesen zu sagen, dass \(0 < a < b < 1\) sein soll.
Zugegeben - diese Frage hat während des Abiturs nur wenige gequält, weil die meisten gar nicht wussten, worum es dabei ging.

Natürlich hätte ich den anderen Wahlteil wählen können, aber da habe ich in Teil c) nicht einmal die Lösung verstanden. Man sollte da im wesentlichen begründen, warum im folgenden Bildchen der Mittelpunkt M der Hypotenuse des Dreiecks den kleinsten Abstand der Strecke zum Kreis hat. 


Schon der erste Satz der Musterlösung ist ein Paradebeispiel dafür, dass mathematisches Argumentieren etwas ganz anderes ist als Beweisen:
  • Die \(x_3\)-Achse stellt die Symmetrieachse des zylinderförmigen Masts dar. Damit ist es ausreichend, zu begründen, dass kein Punkt des Vierecks ABED einen kleineren Abstand zur \(x_3\)-Achse hat als der Mittelpunkt M der Strecke DE.
Die eigenwillige Zeichensetzung stammt nicht von mir, aber ich kann sie imitieren:


Die \(x_3\)-Achse stellt die Symmetrieachse des quaderförmigen Masts dar. Damit ist es ausreichend, zu begründen, dass kein Punkt des Vierecks ABED einen kleineren Abstand zur\(x_3\)-Achse hat als der Mittelpunkt M der Strecke DE. Mathematisch Argumentieren ist echt leicht, wenn man es mal verstanden hat.

In einer anständigeren Welt als der unseren würde ich diese Aufgabe allen DidaktikprofessorInnenx vorlegen. Wer sie in 30 Minuten nicht mathematisch sauber lösen kann, sucht sich einen anderen Job. Ich bin mir sicher, dass wir in einer halben Stunde die Hälfte der Ursachen unseres Bildungsnotstands los wären.

Stochstik C1.b) war auch lustig:
  • An einem Supermarkt wird regelmäßig die gleiche Anzahl von Flaschen geliefert. Dabei enthalten im Mittel mehr als 780 Flaschen mindestens 600 ml Öl. Ermitteln Sie, wie viele Flaschen mindestens geliefert werden.
Hä? Die einzigen Flaschen, über die man was aussagen könnte, sind die Autoren dieser bescheuerten Aufgabe. Die Lösung funktioniert so, dass man als erstes sein Hirn ausschaltet und auf das Reizwort ``im Mittel'' einen Pawlow vollführt: Aus \( mu = n \cdot p \) kann man dann schließen, dass es mindestens 792 Flaschen sein müssen. Wenn man sein Hirn wieder einschaltet, stellt man fest, dass es sich hier um aktive Verblödung von Schülern und, so vermute ich, Lehrern handelt. Woher weiß man denn, dass der Erwartungswert größer als 780 ist? Hat den Hawking ausgerechnet? Eher nicht; man hat den Supermarkt eine Weile beobachtet und Häufigkeiten gezählt. Der ``wirkliche'' Erwartungswert ist also unbekannt. Insbesondere kann ich diesen Erwartungswert nicht benutzen, um auszurechnen, wie viele Flaschen geliefert werden. Warum sollte ich das auch - wenn der Supermarktleiter den Verdacht hat, dass weniger als 792 Flaschen geliefert werden, wird doch wohl sicherlich, wenn er in den letzten 10 Jahren in BW Abitur gemacht hat, einen Hypothesentest machen. Oder eine App runterladen, die Kartons zählen kann.









Freitag, 19. Mai 2023

KI und die Zukunft des Internets

Seit zwei Jahrzehnten versuchen Didaktiker uns weiszumachen, dass man nichts mehr zu wissen braucht, weil man Informationen im Netz nachschauen kann. Damit ist jetzt Schluss. Inzwischen kann eine KI eine ganze Webseite erstellen. Ein Beispiel, das wohl noch nicht lange online zu finden ist, und über die ich beim Suchan nach Material über die Geschichte der Zahlentheorie gestolpert bin, ist die hier:   https://www.scharlau-online.de/ . Dort heißt es:

Winfried Scharlau (1940-2021) war ein deutscher Mathematiker, der sich durch seine Beiträge zur Algebra und Geometrie sowie durch sein Engagement für die Mathematikdidaktik auszeichnete. In diesem Artikel werden wir ausführlicher auf sein Leben, seine Arbeit und sein Engagement für die Mathematik eingehen.

Ich habe chatgpt einen Text über den Mathematiker Winfried Scharlau schreiben lassen, Das sieht alles so ähnlich aus, einschließlich der Variationen bei Daten - chatgpt scheint die Informationen, die es aus wikipedia abschreibt, variieren zu wollen. Als nächstes kommt ein Bild eines grimmig dreinschauenden Menschen vor einer Tafel, der natürlich nichts mit Scharlau zu tun hat (ein ähnlich deppertes Bild ziert die Seite von Grothendieck, einer der ganz großen "deutschen" Mathematiker). Die Biographie ist so gut, wie chatgpt das hinbekommt:

Winfried Scharlau wurde am 12. Mai 1940 in Königsberg geboren

Wikipedia gibt den 12. August 1940 in Berlin an.

Er studierte Mathematik an der Universität Göttingen und promovierte dort 1966 bei Wolfgang Krull.

Knapp daneben: Wikipedia meint,  dass Scharlau 1967 bei Friedrich Hirzebruch an der Universität Bonn promoviert wurde. Alles, was sonst noch über Scharlau auf dieser Seite steht, ist absolut nichtssagend, so etwa

Scharlau war zudem ein engagierter Mentor für seine Studierenden und Doktoranden, denen er wertvolle Anregungen und Unterstützung bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit bot.

Ich diagnostiziere auch leichte Schwierigkeiten beim Gendern, müsse es doch Doktorandende oder Doktorierende heißen. Ansonsten seitenweise Schrott, den man als solchen erkennen kann, wenn man ein wenig weiß. Aber wie soll das jemand als Unsinn erkennen, der sein Wissen komplett aus dem Netz bezieht?

Man könnte einen Blick auf den Abschnitt "über uns" werfen; dort heißt es:

Wir sind eine Gruppe die Arbeit deutscher Mathematikerinnen und Mathematiker schätzen und respektieren. 

Ganz bestimmt. Die Zeichensetzung irritiert etwas, weil chatgpt das eigentlich besser hinbekommt. Interessant auch, dass man laut AGB um Erlaubnis ersuchen muss, um auf diese Seite zu verlinken. Brave New World. Vielleicht sollten wir anfangen, Webseiten, die nicht von KIs erstellt worden sind, auswendig zu lernen, um dem bevorstehenden Informationstod zu entgehen. 

Freitag, 5. Mai 2023

Abi 2023: Rinks und lechts kann man nicht velwechsern

Man hat uns ja in Fortbildungen letztes Jahr schon versprochen, dass man  Abiturienten ab 2024 hin und wieder durch Fragestellungen verwirren will. Dieses Jahr haben sie schon ein bisschen geübt. In Aufgabe A 2.1 geht es um eine Landstraße in einem Koordinatensystem mit x- und y-Achse, die von einer Funktion f(x) beschrieben wird. In Teil c) wird dann auch die Höhe der Landstraße über dem Meeresspiegel betrachtet. In einem Punkt R(r | f(r)) der Landstraße ist die Höhe h(r) gegeben durch h(r) = u(f(r)) für eine Funktion u(x). Damit ist die y-Koordinate f(r) jetzt zur x-Koordinate x = f(r) geworden.

Man kann sich nun darüber streiten, ob diese miserable (und streng genommen fachlich falsche) Wahl der Variablen Doofheit oder Absicht war; ich vermute beides. Absicht war es definitiv, denn in der Lösung steht, dass x = 1 die y-Koordinate des gesuchten Punkts S ist. Andererseits beginnt die Lösung mit dem Satz, dass zum westlichsten Punkt die x-Koordinate 0 gehört und h(0) = 1,8875 ist. 

Sehr schön auch Teil d): Zum Abfluss von Regenwasser werden die Punkte Q(0|f(0)) und P(2|f(1)) durch ein geradlinig verlaufendes Rohr verbunden. Wenn man in Stuttgart meint, dass man Regenwasser von der Straße durch ein Rohr zurück auf die Straße leitet, befürchte ich für Stuttgart 21 (23? 25? 30?) Schlimmes. Jedenfalls hat das Rohr ein Gefälle von 0,00014 %; da fließt das Regenwasser gerne ab. Und damit möglichst viele Abiturienten dabei Fehler machen, verläuft das Rohr natürlich nicht, wie der Text suggeriert, durch P und Q, sondern durch die Punkte Q'(0|f(0)|u(f(0))) und P'(2|f(1)|u(f(1))). Großartig! Die meisten meiner Schüler haben sie damit hereingelegt. Ich bin schon ganz gespannt auf nächstes Jahr.