Freitag, 21. Juli 2023

Der Schwingung

Helga Jungwirth forscht seit über 30 Jahren zu Gender und Mathematik, ist Autorin diverser (!) Bücher und Expertin auf ihrem Gebiet. Also eine Frau, von der mal als alter weißer Lehrer was lernen kann. Etwa über genderproblematische Aufgaben wie die folgende (aus diesem Heft auf Seite 24):

Gegeben ist eine Graphik, in der der zeitliche Verlauf der Stromstärke \(I(t)\) mit \(I(t) = I_0 \cdot \sin(w \cdot t) \) dargestellt ist (\(I\) in Ampere, \(t\) in Sekunden). Aufgabenstellung: Lesen Sie aus der Graphik den Scheitelwert \(I_0\)  der Stromstärke und den Wert der Kreisfrequenz \(w\) ab.

Dass Forschung in Sachen Gender und Mathematik wichtig ist, erkennt man daran, dass den meisten Lesern (und Leserinnen beiderlei Geschlechts und Hermaphroditen) vielleicht gar nicht klar ist, was daran gendertechnisch problematisch sein könnte.  Darum bekommen wir das auch erklärt:

Genderproblematisch bei dieser Aufgabe ist der Kontext, dem sie entstammt. Der Kontext Schwingungen weist im Gebiet Physik eine besonders starke männliche Konnotation auf. Denjenigen, die sich viel mit Elektrotechnik beschäftigen, sind Diagramme wie das gegebene vertrauter, was die Lösung der Aufgabe erleichtert. Außerdem betonen die Bezeichnungen Scheitelwert \(I_0\)  der Stromstärke und der Wert der Kreisfrequenz \(w\) in der Aufgabenstellung sowie die Nennung der Maßeinheiten noch den physikalischen Hintergrund. Dieses Szenario hat eine ganz direkte Verbindung zu der Aufgabenkultur des Mathematikunterrichts sowie zur Leistungsfeststellung.

So ganz überzeugt bin ich davon nicht. Bei einer Sinusfunktion den Scheitelwert abzulesen sollte funktionieren, ob es nun die Stromstärke oder die Geschwindigkeit eines süßen Einhorns ist. Auch die Kreisfrequenz ist kein Problem, wenn man den Text vergisst (sollte man heutzutage ohnehin können) und sich auf die auswendig gelernte Formel \(p = \frac{2\pi}w\) für die Periodenlänge verlässt. Ich habe bei der ganzen Sache auch eher das Gefühl, als würde Frau Jungwirth die ganze Physik für männlich konnotiert halten; jedenfalls sehe ich auf Anhieb nicht, inwiefern Mechanik, Quantentheorie oder Relativitätstheorie weniger männlich konnotiert sein sollen als Schwingungen.

Andererseits bin ich ja auch so etwas wie ein Fachmann für gendersensiblen Mathematikunterricht. Zumindest weiß ich noch, dass ich schon meine allererste Abiturklasse (Abi 2010) gefragt habe, warum um alles in der Welt gerade Frauen so ein großes Problem mit der Bestimmung der Periode einer Sinusfunktion haben. Seit heute weiß ich es: Schwingungen sind männlich.


1 Kommentar:

  1. Ich habe mir die sogenannten problematischen Beispiele im Heft mal angeschaut. Ehrlich gesagt habe ich überhaupt nicht verstanden, was daran für die Genderexpertise*habenden genderproblematisch sein soll.

    Aber vielleicht liegt es einfach nur daran, dass ich genderinkompententer junger weißer Mann bin. Tja, Schicksal halt! (0_o)

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