Donnerstag, 7. September 2023

Herr Schneider erklärt die Welt.

 Nein, nicht Helge. Der Mathematiklehrer Schneider. Und nicht die ganze Welt, sondern nur die Zahlbereiche \(\mathbb N\), \(\mathbb Z\), \(\mathbb Q\) und \(\mathbb R\). 


Oder, wie es zwei Zeilen später heißt, die Zahlenbereiche:

Wer Oskar Perron kennt, erinnert sich an einen Brief, in dem er erklärt, warum der Begriff Zahlbereiche eigentlich ein Unsinn ist. Weil es so schön ist und weil ich als Lehrer ja einen gewissen Bildungsauftrag hatte, sei er hier zitiert:

Wissen Sie wohl, was ein Zahltag ist? Natürlich ist das der stets freudig begrüßte Tag, an dem gezahlt wird, im allgemeinen der Lohn für geleistete Arbeit. In diesem zusammengesetzten Wort hat nämlich die Silbe „Zahl“ gar nichts mit dem Begriff „Zahl“ zu tun, sondern es handelt sich um das Verbum aus (be) zahlen. Genauso ist es bei allen anderen Wörtern, die ebenso zusammengesetzt sind: Zahlkellner, Zahlkarte, Zahlmittel etc. Überall geht es ums bezahlen, also ums Geld, um das leidige, etwas anrüchige Geld, von dem man mit vorgehaltener Hand oder mit Augenzwinkern spricht.

Wer nun zum erstenmal das Wort Zahlkörper hört, denkt: Das wird halt auch so irgendein Körper sein, bei dem irgendwas bezahlt wird, das ist mir wurscht, interessiert mich nicht. Das Wort Zahltheorie werden sie wohl noch nicht gehört haben, ich auch nicht. Das müsste eine Theorie des Bezahlens sein, in der also etwa untersucht wird, wie man bezahlt, wenn man kein Geld hat. Die schöne Zahlentheorie, von der Sie sicher schon gehört haben, wäre also zur Pumpologie herabgewürdigt.

Das Wort Zahlkörper hat Hilbert eingeführt, der aufs Genaueste definiert hat, welchen Begriff er damit meint. Nur nach der Suche nach einem Namen ist ihm, wohl aus Versehen, ein Malheur passiert und so kam das verkorkste Wort auf die Welt, das man, wohl aus Ehrfurcht vor Hilbert, nie abgeschafft hat.

Oskar Perron war ein solider Mathematiker, der aber dem Zeitgeist, vor allem in der abstrakten Algebra, etwas hinterhergehinkt ist. Und wenn wir schon einen Brief zitieren, sei hier ein zweiter, geschrieben im Jahre 1940 an den Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität München, ebenfalls zitiert:

Magnifizenz!

An der vom Herrn Reichsdozentenbundsführer Ministerialdirektor Professor Dr. Walter Schultze veranstalteten Feier der Dozentenbundsakademieen kann ich mich nicht beteiligen.

Grund:

Da ich weder Mitglied einer Dozentenbundsakademie noch überhaupt des Dozentenbundes bin, kann meine Beteiligung wohl nur in der Rolle eines wissenschaftlichen Ehrengastes gedacht sein. Nun bin ich aber Mitglied verschiedener deutscher wissenschaftlicher Akademieen, und gegenüber diesen Körperschaften und ihren Mitgliedern hat der Reichsdozentenbundsführer in der Festrede bei Gründung der Dozentenbundsakademie Kiel seiner Verachtung dadurch Ausdruck gegeben, dass er erklärte, die deutschen Akademieen hätten seit Leibniz wissenschaftlich nichts geleistet und seien heute nur als Gesellschaften von verkalkten wissenschaftlichen Veteranen anzusehen

Zweierlei ist denkbar. Entweder der Reichsdozentenbundsführer hat mit dieser geringen Einschätzung recht oder er hat nicht recht. Im ersten Fall kann es dem Reichsdozentenbundsführer gewiss keine Freude machen, unter seinen Ehrengästen so minderwertige wissenschaftliche Persönlichkeiten zu sehen; ich möchte ihm diesen Anblick, was meine Person anbelangt, jedenfalls ersparen. Im zweiten Fall kann es aber mir nicht zugemutet werden, Ehrengast bei einem Mann zu sein, der die Akademieen und ihre Mitglieder zu Unrecht derart verunglimpft hat, und vermutlich wehrlos zuzuhören, wenn die Ehrengäste abermals in der gleichen Weise verächtlich gemacht werden.

Heil Hitler !

O. Perron

Das haben sich seinerzeit nicht viele getraut.

Zurück zu Herrn Schneider. Der traut sich auch was. Denn er kann die Zahlbereiche anschaulich erklären. An einem Modell. Genauer: Am

Ohne Scheiß. Herrn Schneiders Spinat-Spiegelei-Modell funktioniert so:




Zum einen ist das bitter, dass man Gymnasiasten in NRW anhand eines Spinat-Spiegelei-Modells erklären muss, dass jede natürliche Zahl eine ganze Zahl ist. Zum andern hätte ich nicht wenig Lust, das in meinem Unterricht mal zu versuchen, wenn ich dabei die Gesichter meiner Schülerinnen filmen darf.

Die didaktischen Neuerungen sind noch nicht ganz vorbei. Oder hat jemand gemerkt, dass dies eine Aufgabe ist?

Sogar eine Aufgabe mit Lösung. Und zwar mit der hier:


In der Lösung ist das Spinat-Spiegelei-Modell zum Bratpfannenmodell mutiert, die Zahlbereiche sind wieder Zahlenbereiche, und die Zahl 3 liegt, wie es sich gehört, im Eigelb, während \(\sqrt{6}\) zwar auf dem Teller (also der Bratpfanne) liegt, aber nicht im Eigelb, im Eiweiß oder im Spinat.

So werden also schwierige mathematische Überlegungen durch den Transport in die Lebenswelt von Schülern und Schülerinnen auf ein Niveau heruntergebrochen, mit dem heutige Gymnasiasten etwas anfangen können.

Mein Leidensgenosse AR, der mir dieses Schuljahr eine Woche voraus ist, weist darauf hin, dass unter den Bearbeitern dieses Schulbuchs eine gewisse Kerstin Schäfer ist. Diese hat einen erstaunlichen Bildungsgang hinter sich:

Magisterstudium der Geschichte, der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit und der Denkmalpflege an der Otto-Friedrich Universität Bamberg; Zusatzqualifikation als Kulturmanagerin; zur Zeit Promotionsvorhaben am Lehrstuhl für Denkmalpflege in Bamberg über die Bauwerke der Eisenbahn in Oberfranken.

Ich hatte bisher immer gedacht, heutige Schulbuchautoren hätten in ihrem Mathematikstudium kaum aufgepasst und von dem, was sie mitbekommen haben, das wenigste verstanden. So kann man sich irren. Jetzt werden die Bücher schon von Frauen (die zweite ist Mathematiklehrerin Ulrike Willms) bearbeitet, deren mathematische Qualifikation über ein Abitur nicht hinausgeht.

Schade, dass wir in BW keine so tollen Schulbücher haben. In gewisser Weise ist das ganze ja Kunst. Expressionismus, wenn ich so tun wollte, als wüsste ich, was das ist. Daher die ganze Seite noch einmal als Gesamtkunstwerk:


Auch das muss noch gesagt werden: Wenn man \(\mathbb Q\) um alle Zahlen erweitert, die nicht als Bruch darstellbar sind (also um alle Zahlen, die nicht zu \(\mathbb Q\) gehören), dann erhält man so einiges, aber ganz sicher nicht die reellen Zahlen. Wer sich noch an die Schulbücher von vor 40 Jahren erinnern kann, sollte ahnen, dass die Konstruktion der reellen Zahlen (Intervallschachtelung) ganz so einfach wie heute in NRW nicht funktioniert. 


20 Kommentare:

  1. Für die komplexen Zahlen muss man wohl in den Tisch beißen. Auch wenn mich die Antwort vielleicht verstören wird: für welche Klassenstufe ist denn der Text gedacht?

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    1. Lieber Herr Lemmermeyer,

      also, gut, Sie haben mich überzeugt. Die Mathematik ist an Schulen tatsächlich bereits abgeschafft worden.

      Ich kann daher den Vorschlag von Herrn Prof. Weitz, das Fach Mathematik an öffentlichen Schulen zu streichen, nun als eine (etwas verspätete) Feststellung eines Faktums werten.

      Immerhin haben wir hier offenbar mit einer Art Kunstunterricht zu tun, in dem die grundlegenden mathematischen Karikaturkompetenzen vermittelt werden. Der Kompetenzbildungsauftrag ist somit erfüllt. Also ist doch alles bestens, nicht wahr? ;-)

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    2. Auch wenn er das teilweise so überspitzt formuliert, fordert Herr Weitz meines Wissens nicht die Abschaffung des kompletten Mathematikunterrichtes an Schulen, sondern die Abschaffung des Pflichtfachs Mathematik, und das auch erst ab einer bestimmten Stufe. Das ist m.E. ein großer Unterschied.

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    3. So habe ich ihn in einem anderen Beitrag auch zitiert. Ja, es geht tatsächlich um den Status des Pflichtfaches, und zwar bezogen vor allem auf das Abitur.

      Ich bezweifle aber, ob das, was am Ende als Pflichtteil (evtl. bis zur Mittelstufe)
      übrig bleiben würde, den Namen ‚Das Fach Mathematik‘ verdienen würde. Das könnte man vielleicht je nach Auslegung und Inhalte ‚Propädeutik zum Fach Mathematik‘ nennen.

      Kurzum befürchte ich einen Zustand, der einer Abschaffung gleichkommt. Darüber kann man sich aber nur dann streiten, wenn dieser Vorschlag tatsächlich realisiert worden wäre.

      Für mich ist die implizite Hauptbotschaft von Herrn Prof Weitz die folgende:
      Die Mathematik als Schulfach verträgt weder Standardisierung noch Kompetenzorientierung, sonst verkümmert sie garantiert zu einer unlustigen Karikatur.

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    4. Ich halte das Schulfach Mathematik für wichtiger als die Didaktik, die in den letzten 30 Jahren auch zu einer unlustigen Karikatur mutiert ist. Wir sollten also nicht, wie es Didaktiker fordern, das Schulfach Mathematik abschaffen, sondern, wie es viele Mathematiker fordern, die universitäre Didaktik.

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    5. 9. Klasse ... Wir sind verloren...

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  3. Eigentlich ist 12/4=3 ein Wahrheitswert und liegt in keinem der Zahlenbereiche

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    1. Wenn Sie schon so übermäßig korrekt sein wollen: Nein, "12/4 = 3" ist kein Wahrheitswert, sondern eine Aussage und diese hat einen Wahrheitswert.

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  4. Wieso "nur" vor 40 Jahren? Ich weiß, dass Intervallschachtelung und Heronverfahren auch heute noch in Klasse 9 behandelt werden und zumindest in der Ausgabe dieses Buches für ein anderes Bundesland auch wenige Seiten vor der hier gezeigten thematisiert werden.

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    1. Um BW geht es hier wohl nicht. Intervallschachtelung ist im LS seit 2004 nicht mehr drin, Heronverfahren vielleicht, aber natürlich optional, weil nicht im Lehrplan und nicht abiturrelevant.

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  5. Gibt es eigentlich (heutzutage noch) die Option, sich komplett zu weigern, nach solchen Schulbüchern zu unterrichten, und sich nur thematisch nach den Rahmenlehrplänen zu orientieren?

    Wie ist das eigentlich aktuell (schul)rechtlich geregelt? Man sollte doch da als Lehrkraft im Rahmen der (sog.) Bildungsfreiheit die Möglichkeit haben, z.B. komplett eigene Lehrmaterialien einzusetzen? Oder steht da wieder die Kompetenzorientierung im Wege?

    Führt eine solche Weigerung auf kurz oder lang unweigerlich direkt zur Kündigung?

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    1. Ich benutze grundsätzlich keine Bücher. Ich wüsste nicht, dass da irgendwas dagegen spricht. Natürlich bekommt jede Klasse ein "Mathematikbuch", aber ich sage ihnen in der ersten Stunde, sie sollen es bis zum Ende des Schuljahres gut zu Hause aufbewahren. Wenn sie etwas nicht verstanden haben, gehen die Schüler ohnehin auf youtube und nicht an den Bücherschrank.

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    2. Wenn Sie das so beschreiben, dann könnte man eventuell meinen, alles wäre halb so schlimm.

      Wenn die Schulbuchverlage so viel Hochglanzmakulatur produzieren, dann wäre das ihr Bier und nicht unseres.

      Im Endeffekt müsste man in der Gemeinschaft der Mathematiker entschieden eine Alternative auftischen und systematisch eigene Lehrwerke produzieren, und den anderen Lehrkräften helfen, ihre eigenen Lehrwerke zu produzieren, so wie das z.B. Prof Krötz und Prof Karcher gerade versuchen.

      Aber bei der ganzen Sache gibt‘s vielleicht einen kleinen Haken, den Sie mit dem Verweis auf YouTube selbst angedeutet haben.

      Die SuS können immer schlechter lesen, weil wir uns schon längst in einer Bildkultur befinden, oder gar in einem Simulacrum (à la Baudrillard), so dass die LuL, auch mit den besten Lehrbüchern ausgestattet, den ganzen furchtbaren Schlamassel nicht aufräumen können.

      Ganz ehrlich, bei allem Respekt für die Bemühungen von Prof Krötz und Prof Karcher, die ich selbst sehr begrüße, die von ihnen erstellten Materialen wären m.E. nur für eine verschwindend kleine Minderheit des Schülertums überhaupt lesbar!

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    3. Die Texte von Karcher sind auch für viele Lehrer nicht lesbar. Von mangelndem Interesse schweige ich lieber.

      Ein anderes Problem: Es gibt keinerlei Konstanz im Lehrplan; auch heute noch werden Themen wahllos in andere Schuljahre verfrachtet (etwa der Strahlensatz aus Klasse 9, wo er schwierig war, in Klasse 8, wo alle überfordert sind) oder neue Kleinigkeiten kommen hinzu (stochastische Unabhängigkeit, Umkehrfunktionen usw.).

      Das Hauptproblem allerdings: Wenn man ein etwas anspruchsvolleres Buch schreibt, kann es 5 Jahre später niemand mehr lesen. Die sprachlichen und rechnerischen Fähigkeiten der Schüler nehmen inzwischen so schnell ab, dass es selbst junge Lehrer nach 5 Jahren merken. Das alles ist ganz arg bitter für die wenigen Begabten, die man hin und wieder auch hat.

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    4. Zitat: ''Die Texte von Karcher sind auch für viele Lehrer nicht lesbar.'' Dem muss man leider zustimmen. Das Niveau liegt in etwa bei den Gymnasiallehrbüchern der 80er Jahre, ist aber formal deutlich unter den Anforderungen der Anfängervorlesungen Analysis I & II etc, welche die angehenden Gymnasiallehrer and den Universitäten zu absolvieren haben. I.a.W. die formale Qualifikation müsste locker ausreichen, um die Texte von Karcher flüssig zu lesen. Und hier liegt der Hase im Pfeffer: Meine Kollegen aus der Fachmathematik haben, und zwar deutschlandweit, über die letzten Jahrzehnte zunehmend weggesehen, schließlich begonnen fachlich unreife Lehramtsstudenten in Scharen durchzuwinken und in der Sonne der studentischen Beliebtheit diejenigen marginalisiert, welche die Standards hochhielten.
      Es bewahrheitet sich einmal wieder ein altes Zitat von Strauß: Wer everybody's darling sein möchte, ist zuletzt everybody's Depp.

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    5. Aus einem Bericht (taz) über die Automobilausstellung:
      Die chinesiche Firma BYD hat in China bei Elektroautos 40% Marktanteil, VW (früher Marktführer bei Benzinern) hat 3%.
      BYD braucht von Planungsbeginn bis Serienreife 18 Monate,
      VW braucht 40 Monate.
      Könnte es sein, dass das fachliche Niveau, dem Jugendliche auf der Schule ausgesetzt werden, Konsequenzen bis in die Kunst der Ingenieure hat?
      Hermann Karcher

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  6. Aaaaah! Also Eiweiß = negative Zahlen, Spinat = unganze Zahlen*, Teller = irrationale Zahlen. Eeeeasy! Warum mit diesen unhandlichen und viel zu komplizierten Euler-Diagrammen hantieren, wenn es auch mit furchtbarem Kantinenfraß geht? Ganzer Teller = Eigelb ∪ Eiweiß ∪ Spinat ∪ Teller!!1 🤪

    *Spaß beiseite: wie heißt Q\Z eigentlich wirklich?

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  7. Wenn man sich die heutige Situation und die zukünftigen Entwicklungsperspektiven im Bildungsbereich anschaut, dann stellt man fest, dass die modernen Mathematikschulbücher eigentlich ein eher kleineres Übel sind.

    Es herrscht bekanntlich Lehrermangel, vor allem an Mathematiklehrern. Ich könnte tatsächlich Mathematiklehrer werden, aber die Lust dazu ist mir bereits vergangen. Wie begründe ich das? Ich bin schon langsam müde das zu begründen. Deshalb belasse ich es mit einem kleinen Verweis:

    https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2023/kuenstliche-intelligenz/bildung-wenn-schueler-lehrer-belehren?utm_source=pocket-newtab-de-de

    Und noch ein paar schöne Zeilen zum Nachdenken:

    Ach! der Menge gefällt, was auf den Marktplatz taugt,
    Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen;
    An das Göttliche glauben
    Die allein, die es selber sind.

    aus 'Menschenbeifall', Friedrich Hölderlin

    Желаю всем хорошего солнечного дня!

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  8. Am Ende gibt es den Herrn Schneider gar nicht! Nur eine Erfindung der Autorinnen? Wem gehört das Spiegelei denn jetzt?

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