Montag, 30. Oktober 2023

Große Forschung einfach erklärt: Häufigkeitsnetze

Karin Binder ist Professorin für Mathematikdidaktik  and der LMU München. Damit ist sie Mitglied der mathematischen Fakultät einer doch recht angesehenen Universität im Land der Dichterinnen und Denkerinnen. Im Zentralblatt finden sich von ihrer Feder genau 0 Artikel. 

Dennoch hat sie natürlich Sachen publiziert, und zwar vor allem eine: Das Häufigkeitsnetz. Bevor wir uns diesem zuwenden, schauen wir uns einige andere Ergebnisse ihrer Forschungen an. In

erklärt sie zusammen mit Patrick Wiesner, Prof. Dr. Stefan Krauss, Nicole Steib und Celina Leusch, wie man sechs verschiedene Darstellungsformen von 25 % ineinander umrechnen kann. Diese sechs Darstellungsarten

  • 25 %; 0,25; 1/4; einer von vier; jeder Vierte; Verhältnis 1:3, 

haben Prof. Dr. Binder und  Prof. Dr. Krauss schon 2020 in einem fast 40-seitigen Artikel 

  • Natürliche Häufigkeiten als numerische Darstellungsart von Anteilen und Unsicherheit Forschungsdesiderate und einige Antworten

untersucht, und jetzt werden sie ineinander umgerechnet. Wenn man das mit den andern ganzzahligen Prozentzahlen von 0 bis 100 auch macht, hat man schon 100 Publikationen zusammen. Schwieriger wird es, wenn man versucht, Brüche wie 1/7 in Prozent umzuwandeln; vermutlich werden die Studierenden, die sich dafür interessieren, dazu an eine ausländische Universität gehen müssen.


Damit ist das auch geklärt. 

Nun zum eigentlichen Thema: Vierfeldertafel und Häufigkeitsnetz. Serge Lang, einer der ganz großen alten weißen Männer in der Mathematik des 20. Jahrhunderts, hat sein Buch über elliptische Kurven so begonnen:

It is possible to write endlessly on elliptic curves. (This is not a threat.) 

Über Häufigkeitsnetze und Vierfeldertafeln kann man auch endlos schreiben, aber das ist eine Drohung:
  • Binder, Krauss,  Wiesner,  A new visualization for probabilistic situations containing two binary events: the frequency net. Frontiers in Psychology.  2023
  • Binder, Krauss, Steib,  Bedingte Wahrscheinlichkeiten und Schnittwahrscheinlichkeiten GLEICHZEITIG visualisieren: Das Häufigkeitsnetz  2022
  • Binder, Steib, Krauss,   Von Baumdiagrammen über Doppelbäume zu Häufigkeitsnetzen – kognitive Überlastung oder  didaktische Unterstützung?  2022
  • Binder, Steib, Krauss,   Das Häufigkeitsnetz - Alle Wahrscheinlichkeiten auf einen Blick erfassen 2021
  • Wiesner, Binder, Krauss,  Das Häufigkeitsnetz – Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten geschickt verNETZt.  2020
  • Binder, Weber, Krauss,   Visualisierungen als Begründungshilfen in der Stochastik, 2019
  • Binder, Krauss, Wassner,  Der Häufigkeitsdoppelbaum - Anteilswerte und bedingte Wahrscheinlichkeiten vorteilhaft visualisieren, 2019, 
  • Bruckmaier, Binder,  Krauss, Kufner,  An Eye-Tracking Study of Statistical Reasoning With Tree Diagrams and 2 × 2 Tables,  2019
  • Binder, Krauss, Wassner,  Der Häufigkeitsdoppelbaum als didaktisch hilfreiches Werkzeug von der Unterstufe bis zum Abitur,  2018
  • Binder, Förderung Bayesianischen Denkens. 2018 Dissertation Regensburg (Dr. phil. nat.)
  • Binder, Marienhagen, Bayes’sches Denken – Schritt für Schritt – Mit Häufigkeiten und Baumdiagrammen Einsichten in komplexe Probleme ermöglichen, 2017
  • Binder, Bruckmaier, Krauss,  Marienhagen, Was bedeuten medizinische Testergebnisse wirklich. Baumdiagramme zur Visualisierung Bayesianischer Aufgaben. 2016
  • Binder,  Krauss, Bruckmaier, Marienhagen, Visualization of Complex Bayesian Tasks, 2016
  • Binder,  Krauss, Bruckmaier,  Visualisierung komplexer Bayesianischer Aufgaben, 2016
  • Binder,  Krauss, Bruckmaier,  Effects of visualizing statistical information – An empirical study on tree diagrams and 2 x 2 tables,  2015
Ich habe mich dabei nicht um Vollständigkeit bemüht. 

Ihre Dissertation war kumulativ, d.h. sie hat drei Artikel, die sie zusammen mit Krauss, Bruckmaier und Marienhagen geschrieben hat, als Dissertation eingereicht. Erstaunlich, was heutzutage alles geht. Und drei Jahre später war sie Professorin an der LMU. 

Was ist nun ein Häufigkeitsnetz? Es dient, wie ein Baumdiagramm oder ein "Doppelbaum", der Visualisierung bedingter Wahrscheinlichkeiten. Schulisch liegt hier kein Problem vor: mit einem Baumdiagramm hat eigentlich niemand großartige Probleme. Aber man kann ja eines daraus machen, und das ist Prof. Binder gelungen:



Wenn man also wissen will, mit welcher Wahrscheinlichkeit Krebs vorliegt, wenn das Testergebnis positiv ist, rechnet man alle denkbaren bedingten Wahrscheinlichkeiten aus und sucht sich dann die richtige raus. Es versteht sich von selbst, dass sich revolutionäre Ideen wie diese  nicht von alleine durchsetzen, also muss man schon etwas Werbung dafür machen. Das erklärt die vielen Publikationen zu diesem Thema.

In ihrem Artikel
  • Im Vordergrund steht das Problem – oder: Warum ein Häufigkeitsnetz?
haben Norbert Henze und Reimund Vehling unmissverständlich klargemacht, dass das Häufigkeitsnetz schulisch Unsinn ist; die Schüler hätte ich gerne, die so ein Netz verstehen und korrekt berechnen können. Allerdings haben sie wohl das Kleingedruckte übersehen: Schüler müssen das Häufigkeitsnetz gar nicht berechnen, es wird ihnen mitgeliefert. Jedenfalls hat Prof. Binder das mit ihren Studenten so gemacht: die einen mussten die Wahrscheinlichkeiten ausrechnen, die anderen bekamen das vollständig ausgefüllte Häufigkeitsnetz mitgeliefert. 


Die große Überraschung war dann, dass die Studenten mit dem Häufigkeitsnetz viel öfter die richtige Antwort fanden als die Selbstrechner. Das ist ganz großes Kino. Offenbar war es Binder & Co ein wenig peinlich, dass Henze und Vehling das übersehen hatten.  Also haben sie in ihrem 30-seitigen Artikel über didaktische Unterstützung die Sache klargestellt:

In der vorliegenden Studie wurden vollständig ausgefüllte Visualisierungen gezeigt,  sodass weiterhin ungeklärt bleibt, ob nicht bei der eigenständigen Erstellung der  jeweiligen Visualisierungen die kognitive Belastung höher als die didaktische Unterstützung ist.

Das kann man nicht oft genug sagen, wenn die 30 Seiten voll werden sollen:

In Bezug auf das Häufigkeitsnetz fehlen diesbezüglich aber bislang Erkenntnisse,
inwiefern Schülerinnen und Schüler entsprechende Diagramme selbstständig anfertigen
können.

Seit 8 Jahren forscht sie also daran, dass das bayesianische Denken gefördert wird, wenn man die Ergebnisse gleich mitliefert. Und es ist nicht so, dass sie das alleine geschafft hätte:

Die vorliegende Forschungsarbeit ist Teil des übergeordneten Projekts „Bayesian Reasoning“, ein kooperatives Forschungsprojekt der Universitäten Freiburg, Kassel und Regensburg sowie der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Ludwig-Maximilians-Universität München zur Untersuchung der Unterstützung des Bayesianischen Denkens: http://www.bayesianreasoning.de/bayes.html.

Da könnte man jetzt noch was Schlaues dazu sagen, wenn einem was einfiele. 




4 Kommentare:

  1. In der Klassifikation von Wissenschaften nach Giaever (real science, pathological science, fraudulent science, junk science, pseudoscience)
    https://www.youtube.com/watch?v=LyztWNW2HsM
    handelt es sich bei dem Werk von Binder um eine seltsame Melange.

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  2. Der Beitrag ist unterhaltsam zu lesen, aber er zeigt doch einige Miss- und Unverständnisse des Autors auf, die ich hiermit beleuchten will, auch um die kritisierte Kollegin in Schutz zu nehmen.
    Über die Vielfalt der Darstellungsarten von ¼ nachzudenken ist keineswegs lächerlich, sondern eine sinnvolle Beschäftigung durch die sich Lehrende bewusst machen können, welch reichhaltige Anknüpfungsmöglichkeiten es gibt und wie vielfältig die Verständniswege der Lernenden sein können. Dass das Ganze keine brandneue Erkenntnis ist, sei zugestanden, aber die gründliche Darstellung und Verknüpfung mit weiteren Erkenntnissen, macht den Beitrag lesenswert auch dann, wenn man schon wusste, dass ¼=0,25.
    Zur Kritik am Häufigkeitsnetz: Die Darstellung durch Herrn Lemmermeyer erweckt den Eindruck, diese Forschung sei schlecht und unnütz. Hier liegt ein weiteres Missverständnis vor: was gute Forschung ist, entscheidet die wissenschaftliche community, und die vielen Publikationen zum Thema belegen, dass es national wie international offenbar viel Interesse an dieser Forschung gibt. Dabei ist es völlig unerheblich, ob Herr Lemmermeyer ihren Wert einsieht. Es ist auch völlig unerheblich, ob die Forschung etwas für die Schulpraxis bringt. Jede Wissenschaft hat das Recht, ihre eigenen Fragestellungen, Methoden und Kriterien zu definieren. Um das ganze mal an einem mathematischen Thema zu erläutern, wähle ich die Knotentheorie, weil mir das Spezialgebiet von Herrn Lemmermeyer doch zu fremd ist. Wenn man das “Journal of Knot Theory and its Ramifications“ liest, wird man auch feststellen, dass es viele Publikationen zu relativ ähnlichen theoretischen Fragen zu Knoten und Verschlingungen und ihren Verallgemeinerungen gibt. Ist das wichtige Forschung? Das könnte man genauso ins Lächerliche ziehen. Weltweit arbeiten hunderte von Mathematikern an solchen Fragen, wer braucht das schon, sollten die nicht besser ihre Zeit nutzen, um Bahnstrecken von Bäumen zu befreien? Wer braucht schon Knoten? Ich habe zum Beispiel vor Jahren zusammen mit einer Kollegin eine Arbeit zu Knotentheorie in Henkelkörpern im genannten Journal veröffentlicht. Falls mal ein Becker ein Gummiband versehentlich in eine Brezel einbackt, kann er damit ggf beweisen, dass sich das Gummiband entknoten lässt, ohne die Brezel kaputt zumachen. Die spinnen doch, die Mathematiker! Aber das wurde von den Gutachtern positiv bewertet, gedruckt und mittlerweile auch etliche Male zitiert. Insofern ist es gute Wissenschaft nach innermathematischen Kriterien. Und genauso ist die Forschung von Frau Binder gut nach innermathematikdidaktischen Kriterien. In beiden Fällen kommt es nicht darauf an, ob diese Forschung aktuell zu irgendetwas nützlich ist, oder ob sie von Außenstehenden verstanden wird. Es gibt keinen Grund das ins Lächerliche zu ziehen. Selbstverständlich kann man Kritik üben. Ich persönlich sehe im Häufigkeitsnetz auch eine Schematisierung, die meinen normativen Zielen von gutem Unterricht zuwiderläuft: Ich denke, Unterricht sollte in die Lage versetzen, anfallende Situationen mit den Begriffen und Ergebnissen der Mathematik zu analysieren, nicht ein riesiges Rechenschema zu erlernen. Vierfeldertafeln und Baumdiagramme sind universelle Hilfsmittel, die auch leicht einen Transfer auf andere Fragestellungen (zB schon ganz naheliegend mehr als zwei Ausprägungen bzw zwei Merkmale) erlauben – und die nach meinen Beobachtungen auch keine großen unterrichtlichen Schwierigkeiten aufwerfen. Und in der Tat ist es etwas enttäuschend, dass die Anlage der empirischen Studie ihre Aussagekraft erheblich einschränkt. Trotzdem ist es so, dass es sorgfältig erhobene Ergebnisse gibt, die man interpretieren kann – und die positive Rezeption unter mathematikdidaktischen Wissenschaftlern zeigt, dass es daran Interesse gibt.

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  3. Wenn nicht die "Community" (in diesem Falle die der Mathematiker inklusive Didaktiker) entscheidet, was gute Forschung ist, wer dann?

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