Der Unterricht in den fünf "Hochleistungsländern" entsprach damit
keineswegs den Idealvorstellungen eines guten Mathematikunterrichts
normativer fachdidaktischer Diskurse
dann heißt das nicht, dass die normativen fachdidaktischen Diskurse jetzt an die Realität angepasst werden, wie das der Blumsche Modellierungskreislauf verlangt, sondern dass die Realität gemäß der Idealvorstellungen zurecht gebogen wird.
Wir wollen uns heute eine Aufgabe aus der DISUM-Studie (Didaktische Interventionsformen für einen selbständigkeitsorientierten Unterricht am Beispiel Mathematik) anschauen:
Die Aufgabe ist sehr schwer:
Die Schüler brauchen also einen Plan. Wer sich jemals mit Problemlösekompetenzen befasst hat, weiß. wie das geht:
Wenn meine Mathematiklehrer mit Jeder-für-sich-Phasen, Murmelphasen und Aufschreibphasen gekommen wären, hätte ich sie ausgelacht. Die Jugend von heute ist da freundlicher, und zum Ausgleich bekommen sie eine Arbeitsanweisung. Diese erhalten sie natürlich nicht direkt vom Lehrer (das wäre lehrerzentriert), sondern verschriftlicht auf einer Arbeitskarte:
Manfreds Mühen (oder, wie Bülent Ceylan sagen würde, die Mühen vom Mampfred) sind vergeblich, wie man in Schukajlows Dissertation nachlesen kann:
Es folgt eine Phase lautlos lesenden Durchwanderns des Textes (fünf Minuten).
Manfred findet in dieser Zeit keinen Zusammenhang, der ihm hilft, die Aufgabe
zu lösen. Daraufhin brechen er und sein Partner die Bearbeitung ab.
Erst viel später kommt Manfred (trotz Kompetenzstufe 1) die rettende Idee:
Es gelingt Manfred, die räumliche Struktur der Situation durch das Zeichnen
der Skizze zu rekonstruieren und die Angaben - bis auf die 12 Minuten - richtig
zuzuordnen.
Verblüfft stellt Manfred fest, dass in seiner Skizze ein Dreieck
entstanden ist.
Manfred ist verblüfft, dass ein Dreieck entsteht, wenn man eines zeichnet. Das ist schülerzentrierter Unterricht vom Feinsten.
Pelligrini ist inzwischen auf den Zuckerhut geklettert.
Das Dreieck hilft nicht, Manfreds Partner muss einspringen. Dieser berechnet die fehlende Kathete:
Das macht einen Weg von 254,6 m: Aufgabe gelöst!
Vielleicht hätte die Lösung besser geklappt, wenn die Schüler moderne Technik eingesetzt hätten. Werner Neundorf von der TU Ilmenau (Die Mathematische Zauberkiste, 2010) benutzt maple und matlab:

Pelligrini muss also 1489 m, 16 cm und 1 mm laufen.
Zum Lösen geometrischer Aufgaben empfiehlt sich geogebra. Damit erstellen wir eine maßstabsgetreue Skizze:
Offenbar ist die gesuchte Länge die untere Kathete (wenn man sieht, dass der Winkel rechts unten ist). Nach dem linearisierten Satz des Pythagoras a = c ist diese also 1,5 km lang.
Die Zuckerhutaufgabe ist ein Paradeproblem der modernen Didaktik. Es gibt sie auch auf Englisch (Blum & Leiß):
Zur Lösung brauchen wir ein Situationsmodell:
und ein reales Modell:
Die Zuckerhutaufgabe taucht in mindestens einem guten Dutzend didaktischer Publikationen auf (aus denen die obigen Ausschnitte entnommen sind):
- DISUM Leiß 2005
- Blum \& Leiß 2007: Mathematical Modelling: Education, Engineering and Economics - ICTMA 12
- Schukajlow, Messner: Selbständiges Arbeiten mit Modellierungsaufgaben? Ja, aber wie?! Beiträge zum Mathematikunterricht 2007, 370-373
- Thonhauser (Hrsg.), Aufgaben als Katalysatoren von Lernprozessen, 2008
- Schukajlow: Selbständigkeitsorientierter Unterricht mit Modellierungsaufgaben, ISTRON-Tagung 2009
- Schukajlow-Wasjutinski: Schüler-Schwierigkeiten und Schüler-Strategien beim Bearbeiten von Modellierungsaufgaben, Diss. Uni Kassel, 2010
- Blum: Kann mathematisches Modellieren selbständig gelernt werden? Ergebnisse aus der Lehr-/Lernforschung, Paderborn 2010
- Schukajlow: Schüler-Schwierigkeiten beim Lösen von Modellierungsaufgaben - Ergebnisse aus dem DISUM-Projekt
- Schukajlow: Mathematisches Modellieren. Empirische Studien zur Didaktik der Mathematik, Band 6; Münster 2011
- Schukajlow: Lesekompetenz und mathematisches Modellieren; in Mathematisches Modellieren für Schule und Hochschule (Borromeo Ferri, Greefrath, Kaiser Hrsg.), 2013
- Werner Neundorf, Die Mathematische Zauberkiste, 2016 (preprint TU Ilmenau M 04/10, 2010)
Keinem dieser Herren ist aufgefallen, dass der Cheftechniker nicht Pelligrini, sondern Pellegrini heißt. Auch dass die 180m Höhenunterschied nicht der zwischen Talstation (14m ü.NN) und Spitze (395m ü.NN) ist, sondern zwischen "der 226 m hoch gelegenen ersten Bergstation auf
dem steil aufragenden, dennoch fast vollständig bewachsenen Morro da Urca" (wikipedia).
Die ausgedehnte Ebene zwischen den Stationen kann man auf diesem Bild bewundern:
Endlich steht bei wikipedia auch, dass der obere Teil 735 m lang ist und keine 1,5 km wie in der Aufgabe behauptet. Oder, wie man bei Schukajlow [Mathematisches Modellieren, S.88] nachlesen kann:
In der Aufgabe Zuckerhut ist eine authentische Situation beschrieben.
Das DISUM-Projekt von Prof. Werner Blum (Kassel) und Prof. Reinhard Pekrun (LMU München), aus dem diese Aufgabe stammt, wurde von der DFG finanziert. Teil des Projekts waren Fragebögen, mit denen gestestet wurde, ob sich die Schüler eher von den interessanten Modellierungsaufgaben oder den langweiligen "innermathematischen" Problemen angezogen fühlen. Ein solcher Fragebogen wurde von den Beteiligten Schukajlow, Leiss, Pekrun, Blum, Müller und Messner in Educational Studies in Mathematics, Vol. 79, No. 2 (February 2012), 215-237 vorgestellt:

Mehr an innermathematischem Pythagoras kann sich ein deutscher Didaktikprofessor wohl nicht mehr vorstellen. Da bleibt mir nur noch, Craig Deeley (twitter 2015) zu zitieren:
R.I.P. Pythagoras
He's with the angles now.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen