Dienstag, 2. April 2019

Mathematisch Argumentieren

Der Begriff "mathematisch argumentieren" ist, das gebe ich zu, geschickt gewählt: Leute, die etwas von Mathematik verstehen, denken, dass es sich dabei um eine Vorstufe des Beweisens handelt und finden diese Kompetenz außerordentlich wichtig. Dass sie eingeführt wurde, um jegliche Beweise aus den Büchern entfernen zu können, ahnen sie nicht - dazu müsste man mal ein paar Schulbücher in die Hand nehmen.

Auch im schon zweimal vorgestellten PISA-macht-Schule-Dokument findet sich eine von Modellierer Blum gelobte Aufgabe zur Kompetenz mathematisch Argumentieren, und zwar geht es um die Behauptung, 7123 habe weniger als 123 Dezimalstellen. In Lösungsmöglichkeit 1 wird vorgerechnet, dass sich beim Übergang von 7 zu 77 die Anzahl der Dezimalstellen nicht ändert, und dann wird so zu Ende geschlossen:

      Die Anzahl der Stellen bleibt hier das erste Mal gleich. 
      Dies wird sich bis 7123 mehrfach wiederholen, deshalb 
      hat 7123 weniger als 123 Stellen.

Ich kann hier außer "7 ist kleiner als 10" keinerlei mathematisches Argument erkennen. Mathematik, Herr Blum, geht anders. Auch die zweite Lösungsmöglichkeit besticht durch die Eleganz des gewählten Arguments: Im 7er-System hat die Zahl 124 Stellen (welcher Schüler sieht das, selbst wenn er sich im Selbststudium den Begriff der Zahldarstellungen in anderen Stellenwertsystemen angelesen hat?):

      Da das 7er-System aber „wesentlich schneller mehr Stellen“ 
      erreicht als das 10er-System, hat es im 10er-System sicherlich
      weniger Stellen als 123.

Vielleicht auch weniger als 122? Oder 121? Bedeutet das Wort "sicherlich" auf didaktisch etwas anderes als in der Realität? Stehen Leute, die einen solchen Schwachsinn als mathematisches Argumentieren bezeichnen, unter Drogen, und wenn ja, was haben sie genommen? Lauter Fragen, auf die ich keine Antwort wissen will.

Aber: Hut ab vor einer Didaktik, die diesen Rückschritt in das mathematische Mittelalter als Fortschritt verkaufen konnte.

1 Kommentar:

  1. Für die "zweite Lösungsmöglichkeit" haben die Amerikaner den nicht schmeichelhaften Begriff "hand-waving" erfunden. Die erste Lösungsmöglichkeit kann man mit weniger Worten und ohne gedankliche Unschärfe so formulieren: Aus 7^7 < 10^6 folgt 7^123 = (7^7)^17 * 7^4 < (10^6)^17 * 10^4 = 10^106. Also hat 7^123 höchstens 106 Dezimalstellen.

    Die zwei wesentlichen Probleme der "Kompetenzorientierung" scheinen mir zu sein, dass die betreffenden Didaktiker erstens selbst nicht über die Kompetenzen verfügen, die sie den Schülern vermitteln wollen; und dass sie zweitens nicht kompetent sind zu bestimmen, welche Kompetenzen den Schülern vermittelt werden sollten.

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