Donnerstag, 29. Dezember 2022

Awfully complex

Es gibt viele Menschen in Deutschland, die über komplexe Zahlen wenig wissen und sich nicht in korrektem  Englisch ausdrücken können. Tatsächlich gab es die schon immer. Das war auch nie ein Problem. Ein Problem wird das erst, wenn jemand, der über komplexe Zahlen wenig weiß und mit der englischen Sprache auf Kriegsfuß steht, beschließt, ein Buch über komplexe Zahlen auf Englisch zu verfassen. 

Das hat Jörg Kortemeyer gemacht. Erschienen ist das Büchlein als Teil der unsäglichen essentials-Reihe bei Springer-Spektrum. Unsäglich deswegen, weil die Autoren dort den Anschein erwecken, als könne man auf 50 Seiten eine ordentliche Einführung in irgendeine mathematische Theorie geben. 50 Seiten, damit man bei Modulformen mitreden kann? Nein danke.

50 Seiten komplexe Zahlen dagegen ginge durchaus, wenn man das Thema ordentlich durchdacht hat. Aber manche haben schon mit den reellen Zahlen so ihre Schwierigkeiten. In der deutschen Version des Buchs heißt es

  • Welche Zahlen liegen nun in der Menge der reellen Zahlen, also \(\mathbb R\), sind also irrational? 

Eine seltsame Frage, weil \(\mathbb R\) ja auch rationale Zahlen enthält.

Die englische Version ist eine Sammlung falscher Freunde. Wir begnügen uns mit einigen wenigen:

  • p. 4: It holds with the third binomial formula:
  • p. 8: The fraction is expanded
  • p. 17: Sine and cosine are usually introduced as aspect ratios in  rectangular triangles.  
  • p. 33: The angle is n-folded
  • p. 35: This gives the \(n\) different roots from \(z\)
  • p. 36: By pulling the third root

Bei den meisten Ausdrücken ahnt ein deutscher Leser, was gemeint ist. Aspect ratio bezeichnet im Englischen übrigens das Verhältnis von Umkreisradius zum doppelten Inkreisradius. 

Die Germanismen gehören noch zu den originellsten Beiträgen des Buchs. Ein Vergleich mit den Manuskripten von HELM, insbesondere demjenigen über complex numbers, spricht nämlich Bände. Man kann da schon ein bisschen Original und Fälschung spielen. Zum einen deckt sich der Inhalt zu 100%: Grundrechenarten, kartesische Form, Polarform, Eulersche Form komplexer Zahlen, und der Satz von "de Moivre" im Original und von "Moivre" in der Fälschung. An vielen Stellen sind die Ähnlichkeiten verblüffend:

HELM:

Kortemeyer:




"Thus it holds" ist selten blöd, schließlich setzt er die Gleichheit voraus. Und ein "if and only if" wäre eigentlich ebenfalls angebracht gewesen um die Verwirrung, die er angestiftet hat, auf ein erträgliches Maß zu stutzen.

HELM

Kortemeyer
Im Manuskript von HELM ist der Satz von de Moivre für rationale Exponenten formuliert. Das ist natürlich Unsinn, weil die linke Seite dann mehrdeutig ist, die rechte aber nicht:

Bei Kortemeyer ist der Satz von "Moivre" korrekt formuliert (wenn man vom Pidgin-Englisch mal absieht), die Ausweitung auf rationale Exponenten erfolgt später und ohne Ankündigung:
Als zusätzliches Bonbon gibt es bei Kortemeyer noch das Missverständnis, dass man damit 
Gleichungen vom Grad \(n\) lösen kann:


Mein Gott Walter.

Einen Unterschied zwischen HELM und Kortemeyer gibt es aber doch: Kortemeyer besteht darauf, dass \(i \ne \sqrt{-1}\) ist, denn dann wäre ja 
\[1 = \sqrt{1} = \sqrt{(-1)^2} = (\sqrt{-1})^2 = i^2 = -1.\]
Allerdings hat das nichts mit \(i = \sqrt{-1}\) zu tun, sondern mit der nur für reelle Zahlen gültigen Identität \(\sqrt{ab} = \sqrt{a} \cdot \sqrt{b}\) und der Tatsache, dass man im Komplexen die Wurzeln nicht eindeutig festlegen kann. Letzteres kann Kortemeyer natürlich schon: Zum einen rechnet er anstandslos mit Wurzeln aus negativen Zahlen beim Lösen quadratischer Gleichung mit der Lösungsformel, und zum andern gibt er in (4.11) die  "Moivresche" Formel 

Setzt man hier \(\phi = \pi\) ein, kommt justament \(\sqrt{-1} = i \) heraus.

Im Buch "Lineare Algebra und Geometrie" von W. Kimmerle, geschrieben für Ingenieure, Informatiker und Physiker im esten Semester, wird der Inhalt von Kortemeyers Werk auf sieben Seiten abgehandelt - vollkommen korrekt und einschließlich des Beweises der Additionstheoreme für Sinus und Cosinus. Mit deutlich mehr Tiefgang wird die Sache im Büchlein "komplexe zahlen" von Helmut Dittmann behandelt; der Autor kennt nicht nur den Fundamentalsatz der Algebra, er beweist ihn sogar - erschienen dieses Buch 1993 im BSV, dem Bayrischen Schulbuchverlag. Nimm das, Zeitgeist!

Zusammenfassend kann man feststellen, dass Kortemeyer gelernt hat, was man ihm auf der Schule beigebracht hat: 
  • Der Weg vom Laien zum Experten besteht aus 10 Minuten googeln.
  • Plagiate gibt es nur, wenn spätere Politiker eine Doktorarbeit schreiben.
Was das Plagiat angeht, muss man konstatieren, dass Kortemeyer immerhin weniger frech war als Mario  Gerwig mit seinem Buch "Der Satz des Pythagoras in 365 Beweisen". Mehr als 80 % seines Buches bestehen aus einer Übersetzung des Buchs "The Pythagorean Proposition" von Elisha Loomis, dessen Namen man auf dem Cover vergeblich sucht. 

4 Kommentare:

  1. Was ich mich frage: Wer kauft so etwas? Für wen ist diese Literatur bestimmt?

    Als Student der Mathematik des ersten Semesters würde ich mich doch erst einmal um ein einschlägiges Werk der Analysis bemühen. Häufig enthalten diese bereits "Komplexe Zahlen" als Kapitel. Z.B. wird im Forster oder im Königsberger alles Wesentliche zu "komplexen Zahlen" auf deutlich weniger Seiten und gleichzeitig deutlich präziser und rigoroser abgehandelt.

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    1. Keine Ahnung. Springer veröffentlicht inzwischen alles; die Manuskripte werden so via print-on-demand gedruckt, wie sie eingereicht werden. Eine Qualitätskontrolle oder gar ein Lektorat gibt es nicht mehr - lohnt sich nicht.

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  2. Zu komplexen Zahlen gibt es erstaunlicherweise mehrere Schulbücher, auch das im Vergleich zu den normalen LS-Bänden meiner Meinung nach recht gute Lambacher-Schweizer-Themenheft von 2004.

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  3. Vielleicht habe ich etwas übersehen, aber wer oder was ist HELM?

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