Dienstag, 27. Dezember 2022

Das Kreuz mit den Umkehrfunktionen

 Wie ich bereits erwähnt habe, hat das KuMi BW die Abiturienten dieses Schuljahr mit Definitions- und Wertebereichen, sowie mit Umkehrfunktionen beglückt. Wie immer bei neuen Themen hat sich das IQB eine Falltür überlegt, die so wichtig ist, dass man ständig nach ihr gefragt wird. Beim Thema Umkehrfunktionen ist das die Tatsache, dass Schnittpunkte einer Funktion \(f\) mit der ersten Winkelhalbierenden auch auf dem Schaubild der Umkehrfunktion \(\overline{f}\) liegen.

Warum das so wichtig ist, weiß keiner: Im so viel gepriesenen realitätsnahen Mathematikunterricht werden Funktionen und ihre Umkehrfunktionen nie geschnitten, weil sie verschiedene Einheiten haben. Jedenfalls ist es für das Abitur wichtig, und das ist ja auch was.

Der LS jedenfalls betrachtet auf Seite 141 die Funktion \(f(x) = \sqrt{6-x}\) und fragt im Aufgabenteil c):

  • Berechnen Sie die Koordinaten des Schnittpunktes der Graphen von \(f\) und \(\overline{f}\).
Schüler bestimmen in der Regel die Umkehrfunktion  \(\overline{f}(x) = 6-x^2\) und schneiden dann, haben aber bei der Lösung der Gleichung \(\sqrt{6-x} = 6-x^2\) das Problem, dass nach dem Quadrieren \(6-x = (6-x^2)^2\) da steht, was mit den Hilfsmitteln, die ihnen heutzutage zur Verfügung stehen, nicht lösbar ist.
Die Idee der Autoren ist, die Funktion mit der Winkelhalbierenden zu schneiden: \(x = \sqrt{6-x}\) führt auf \(x_1 = -3\) und \(x_2 = 2\).  Weil \(x_1 = -3\) keine Lösung ist, bleibt als Schnittpunkt \(S(2|2)\).

Aufgabe gelöst! Oder doch nicht? Tun wir mal so, als wären wir vor 20 Jahren auf die Schule gegangen. Da hätte man die Gleichung \(6-x = (6-x^2)^2\) in \(g(x) = x^4  - 12x^2 + x+ 30 = 0\) verwandeln können, um dann nach ganzzahligen Lösungen unter den Teilern von \(30\) Ausschau zu halten. Findet man dann \(x_1 = -3\) und \(x_2 = 2\), kann man mit Polynomdivision faktorisieren:
\[ x^4  - 12x^2 + x+ 30 = (x+3)(x-2)(x^2 - x - 5). \]
Also bekommt man zwei weitere Lösungen, nämlich
\[x_3 = \frac{1-\sqrt{21}}2 \quad \text{und} \quad x_4 = \frac{1+\sqrt{21}}2 . \]
Hier ist \(x_4\) keine Lösung von \(\sqrt{6-x} = 6-x^2\), weil \(6-x_4^2\) negativ ist. Allerdings ist \(x_3\) eine Lösung, und \( (x_3,x_4) \) ein weiterer Schnittpunkt von \(f\) und \(\overline{f}\). Es gibt also zwei verschiedene Schnittpunkte. Oder doch nicht?





Tatsächlich ist der zweite Schnittpunkt ein Schnittpunkt der beiden algebraischen Kurven \(y=6-x^2\) und \(y^2 = 6-x\); diese beiden Kurven haben insgesamt vier Schnittpunkte. Funktion \(f\) und Umkehrfunktion \(\overline{f}\) schneiden sich dagegen nur in einem Punkt, weil die Umkehrfunktion von \(f\)  nicht  \(\overline{f}(x) = 6-x^2\) ist, sondern nur der Teil der Parabel rechts von der \(y\)-Achse; der Teil links von der \(y\)-Achse hat die Umkehrfunktion \(f_1(x) = - \sqrt{6-x}\).


Wie sieht es nun allgemein aus? Liegen alle Schnittpunkte von Funktion und Umkehrfunktion auf der ersten Winkelhalbierenden? Bei Funktionen wie \(f(x) = x\), \(f(x) = -x\) oder \(f(x) = \frac1x\), die ihre eigenen Umkehrfunktionen sind, liegen unendlich viele Schnittpunkte nicht auf \(y = x\). Im Falle von \(f(x) = -\frac1x\) haben \(f\) und \(\overline{f}\) unendlich viele Schnittpunkte, von denen kein einziger auf der Winkelhalbierenden \(y = x\) liegt. Ein weniger triviales Beispiel ist \(f(x) = -x^3\) und \(\overline{f}(x) = -\sqrt[3]{x}\); diese beiden Paare haben drei Schnittpunkte, nämlich \((-1|1)\), \((0|0)\) und \((1|-1)\). Wir dürfen also wieder mal eine Methode unterrichten, die manchmal funktioniert und manchmal nicht. 

Im Namen meines Abi-Jahrgangs jedenfalls ein ganz herzlicher Gruß an das KuMi BW für die großartige Idee, das Thema Umkehrfunktionen auf das Abitur draufzupacken, ohne uns zu sagen, wie viele dieser Fitzeleien für die Fragen aus dem IQB relevant sind oder ob es sich tatsächlich lohnt, dafür 8 Wochen zu verbraten, wenn die dazugehörige Frage am Ende nur 1 Verrechnungspunkt wert ist. 




















6 Kommentare:

  1. 1.) Tippfehler: "Hier ist x_4 keine Lösung von 6-x = (6-x^2)^2 [...]". Doch, aber nicht von \sqrt(6-x) = 6-x^2.

    2.) Wer hatte die geniale Idee, als Notation für die Umkehrfunktion "\bar{f}" zu verwenden? Macht das außer deutschen Didaktikern (und denen, die gezwungen sind, sich an deren Schreibweise zu halten) noch irgendwer auf diesem Planeten?

    3.) Behaupten die LS-Autoren irgendwo, dass jeder Punkt, der auf dem Graph von f und dem Graph der Umkehrfunktion von f liegt, auch auf dem Graph der Identität liegt? Oder tun sie nur unzulässigerweise in ihrer Lösungs"idee" so, als wäre das so? Wie wahrscheinlich ist es, dass sie sich des Problems zumindest bewusst sind?

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    1. 1) Verbessert - Danke.
      2) Das IQB. Die haben auch den Kringel (wie bei der Verknüpfung von Funktionen) statt dem Malpunkt für das Skalarprodukt eingeführt und griechische Buchstaben für die Parameter bei Geraden- und Ebenengleichungen. Da hätten sie mal besser mit chinesischen Zeichen angefangen, denn damit werden die Kinder später eher zu tun haben.
      3) So weit ich das sehe, nein. Die ganze Sache mit der Winkelhalbierenden wird im LS nicht thematisiert - man will sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.

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  2. Es gibt doch keine VP mehr, sondern nur noch BE. So eine Aufgabe würde schätzungsweise 4 BE geben.

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    1. Ja, die BE. Vor vier Jahren haben sie uns bei Fortbildungen noch versprochen, dass BW bei den VP bleibt, weil die besser sind und wir Rückgrat haben. Oder so ähnlich.

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    2. Dumme Frage, aber was ist denn der Unterschied zwischen Bewertungseinheiten und Verrechnungspunkten? Ich dachte immer, das sei dasselbe. Vor 10 Jahren gab es diese Bezeichnungen nicht. Man sprach schlicht von Punkten (oder Rohpunkten, um sie von Notenpunkten zu unterscheiden), die einfach addiert wurden.

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  3. Ganzzahlige Lösungen raten und Polynomdivision war zu meiner Oberstufenzeit vor ca. 10 Jahren eine Aufgabe in der allerersten Matheklausur in der 11 (Grundkurs), noch vor der Behandlung der Ableitung. Umkehrfunktionen waren aber sonst kein großes Thema.

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